Tocotronic: Die Tänze der bleichen Männer

Nr. 4 –

Wenn zwanzig Jahre Tocotronic gefeiert werden, soll auch kurz darauf hingewiesen werden, wer ihre Musik weiterspinnt: «Die Heiterkeit» beispielsweise oder Hans Unstern.

Die Lebenshilfe liegt in den Buchwarenhäusern meist am Eingang auf: «Die Kunst des klugen Handelns» verspricht Rolf Dobelli, der einmal Rolf Döbeli hiess. «Wie wollen wir leben?», fragt Philosoph Peter Bieri, auch bekannt als Romancier Pascal Mercier. In Reih und Glied der Buchtitel raunt auch der reaktionäre Peter Sloterdijk: «Du musst dein Leben ändern». Statt eines solchen Ratgebers kauft man sich dann doch lieber eines der zahlreichen Kochbücher, ebenfalls ein boomendes Geschäft in unsteten Zeiten.

Ausgerechnet «Wie wir leben wollen» heisst jetzt das neue Tocotronic-Album. Es ist das zehnte in zwanzig Jahren Bandgeschichte, und die Promotion, man spürt das Majorlabel Universal im Rücken, kommt auf Touren: Täglich bis zum Erscheinen diesen Freitag wird eine von 99 Thesen veröffentlicht, wahlweise pathetisch, trotzig, kindisch. These 9, wie Tocotronic leben wollen: «Mit einem Drink des Himmels.» These 56: «Nicht integriert.» These 84: «Als Monchichis» (Affenpuppen aus Plastik und Fell). Das letzte Album schaffte es auf Platz eins der deutschen Charts.

Das hätte wohl zuletzt die Band gedacht, als sie sich 1993 gründete. «Ich weiss nicht, wieso ich euch so hasse», klagte Sänger Dirk von Lowtzow, und die Gitarren lärmten wie Sägen. Was in der Entwicklung rückblickend – und es wird in der deutschen Presse gerade in mehrseitigen Specials auf Tocotronic zurückgeschaut, der «Spiegel» spricht schon von «Staatsdichtern» –, was also oft zu kurz kommt, sind die Künstlichkeit und der Witz, die Tocotronic immer schon auszeichneten. In ihrer vermeintlich authentischen Phase in den Neunzigern, als von Lowtzow, Jan Müller und Arne Zank die Alltagsleiden junger Menschen fern von Seattle und dessen Grunge auf den Punkt brachten, dachten sie vom Bandnamen bis zu den Trainingsjacken schon immer popkulturell.

Körper und Kontrolle

Über die zwanzig Jahre gab es nur zwei markante Veränderungen: zuerst die Flucht in ein kosmisches Vokabular mit dem Album «K.O.O.K» (1999). Der Band gelang es, eine grössere, aber charmante Distanz zum Publikum zu schaffen. Der Beizug des Gitarristen Rick McPhail für «Pure Vernunft darf niemals siegen» (2005) brachte dann jenen Gitarrensound, für den sich Tocotronic mit ihren US-Vorbildern vergleichen lassen: Das neue Album erscheint im Gleichklang mit «Fade» von Yo La Tengo.

«Hey, hey, hey, ich bin jetzt alt», singt Dirk von Lowtzow zur Eröffnung. «Hey, hey, hey, ich bin jetzt kalt.» Und schon bald: «Alles detoniert nach innen.» Die Themen auf «Wie wir leben wollen» sind das Älterwerden und der Tod, die Körper und ihre Kontrolle. Mal wähnt sich von Lowtzow als Parasit, mal als Klon, dann als Neutrum. Gesucht werden, mit einem Faible für Vampir- und Geisterfilme, die Zustände dazwischen. Er beschwört Viren, Sporen, das Chloroform. Man kann das durchaus Blödsinn nennen, doch soll man sich zuerst einmal der eigenen Lächerlichkeit derart preisgeben, mit allen Konsequenzen: «Sieh mich an, ich bin ein bleicher Mann, der tanzt. Ich bin krank, ich bin ein weisser, heterosexueller Mann. Du kannst mich abschieben, wenn du willst.»

Musikalisch ist das Album eine lockere Songsammlung, siebzig Minuten lang und doch kurzweilig: Sixties-Pop klingt an, Shoegaze-Rock, es gibt sogar ein Countrystück mit Tamburin und Pedal-Steel-Gitarre. Aufgenommen wurde es von Produzent Moses Schneider auf einer Vierspur-Tonbandmaschine von 1958, was eine exakte Planung erforderte und zur Genauigkeit von Musik und Texten beitrug.

