Gertrud Pinkus: Mit der eigenen Kamera entsteht kein Wohlfühlkino

Nr. 4 –

Sie ist eine Ausnahmeerscheinung in der Schweizer Filmbranche: Gertrud Pinkus. Seit den siebziger Jahren geht die Filmemacherin konsequent ihren eigenen Weg. Ein Treffen.

Gertrud Pinkus.

Über ihr Alter möchte Gertrud Pinkus nicht reden. Umso leidenschaftlicher aber über die Darstellung von reiferen Frauen im Schweizer Film. «Beleidigend» findet sie die gängigen Bilder. «Ich mag diese Filme nicht, wo die Omas im Altersheim ein bisschen rebellieren.» Das Thema Sexualität und neue Formen des Zusammenlebens im abgeklärten Alter fände sie zum Beispiel viel interessanter. Ein solches Projekt hatte sie auch entwickelt, es wäre eine Komödie gewesen. Doch leider klappte es nicht mit der Finanzierung.

Derartige Enttäuschungen kennt Gertrud Pinkus schon von früher. Bereits in den siebziger Jahren wollte sie eine subversive Komödie drehen, über die «wilden Frauen» der damaligen Frauenbefreiungsbewegung. «Ich war auch eine davon. Ich habe für meine Generation gekämpft und hätte sehr gerne einen Film über die Kultur der Frauen gemacht. Feminismus war damals ein Schimpfwort. Ich hätte gerne im Film alles noch humoristisch überzeichnet, was uns vorgeworfen wurde. Es war ja alles so absurd und bieder.» Sie schrieb mehrere Drehbücher, doch das Projekt erhielt keine Fördergelder. «Es wurde im Grunde genommen vorausgesetzt, wenn eine Frau schon Filme macht, dann soll sie sich sozialen Themen zuwenden. Die Krankenschwesterfunktion also. Männer können alles kaputt machen, Frauen sollen die Wunden pflegen und heilen. Gegen diese Rolle habe ich mich gewehrt.»

Bruch mit der Tradition

Zum Film kam Gertrud Pinkus über Umwege. In einer Arbeiterfamilie im solothurnischen Bucheggberg aufgewachsen, zeigte sie früh eine Begabung fürs Gestalterische. Nach einer Bühnenbildassistenz am Stadttheater Basel besuchte sie Ende der sechziger Jahre an der Münchner Akademie der Bildenden Künste die Bühnenfachklasse. Es war eine bewegte Zeit, auch fürs Theater. «Damals war Rainer Werner Fassbinder in München mit seinem Aktionstheater, in Amerika gabs das Living Theatre, in London war Peter Brook.» Doch als sie in die Schweiz zurückkehrte, waren hier die Theater «traditionell und erstarrt».

In der hiesigen Filmszene aber brodelte es. In Solothurn waren gerade die Filmtage entstanden. In Zürich drehte Jürg Hassler «Krawall», seinen Dokumentarfilm über die Jugendunruhen von 1968. Gertrud Pinkus arbeitete bei Hasslers Film mit und wusste: «Wenn ich nicht beginne, selber die Kamera in die Hand zu nehmen, komme ich niemals zu dem Bild, das ich mir vorstelle.» Doch die Schweizer Filmbranche war zu jener Zeit fest in Männerhand, die Frauen waren erst gerade dabei, ihr Stimmrecht zu erkämpfen. «Es gab hier keine Regisseurinnen, und man hat mich in der Filmerszene nicht wahrhaben und nicht wahrnehmen wollen.»

Pinkus ging nach Frankfurt. «Deutschland war einfach eine Generation voraus – mit Filmemacherinnen wie Helke Sander, Margarethe von Trotta oder Helma Sanders-Brahms.» Als Mitglied eines Filmkollektivs sammelte Pinkus Erfahrungen in allen Bereichen, bis sie ihre eigenen Filme konzipieren, produzieren, drehen und schneiden konnte. Ab 1975 machte sie regelmässig Fernsehdokumentationen fürs ZDF. Sie gründete eine eigene Produktionsfirma und pendelte zwischen Frankfurt und Zürich, wo ihr Mann, der Buchhändler Marco Pinkus, sich um die gemeinsame Tochter kümmerte. «Ich ging und kam. Das war emotional sehr schwierig. Für die damalige Zeit war ich die Rabenmutter. Aber trotzdem wusste ich, dass es so gemacht werden musste.»

