Schweizer Fernsehen: Berge, Bauern und Belanglosigkeiten
Am Fernsehen kommt in der Schweizer Filmbranche niemand vorbei. Das hat Einfluss auf die Filme. Ein paar Gedanken über die Beziehungen zwischen Schweizer Fernsehen und unabhängiger Filmszene.
Die Ausnahmen liessen sich auch im vergangenen Jahr quasi an einer Hand abzählen: Fast in jedem längeren Dokumentar- oder Spielfilm, der in der Schweiz produziert wird, steckt Geld des Schweizer Fernsehens. Denn im Gegensatz zur amerikanischen Traumfabrik wird das Filmschaffen hierzulande viel stärker von Institutionen getragen als von privaten AkteurInnen. Kurz, nicht der jeweils vor der Oscar-Verleihung ins Rampenlicht gerückte Basler Filmproduzent Arthur Cohn und auch nicht die durchaus erfolgreiche Zürcher Produktionsfirma C-Films, sondern die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) ist neben dem Bund die mit Abstand grösste Filmproduzentin der Schweiz. Ein Grund dafür ist der Pacte de l’audiovisuel, der 1996 das Rahmenabkommen zwischen Fernsehen und Filmschaffenden ablöste und dieses Jahr in Solothurn zum wiederholten Mal erneuert wird (vgl. «Pacte de l’audiovisuel 2012: Das Geld wird neu verteilt»).
Ende der Neunziger bedeutete der Pacte einen entscheidenden Schritt zu einer Zusammenarbeit, die nicht nur die Schweizer Filmszene massgeblich verändert hat, sondern auch einen grossen Einfluss auf die Filme selbst ausübt. So wurde beispielsweise seit den siebziger Jahren in kaum einem Film mehr Dialekt gesprochen.
Dankbare Kuhkämpfe
Das änderte sich 2001, als die Produktion der Schweizer Fernsehfilme begann, die allesamt in Mundart gedreht wurden. Seither sind allein in der Fernsehfilmreihe des Deutschschweizer Fernsehens über siebzig abendfüllende Spielfilme realisiert worden. Und neben diesen Dialektfilmen entstanden immer häufiger auch Kinofilme, in denen nicht nur Mundart geredet, sondern auch die Schweizer Lebensart zum Thema wurde. Das diesjährige Programm der Solothurner Filmtage macht es augenfällig: Heimat ist im Schweizer Spiel- und Dokumentarfilmschaffen ein beliebtes Sujet. Filme über Bergbauern, Schwinger, Männerchöre und Kuhkämpfe finden heute ein begeistertes Publikum. Noch vor zehn Jahren hätte sich das wohl kaum jemand träumen lassen.
Als das Schweizer Fernsehen mit der Produktion der Fernsehfilme begann, herrschte in der Filmbranche zunächst eine emotionale Mischung aus Misstrauen und Euphorie: Während die einen sich gegen die vermeintlich mindere Qualität von Fernsehproduktionen sträubten, nutzten die anderen die neue Initiative als Entwicklungsfeld für ihre Ideen. Schaut man sich die ersten Filme der damaligen Reihe «Fernsehfilme DRS» heute an, ist man erstaunt über die Vielfalt der Themen und Formen, die am Sonntagabend zur Primetime über den Bildschirm flimmerten. Ein «Spital in Angst» von Michael Steiner, der 2001 seine Erstausstrahlung hatte, würde es heute wohl nicht mehr auf diesen Sendeplatz schaffen. Zu düster, zu sperrig wirkt das – harmlose – Geiseldrama heute, es würde die Erwartungen des Publikums enttäuschen, das am Sonntagabend auf beschauliche Geschichten aus ist.
Tatsächlich haben sich die Fernsehgewohnheiten in den vergangenen zehn Jahren verändert. Das Publikum ist launischer geworden und zugleich bequemer. Wer die Wahl zwischen fünfzig Programmen hat, zappt schon weg, wenn der Vorspann etwas länger dauert. Und wenn gar anstelle der gewohnten Serie ein Dokumentarfilm ausgestrahlt wird, siegt nur in verschwindend wenigen Fällen die Neugierde über die Fernsteuerung.