Einer der interessanteren Beiträge zum Jubiläum von Tocotronic findet sich in der linken Wochenzeitung «Jungle World». Ein Interview, eher ein Palaver zwischen Dirk von Lowtzow und Maurice Summen, Sänger der Band «Die Türen» und Betreiber des Staatsakt-Labels. Von Lowtzow redet sich darin gegen den Situationismus in Rage. In der derzeitigen Ökonomie finde eine Umkehrung der vom Künstler und marxistischen Theoretiker Guy Debord geprägten Begriffe wie «Kreativität» oder «Flexibilität» statt, meint er. «Der ärmste Schlucker muss sich heute permanent neu erfinden.» Stattdessen will von Lowtzow lieber einen altmodischen Begriff wie Emanzipation verwenden. «Die Frage lautet heute eben: Wie kann man trotz dieser ganzen Abschöpfungsprozesse selbstbestimmt leben, ohne in diese Selbstverwirklichungsfalle zu tappen – dieser ganze Kreativzwang! Und auch zu wissen, dass man als Künstler der Schlimmste von allen ist. Man ist schlimmer als jeder Banker. Wir sind doch die Typen, die dieses Lebensmodell erst schmackhaft gemacht haben.»

Anemonen und Korallen

Auf ihren letzten Alben haben sich Tocotronic gegen einen erstarkenden Nationalismus gewandt, die Losung lautete «Kapitulation». Auch jetzt, gegen die Selbstausbeutung, soll das Eingeständnis der Schwäche helfen: «Vielleicht ist das Aktive intensiver zu parieren, und wir müssen jetzt bereits die Streiks in uns organisieren», heisst es in «Eine Theorie». Eine Idee, wie aus Schwäche und Auflösung eine Solidarität oder gar eine Verbindung zwischen den Körpern entstehen soll, bleiben Tocotronic allerdings schuldig. Einige schöne Bilder finden sie noch. Zu blubbernden Gitarren wird das Scheitern der Migrationsabwehr beschrieben: «Europas Mauern werden fallen an die Anemonen und Korallen.» Als letzte Figur taucht im titelgebenden Stück der Tourist auf: «Er sagt, ich bin hier nur Tourist. Ich bin nicht integriert. Er sagt, wenn es denn so wäre, wäre das so schlimm. Ich bin in meinem Körper auch nur ein Eindringling.»

Auf Tocotronic als Ratgeber kann man sich weiterhin verlassen. Aber genügt es, das biopolitische Vokabular, wie es derzeit aus den Seminarräumen der Universitäten dräut, direkt in einen Songtext zu schreiben? Statt des Lobs zum Schluss deshalb die Frage: Wer knüpft daran an, geht darüber hinaus, nicht als Nachahmer, sondern als Zeitgenossinnen?

Zum Beispiel «Die Heiterkeit» aus Hamburg. Stella Sommer, Stefanie Hochmuth und Rabea Erradi gründeten die Band angeblich, bevor sie Instrumente spielen konnten. Sie treten in jener Besetzung auf wie einst Tocotronic (Gitarre, Bass, Drums). Statt mit einem Appell an die Schwäche trotzen sie den Umständen mit Selbstbewusstsein. «Nicht leiden, sich entscheiden» ist das Thema der Love Songs. Weitergehen, aufsteigen, bis zur Selbstgefälligkeit. «Auf dem Gipfel des Erfolges ist man immer allein. Ob Star oder Sternchen, man ist immer allein.» Cool klingt das, künstlerisch, feministisch.

Der Zweite schliesslich könnte der Berliner Songwriter Hans Unstern sein. «Die Eltern haben uns eine Jugendbewegung abonniert», erweist er Tocotronic die Reverenz. Unstern markiert weder Stärke noch Schwäche, betrachtet sich bloss aus allen Winkeln: «Ich schäme mich. Für mich. Schämen sich sogar die Läuse.» Er betritt die Räume physisch, die in den Texten von Tocotronic erst geöffnet werden. Wer ihn letzte Woche im «Palace» in St. Gallen oder im «Stall 6» in Zürich sah, konnte nur fasziniert sein: Die Band spielte selbst gebaute Harfen und blies die Tuba. Der vollbärtige Unstern tänzelte in Leggins. Die Ballone auf der Bühne wechselten die Farbe wie von Zauberhand.

Tocotronic: «Wie wir leben wollen». Universal. 
Erscheint am 25. Januar 2013. Tocotronic spielen am 
9. März 2013 in der Roten Fabrik in Zürich.

Hans Unstern: «The Great Hans Unstern Swindle». Staatsakt. 2012.

Die Heiterkeit: «Herz aus Gold». Nein, Gelassenheit. 2012. Konzerte am 1. März 2013 im «Stall 6» in Zürich und 
am 2. März 2013 im «Palace» in St. Gallen.