Enzyklopädie zeitgenössischer Irrtümer (42): Arbeit aufschieben (ist unproduktiv)

Nr. 7 –

Schieben Sie Arbeiten auf, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen? Dann liegen Sie vollkommen richtig.

Am Anfang hat der liebe Gott erst einmal sechs Tage lang gar nichts gemacht. Erst am siebten, um fünf vor zwölf, hat er hastig irgendetwas hingeschludert: Wasser, Erde, Tag, Nacht, Tiere, Zeugs. Und als er sein Werk so betrachtete, sah er, dass es so lala war. «Aber für nur fünf Minuten, gar nicht schlecht», sagte er. So erzählen zumindest Kathrin Passig und Sascha Lobo die Schöpfungsgeschichte in ihrem Buch «Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin».

Und so geht es mir mit all meinen Verpflichtungen: Ich schiebe sie gerne vor mir her. Das Fachwort für diesen Hang klingt wie eine grauenhafte Krankheit: Prokrastination. Das passt auch recht gut, denn die Prokrastination wird oft mit Faulheit verwechselt, und in einer kapitalistischen Welt, in der sich alles um Effizienzsteigerung und Managementpläne dreht, ist kein Platz für Faulheit. Prokrastinateure müssen also geheilt werden. Es gibt entsprechend viele Ratgeber, die der Leserin das Aufschieben austreiben und sie zu mehr Selbstdisziplin anhalten wollen. Was die AutorInnen solcher Bücher ausser Acht lassen, ist das Potenzial, das das Prokrastinationssyndrom birgt. Es ist ein produktives Werkzeug, sofern man es beherrscht und richtig einzusetzen weiss.

Kathrin Passig twitterte einmal Folgendes: «Was nie erledigt werden würde, wenn man sich nicht vor der Arbeit drücken müsste: 1. Zehennägel schneiden.» Denn das schlechte Gewissen hält einen meistens davon ab, gar nichts zu tun. Lieber sucht man Ausreden, um das Aufschieben zu rechtfertigen und das schlechte Gewissen auszutricksen. Die Liste der Dinge, die man nie tun würde, wenn man sie nicht als Ausreden brauchen könnte, ist unendlich: unter der Heizung staubsaugen, den Computerdesktop aufräumen, Schuhe imprägnieren. Das sind alles langweilige Tätigkeiten, die aber erfreulich werden, wenn man sie anstelle einer anderen Pflicht erledigt.

Wer etwas lange vor sich herschiebt und dann in allerletzter Sekunde erledigt, ist ausserdem meist effizienter als die organisierte Planerin. Die Torschlusspanik hat eine unglaublich motivierende Kraft, und das risikoreiche Spiel mit der Deadline beflügelt den Geist.

Wäre da nicht das Internet – ein Fluch für jeden chronischen Prokrastinateur. Es verschlingt ihn wie ein schwarzes Loch und spuckt ihn nach Stunden des Surfens erst kurz vor einer wichtigen Deadline wieder aus. In den unendlichen Weiten der Internetplattformen steht die Zeit still. Aber die «verschwendete» Zeit im Internet kann auch dazu genutzt werden, kleine Bildungslücken zu schliessen. So habe ich kürzlich endlich nachgeschlagen, was das englische Wort «Serendipity» oder auf Deutsch «Serendipität» bedeutet.

Der Begriff bezeichnet das Gefühl, wenn man stundenlang in seinem Schreibtisch wühlt auf der Suche nach einem wichtigen Dokument und dabei alles findet, nur nicht das Gesuchte: alte Tagebücher, Briefe, nie abgeschickte Postkarten. Man schwelgt dann in Erinnerungen und freut sich, dass all diese Dinge noch da sind, obwohl man sie nie vermisst hat. Auch das ist eine Art der produktiven Prokrastination. Man ersetzt eine mühsame Aufgabe mit einer vergnüglichen und stösst dabei auf Dinge, die sonst im Schreibtisch verrotten würden.

Das Aufschieben ist aber nicht nur produktiv, es ist auch subversiv. Mit ihrer Haltung fordern Prokrastinateure den Kapitalismus heraus, indem sie sich der protestantischen Vorstellung der Arbeitsmoral verweigern. Sie sind ebenso wenig arbeitswütige Workaholics, wie sie faule Taugenichtse sind, sondern befinden sich irgendwo in der Mitte dieser beiden Extreme.

Sie tragen ihren Teil zum Funktionieren einer Gesellschaft bei – nur halt ein wenig verspätet. Damit beugen sie auch den steigenden Erwartungen nach immer mehr Arbeit und immer weniger Freizeit vor. Prokrastinateure sind Alltagsrebellen und unabdingbar für jede Gesellschaft.