Rückbesinnung aufs Ländliche
Der Zwang, das TV-Publikum bei der Stange zu halten, führt aber unweigerlich zur Festigung vermeintlicher Erfolgsrezepte, die aus der Fernsehküche quasi ins freie Filmschaffen hineinduften: Berge, Bauern, bekannte Gesichter – das sind statistisch gesehen die Zutaten, die sich in den vergangenen Jahren zunehmend als Erfolgsfaktoren am Bildschirm bewährten. Und die formal und thematisch immer stärkeren Einfluss auf den Schweizer Film gewonnen haben. Bei «Sternenberg» und «Die Herbstzeitlosen» stammte die Rezeptur noch aus der Fernsehfilmredaktion, «Mein Name ist Eugen» oder jetzt aktuell «Der Verdingbub» wurden hingegen fürs Kino konzipiert, und «Bergauf, bergab» oder «Hoselupf» bearbeiten das urschweizerische Terrain im Dokumentarfilmsektor. Bewusst ist diese Angleichung an die TV-Formate wohl nur den wenigsten. Zudem ist die Rückbesinnung auf ländliche Themen sicher nicht nur auf den Einfluss der Fernsehfilme zurückzuführen, sondern hat ihre Wurzeln auch in einer von der globalen Realität überforderten, gestressten Gesellschaft.
Ob die Beschaulich-, um nicht zu sagen Belanglosigkeit der Sonntagabendfilme tatsächlich dem Publikum geschuldet ist oder ob die Fernsehredaktion die Erwartungen der Zuschauenden mit ihrer Auswahl noch zementiert hat, lässt sich kaum belegen. Überprüfbar sind hingegen die eindrücklichen Zahlen: Rund eine halbe Million ZuschauerInnen sitzen jeweils vor dem Bildschirm, wenn ein neuer Schweizer Fernsehfilm ausgestrahlt wird. Im Kino schaffen es nur seltene Kassenschlager auf über 100 000 Eintritte – wie zurzeit der «Verdingbub» mit über 200 000 Eintritten.
Auch wenn der künstlerische Erfolg an der Kinokasse – wo das Publikum Eintritt bezahlt und eine bewusste Wahl trifft – deutlich höher zu bewerten ist, trägt eine TV-Ausstrahlung meist stärker zum Bekanntheitsgrad und damit zur Karriere aller am Film Beteiligten bei. Mit den entsprechenden finanziellen Folgen. Dass da der eine oder andere erfolgversprechende Kompromiss geschlossen wird, ist verständlich. Und er kommt unter Umständen auch künstlerisch anspruchsvolleren Produktionen zugute, für die sonst gar kein Geld vorhanden wäre.
Kein Schmuddelimage mehr
Nicht zuletzt bedeutet das Engagement des Fernsehens auch Kontinuität für die gesamte Branche und ein nicht zu unterschätzendes Arbeitsfeld für viele Beschäftigte in den technischen Berufen. Fast alle freiberuflichen Kameraleute, Tontechniker, Ausstatterinnen und so weiter können letztlich nur dank der Aufträge des Fernsehens von ihrem Beruf leben. Entsprechend sind auch die Berührungsängste der Filmszene gegenüber den Studios beim Leutschenbach kleiner geworden. Es kann sein, dass dies nicht nur mit der Professionalität der Fernsehredaktionen zu tun hat, sondern auch mit einer ganz anders gearteten Verprofessionalisierung der Schweizer Filmszene: Vielerorts ist der Anspruch, Kunst und Kultur zu schaffen, einem beruflichen Selbstverständnis gewichen, das Film auch als «Gebrauchsware» und legitimes Futter für den Unterhaltungstrieb der menschlichen Spezies betrachtet. Kommerzielle Filme sind nicht erst salonfähig geworden, als Nicolas Bideau Chef der Sektion Film des Bundesamts für Kultur war (2005 bis 2010). Der Stellenwert der Unterhaltungsindustrie ist in der Gesellschaft ganz allgemein gewachsen, und sie hat dabei ihr Schmuddelimage verloren.