Das Schweigen der Frauen

Damals gab es in Frankfurt eine wachsende Gastarbeitergemeinde aus Italien. «Das Fernsehen setzte mich speziell für Beiträge über Ausländer und insbesondere über Ausländerinnen ein», sagt Pinkus. «Ich war ja selbst keine Deutsche, ich sprach Italienisch, ich verstand die Kultur.» Und so kam sie auf die Idee für ihren ersten Kinofilm «Il valore della donna è il suo silenzio» (1979).

«Das höchste Gut einer Frau ist ihr Schweigen» – so spricht die anonyme Frau aus Süditalien, deren Leben die Grundlage des Films bildet. Gertrud Pinkus wollte selber nicht im Film erscheinen, war aber bereit, dem Off-Kommentar ihre Stimme zu verleihen. Die Regisseurin fand eine andere in Frankfurt lebende Italienerin, die einverstanden war, zusammen mit ihrer Familie stellvertretend vor der Kamera zu stehen. Der Film wurde eine faszinierende Mischung aus dokumentarischen und inszenierten Elementen, ein Destillat aus vielen Migrantinnenschicksalen in Deutschland und anderswo.

Gertrud Pinkus legte grossen Wert darauf, den Frauen das letzte Wort zu geben. Sie begleitete den Film überallhin und veranstaltete Diskussionen mit dem Kinopublikum. «Das höchste Gut einer Frau … » wurde weltweit im Kino und im Fernsehen gezeigt und gewann viele Preise.

«Anna Göldin» und danach

Ein paar Jahre später – Pinkus lebte wieder in der Schweiz – drückte ihr jemand ein Buch in die Hand. «Anna Göldin. Letzte Hexe» von Eveline Hasler, ein historischer Roman über die letzte Frau, die in der Schweiz als Hexe hingerichtet wurde, 1782 in Glarus. Mit der feministischen Komödie hatte es zwar nicht geklappt, doch hier war eine Geschichte mit einer faszinierenden Frau im Mittelpunkt. 1991 kam der gleichnamige Film von Gertrud Pinkus ins Kino. Göldins Geschichte war bereits mehrmals aufgearbeitet worden, im Zentrum stand immer ein vermeintliches Verhältnis zu ihrem Dienstherren. Pinkus zeigte stattdessen, wie die eigenwillige Dienstmagd in einer Zeit des politischen und industriellen Umbruchs zum Spielball der lokalen Machtinteressen wurde. Ein analytischer Spielfilm, dessen Bilder und Töne eine grosse Sinnlichkeit ausstrahlen.

Der Film war ein Publikumserfolg, trotzdem war es für Pinkus anschliessend nicht einfacher, neue Projekte zu lancieren. Bisher hatte sie immer das deutsche Fernsehen als Produktionspartner. Nach dem EWR-Nein 1992 wurde es aber schwieriger, eine Kofinanzierung mit dem Ausland zu suchen. Die Rolle der Produzenten wurde wichtiger, «Autorenfilm war plötzlich ein Schimpfwort». Für Pinkus und ihren zweiten Mann Stefan Portmann, den ehemaligen Leiter der Solothurner Filmtage, war es Zeit für einen Wechsel. Sie wanderten 1993 nach Lateinamerika aus, zuerst nach Mexiko, dann weiter nach Guatemala. Zwei Jahre nachdem Portmann 2003 gestorben war, kehrte Pinkus definitiv in die Schweiz zurück.

Heute arbeitet Gertrud Pinkus vorwiegend in medialen Kunstprojekten. Doch ein neuer Film ist nicht ausgeschlossen: «Ich meine, wir sollten uns zusammentun. Die Zeit der egomanen Genies ist vorbei. Ich würde sofort mit anderen Filmschaffenden an einem gemeinsamen Thema arbeiten.» Eine Einzelgängerin bleibt sie trotzdem: «Gerade jetzt, wo sich in den letzten zwanzig Jahren dieses Wohlfühlkino breitgemacht hat, bin ich natürlich gerne Aussenseiterin», sagt sie.

«Il valore della donna è il suo silenzio» läuft im Rahmen des Jubiläumsfilmprogramms der Solothurner 
Filmtage: Mittwoch, 28. Januar 2015, um 17.30 Uhr im Kino Palace (in Anwesenheit von Gertrud Pinkus).