Proteste in Europa: Den Kopf frei zur Kritik

Nr. 41 –

Europa brodelt, nur in der Schweiz ist es still. In Griechenland, Spanien, Portugal gehen die Menschen praktisch täglich zu Zehntausenden auf die Strasse, in Italien, Frankreich und sogar in Deutschland inzwischen fast im Wochenrhythmus. Sie haben allen Grund dazu. Allen voran die Menschen in Griechenland, wo ein Sparpaket das nächste jagt, die Wirtschaft abwürgt, die Arbeitslosenzahlen in die Höhe treibt und immer grössere Löcher ins soziale Netz reisst.

RentnerInnen stürmen das Gesundheitsministerium, weil sie keine Medikamente mehr bekommen. Werftarbeiter dringen ins Verteidigungsministerium ein, weil von dort keine Aufträge mehr kommen und in der Folge der Schiffsbauer seit einem halben Jahr keinen Lohn mehr zahlt. Diese Woche musste sich die deutsche Spardiktatorin Angela Merkel bei ihrem Kontrollbesuch in Athen von 7000 PolizistInnen schützen lassen.

Man kann die GriechInnen verstehen. Sie verteidigen verzweifelt schon fast ihr letztes Hemd. So, wie die SpanierInnen ihr Häuschen verteidigen, das ihnen jetzt, da die vorher vom Staat und von den Banken produzierte Immobilienblase geplatzt ist, per Zwangsräumung wieder genommen werden soll. Sie wehren sich gegen Streichungen im öffentlichen Gesundheitswesen, die zuallererst die Armen treffen.

Wenn neoliberale Regierungen ihre Folterwerkzeuge ansetzen, sind Proteste die logische Folge. Je konkreter die Sparmassnahmen werden, desto klarer wird die Front dagegen. In Italien gehen StudentInnen gegen Kürzungen im Bildungsbereich auf die Strasse, die BeamtInen streiken gegen das Zusammenstreichen ihrer Gehälter.

Auch in Frankreich, wo der sozialistische Präsident François Hollande Einsparungen und Steuererhöhungen erst für den Haushalt 2013 angekündigt hat, demonstrieren die Menschen bereits. In dieser Woche hat Hollande den mit strikten Ausgabebegrenzungen verbundenen europäischen Fiskalpakt durchs Parlament gepeitscht. Trotz anderslautender Wahlversprechen will er doch bloss vollstrecken, was sein rechter Vorgänger Nicolas Sarkozy vorbereitet hat. Gerade so, als sei das Zu-Tode-Sparen der Mittel- und Unterschicht – wie Merkel sagt – «alternativlos».

Ist es aber nicht. Hinter den Spardiktaten verbirgt sich kein «Sachzwang», sondern nichts anderes als eine gross angelegte Umverteilung von unten nach oben. Das wissen in Spanien oder Griechenland oder in Britannien viele, die sich gegen ganz konkrete schmerzhafte Massnahmen wehren. Das wissen auch die rund 50 000 Menschen, die vor zehn Tagen in Deutschland auf die Strasse gingen und ein Ende der neoliberalen Abbaupolitik forderten.

Gemeinsames Wissen wäre also vorhanden. Und doch bleiben die Proteste gegenwärtig national beschränkt. Verständlich: JedeR wehrt sich zuerst gegen die Sparprogramme im eigenen Land. Immerhin aber hatte vor einem Jahr die Occupy-Bewegung eine übergreifende Kampagne versucht. In Spanien hatten sich kurzzeitig sozialer Protest und Grundsatzkritik verbunden und von dort aus verbreitet.

Was es braucht, ist eine erneute europaweite Vernetzung. Versuche dazu gibt es. Wenn der Chef der deutschen Linkspartei, Bernd Riexinger, sich den griechischen Protesten anschliesst, mag das als symbolische Politik erscheinen. Immerhin weist es in die richtige Richtung. Das Netz Europa-links versucht, im November in Florenz wieder an die vor zehn Jahren begründete Tradition des Europäischen Sozialforums anzuknüpfen (www.europa-links.eu).

Auch in der Schweiz haben wir Grund zum Protest. Zwar leben wir noch auf einer Insel der relativ Seligen. Doch in kaum einem anderen Land ist der Reichtum so ungleich verteilt; am unteren Rand, bei Sans-Papiers und Ausgesteuerten, nimmt die Verelendung zu.

Sicher, es gibt die 1:12-Initiative, und in manchem Kanton ist es gelungen, die Pauschalbesteuerung für reiche AusländerInnen abzuschaffen. Das ist alles wichtig und richtig, doch die Kritik muss weitergehen. Noch müssen wir uns nicht in Verteidigungsschlachten verzetteln, sondern haben den Kopf frei, um für einen grundsätzlichen Richtungswechsel zu arbeiten. Gerade die andauernde Kritik am Finanzplatz Schweiz kann hierzu Instrumente liefern, die bei den Protestbewegungen im Euro-Europa willkommen wären.