Das Fernsehsüppchen nachkochen
Hinzu kommt aber, dass auch das Selbstbewusstsein der FernsehmacherInnen gestiegen ist. Im Gegensatz zu den Anfangsjahren, wo die Eingaben der unabhängigen ProduzentInnen weitgehend umgesetzt wurden, redet die Fernsehredaktion heute bestimmend mit. Sowohl, was die Themen, als auch, was die SchauspielerInnen oder die Crew betrifft. Und dies nicht nur im Fernsehfilmbereich, sondern durchaus auch, wenn sich das Fernsehen finanziell entscheidend an Kinoproduktionen beteiligt. Dass es den freien Regisseuren, Produzentinnen und Autoren nicht immer leicht fällt, sich unter das Joch der Unterhaltungs-vorgaben zu beugen, will niemand abstreiten. Die Fernsehredaktionen seien zu selbstherrlich und schraubten das Niveau der Filme auf einheitliche Hausmannskost herunter, heisst es dann. Projekte würden verwässert und neue Ideen im Keim erstickt. Solange diese Taktik allerdings von Publikumserfolg gekrönt ist, kann man den Fernsehredaktionen daraus nur schwerlich einen Strick drehen.
Problematischer wird die Sache erst, wenn die Mehrheit der Filmschaffenden versucht, das Fernsehsüppchen wieder und wieder nachzukochen. Dann bestünde das Schweizer Filmschaffen tatsächlich bald nur noch aus Bergen, Bauern und Belanglosigkeiten, und es gäbe keine Festivalpreise für «Vol spécial», «Silberwald», «Abrir puertas y ventanas», «Fliegende Fische», «Der Sandmann» oder «Hell» – um nur die an internationalen Festivals erfolgreichsten Filme des vergangenen Jahres zu nennen.
Es ist denn auch nicht so, dass sich alle Schweizer Filmschaffenden um einen Platz am Bildschirm reissen würden. Wer seine Vorstellungen durchsetzen und unabhängig bleiben will, sucht in anderen Subventionstöpfen nach Unterstützung. Auch dann kann es sein, dass das Projekt schliesslich Unterstützung vom Fernsehen und zu einem späteren Zeitpunkt auch einen Sendeplatz erhält – im Nachtprogramm oder zur sonntäglichen Sternstunde morgens um elf. Aber dafür gibt es mittlerweile ja auch Aufnahmegeräte.
Pacte de l’audiovisuel 2012: Das Geld wird neu verteilt
Im Pacte de l’audiovisuel zwischen Fernsehen, Bund und Filmverbänden verpflichtete sich die Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) 1996, das freie Filmschaffen aktiv mit einem Betrag von mehreren Millionen Franken jährlich zu fördern. Anfangs wurden mit dem Geld vorwiegend Fernsehspiel- und -dokumentarfilme produziert, später kamen Kinoproduktionen hinzu. Mittlerweile stehen pro Jahr rund zwanzig Millionen Franken für diese Art der (Ko-)Produktionen zur Verfügung. Der jetzt erneuerte Pacte, der in Solothurn präsentiert wird, beinhaltet die gleiche Summe, doch die Gelder werden neu verteilt. Auch wenn sich, wie angekündigt, die Förderung des Bundes stärker auf die Kinoproduktion und das Fernsehen sich mehr auf Bildschirmformate konzentrieren sollen, steigen die Beträge, mit denen das Fernsehen Filme realisieren kann, nicht. Im Gegenteil, denn in Zukunft sollen über den Pacte auch Projekte im Bereich Multimedia gefördert werden.
Das Schweizer Fernsehen investierte in den vergangenen zehn Jahren mit der Produktion von Fernsehfilmen rund hundert Millionen Franken ins Schweizer Filmschaffen. Mehr als 500 Kinokoproduktionen im Dokumentar- und Spielfilmbereich sowie Kurz- und Animationsfilme profitierten von Geldern aus dem Fernsehtopf. Insgesamt belaufen sich die Investitionen des Schweizer Fernsehens in das Schweizer Filmschaffen in den vergangenen zehn Jahren auf über 150 Millionen Franken.
Nina Scheu