Finnland: Von der Lücke zur Ruine
Das AKW Olkiluoto 3 sollte das Prestigeobjekt der europäischen Atomlobby werden. Nun droht ihm wegen finanzieller Schwierigkeiten das Aus. Die AKW-GegnerInnen schöpfen neue Hoffnung.
Ein milliardenschweres Verlustgeschäft: Beim Neubau eines AKWs im finnischen Olkiluoto hat sich der französisch-deutsche Atomtechnikkonzern Areva NP übernommen. Die auf umgerechnet 4,5 Milliarden Franken veranschlagten Baukosten sind mittlerweile auf 8,2 Milliarden gestiegen. Da sich Areva NP aber auf einen Festpreisvertrag eingelassen hatte, muss der Konzern diese Mehrkosten selber tragen.
Dies geht ihm nun offenbar so an die Substanz, dass er mit einem Baustopp und einer Reaktorruine droht. Areva NP wolle den bestehenden Vertrag neu verhandeln, verkündete Anne Lauvergeon, Chefin des Mutterkonzerns Areva, vergangene Woche in Paris, «und erst mit den Schlussphasen der Arbeit beginnen, wenn TVO den Vorschlägen zugestimmt hat». Bauherr TVO, Teollisuuden Voima Oy, ist der zweitgrösste finnische Stromkonzern. 2004 hatte er mit dem Baukonsortium aus Areva NP und der Nuklearabteilung der deutschen Siemens AG einen Vertrag zum Bau eines Prototyps des Europäischen Druckwasserreaktors EPR abgeschlossen.
Schlüsselfertig
Rückblende: Finnland war in den siebziger Jahren mit vier Reaktoren – zwei sowjetischer Bauart am Standort Lovisa und zwei US-amerikanisch-schwedische Modelle am Standort Olkiluoto – in die Atomkraftproduktion eingestiegen. Nach der Tschernobylkatastrophe von 1986 waren hier, wie in vielen anderen europäischen Ländern, jedoch die Pläne für weitere AKWs ad acta gelegt worden.
Nach zwei gescheiterten Anläufen gelang es der Atomlobby 2002 dennoch, eine knappe parlamentarische Mehrheit für den Bau eines fünften Reaktors zu gewinnen. Das Klimaargument, eine vermeintlich drohende Stromlücke und der im Vergleich zu nachhaltigen Energieformen angeblich viel billigere Atomstrom waren entscheidende Argumente in der damaligen Debatte.
Kein Konzern konnte diese Milliardeninvestition jedoch alleine stemmen. Deshalb verteilte der Stromkonzern TVO das Risiko auf seine KundInnen: Er schloss mit Industrieunternehmen und städtischen Versorgungsbetrieben Verträge, welche die Abnahme des Atomstroms für die gesamte Lebenszeit des Reaktors garantierten. Im Gegenzug beteiligten sich die KundInnen an den Baukosten. Allerdings nur unter der Bedingung, dass die Höhe der Baukosten zum Voraus fixiert werden konnten.
Nun mag beim Bau eines Einfamilienhauses ein Fixpreis nicht ungewöhnlich sein. Doch für den Lieferanten eines schlüsselfertigen AKWs, das dazu noch der Prototyp einer neuen Reaktorgeneration sein sollte, stellte dies ein unkalkulierbares Risiko dar.
Die Absicht von Areva NP war klar: In Olkiluoto sollte unbedingt das erste westeuropäische Neubauprojekt nach der Tschernobylkatastrophe entstehen. In Finnland wollte die Atomlobby beweisen, dass AKW-Neubauten sowohl politisch möglich und technisch unbedenklich und wirtschaftlich profitabel sind.
Doch Areva NP bekam weder die Kosten noch die Zeitvorgaben in den Griff. Olkiluoto sollte diesen Herbst ans Netz gehen. Nun ist von einer Inbetriebnahme frühestens 2012 die Rede. Verzögerungen gab es von Anfang an: weil die Baupläne noch gar nicht fertig waren; weil es zu gravierenden Baumängeln kam; weil von Subunternehmen wie dem französischen Baugiganten Bouygues gepfuscht wurde und weil die finnische Bauaufsicht deshalb immer wieder Korrekturen verlangte.
In Olkiluoto eröffnete sich für Areva NP nicht nur ein finanzielles Debakel. Auch die permanenten negativen Schlagzeilen erweisen sich als schlecht fürs Geschäft. So war das finnische Abenteuer für den Siemenskonzern offenbar ein Grund, Ende Januar aus der Geschäftsverbindung mit Areva auszusteigen.
Sechsmal musste Areva NP in den vergangenen Jahren bereits Geld für die Kostenüberschreitungen beim finnischen AKW-Bau bereitstellen. Die Rückstellungen in der Höhe von rund 750 Millionen Franken für weitere erwartete Verluste haben den Gewinn des Konzerns des letzten halben Jahres faktisch aufgefressen.
Doch was ist an der Drohung eines Baustopps von Seiten der Konzernchefin Lauvergeon wirklich dran? Jouni Silvennoinen, der Olkiluoto-Projektleiter von TVO, versucht zu entkräften: Lauvergeon habe eine blumige Sprache. «Wir haben nun mal einen Festpreis vereinbart.» Und an dem gebe es nichts zu rütteln.
Pingelige Behörden?
Tatsächlich aber streiten sich Areva NP und TVO seit Monaten vor einem Schiedsgericht der Internationalen Handelskammer in Paris um die Auslegung dieses Vertrags. Der Prozess findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Argumente von Areva NP, mit denen die Firma sich aus dem Vertrag schleichen wollen, sind nicht bekannt.
Laut finnischen Medien führe Areva NP aber «übertriebene» Sicherheitsauflagen der finnischen Strahlenschutzbehörde Stuk ins Feld. Deshalb sei Bauherr TVO viel «zu pingelig» und für einen Grossteil der Verspätungen und der Doppelarbeit verantwortlich – und deshalb sollen auch die FinnInnen die Mehrkosten tragen.
Dass «übertriebene» Sicherheitsanforderungen zu den Verzögerungen geführt hätten, ist für Lauri Myllyvirta, Atomexperte bei Greenpeace Finnland, allerdings ein Märchen. «Unrealistische Kostenberechnungen haben zu Qualitätsproblemen geführt», sagt Myllyvirta der WOZ. Und diese Probleme seien zum grossen Teil nie behoben worden. Hätten die finnischen Behörden dabei nicht bereits grosszügig beide Augen zugedrückt, hätte sich der Bau noch mehr verzögert, und die Kosten wären noch stärker überschritten worden. So weigert sich die Stuk seit Jahren, eine Mängelliste über Olkiluoto zu veröffentlichen, auf der über 2200 Fälle eingetragen sind. MitarbeiterInnen von Bouygues seien zudem angewiesen worden, Sicherheitsprobleme weder Areva NP noch TVO zu melden. Laut Myllyvirta dürfe der Reaktor Olkiluoto 3 nie ans Netz gehen.