Sprayer: Logistik, Mut, Ecstasy

Nr. 48 –

Seit ihr Video «Live Life Like» 2013 ins Netz gestellt wurde, avancierten die Zürcher Sprüher von KCBR zu Undergroundlegenden: Der Clip knackt bald die Zweimillionenmarke. Einblick in die Arbeitswelt der meistgesuchten Sprüher der Schweiz, deren Aktionen erheblichen logistischen Aufwand erfordern.

«Mein Leben hat sich reduziert auf Grundsätzliches», sagt einer der Sprayer, «ich liege im Gebüsch und warte.» KCBR-Tag im Zürcher Kreis 4. Foto: Ursula Häne

Hello: Achte auf Leute in gelben Westen. Orangene Westen: Egal.

Gano: Klar. Gelbe Westen: Security. Orangene Westen: SBB-Personal.

Argent: Ich steige um 20.57 Uhr am Bahnhof Wiedikon mit dem Feuerlöscher ein. Wenn du Sicherheitspersonal im Zug entdeckt hast, haben wir eine Minute, um zu entscheiden, ob wir die Sache trotzdem durchziehen.

Hunter: Wissen die vier Leute auf den Fahrrädern, was sie zu tun haben?

Hello: Sie wissen es. Wir sind noch nicht sicher, wo genau sie stehen. Das müssen wir vor Ort entscheiden. Es gibt noch ein Problem mit dem Winkel und den Schattenwürfen und den Kameras. Hier die Liste für das Auto: Zwei Scheinwerfer. Drei Kabelrollen. Drei Verlängerungskabel. Eine Steckleiste. Ein Seil. Westen, orange. Plastiksäcke, schwarz.

Hunter: Alles mit Handschuhen anfassen. Hast du das den anderen gesagt?

Hello: Ist allen klar.

Trash: Wissen sie auch wirklich, wo beim Bahnhof Enge die Überwachungskameras stehen? Sie müssen alle unbedingt Mützen tragen.

Hello: Check: Helmkamera. Stativ. Vier Kameras. Kopflicht. Leiter. Feuerlöscher. Mouzle, du bist dafür verantwortlich, nach der Aktion den Hauptscheinwerfer wegzutragen. Sobald das Licht ausgeht, ziehst du den Stecker und läufst davon. Um das Kabel kümmert sich Gano. Gano, du musst sie im Laufen einrollen, du hast keine Zeit, dort stehen zu bleiben. Wir beleuchten mit den Scheinwerfern den ganzen dunklen Abschnitt des Bahnhofs. Wenn die Security kommt, dann kommen sie zu den Scheinwerfern, also zu dir.

Hunter: Mouzle, wenn die Aktion vorbei ist, steckst du zuerst die grossen Scheinwerfer aus, dann die beiden kleinen. Die drei anderen, die bei dir sind, sind jeweils für die Kabelrollen und Steckleisten verantwortlich. Alle gehen dann direkt zum Auto.

Hello: Parkiert eure Fahrräder direkt beim Wagen, damit ihr nach dem Einladen sofort wegfahren könnt.

Hunter: Ich prüfe die Kamerachips.

Hello: Die Chipkarten dürfen nach der Aktion nicht in die Nähe des Wagens mit all dem Krempel drin.

Hunter: Klar, ich verschwinde mit den Chips zu Fuss.

Die Sprayer von KCBR malen auf einen Tunneleingang im Bahnhof Zürich Enge eine Vagina und danach auf eine S-Bahn, die durch diesen Tunnel fahren wird, einen Penis. Wenn der Penis, nachdem er in die Vagina reingefahren ist, vom Hauptbahnhof zurück- und somit wieder aus der Vagina herausfährt, versteckt sich Argent mit Kollege Trash in der führerlosen hinteren Lokomotive mit einem Feuerlöscher, um damit beim Herausfahren abzuspritzen.

Das halten die anderen SprüherInnen mit einer Filmkamera fest. Für das perfekte Licht beleuchten sie mit Scheinwerfern den Bahnhof Enge spätabends taghell.

Sie sprühen mit Schwarz und Weiss den Schriftzug «Colors» auf eine S-Bahn und warten an der Strecke mit Dutzenden Farbeiern, um den farblosen Schriftzug und den voll besetzten Pendlerzug damit zu bombardieren.

Bei ihren Aktionen arbeiten sie mit Kameras. Sie binden sie sich um die Köpfe oder kleben sie mit Saugnäpfen auf die Züge. Einmal mussten sie flüchten, und in der Eile blieb eine Minikamera am Boden liegen. Als Argent sich später zurückschlich, lag sie noch da. Die Polizisten hatten sie übersehen. Auf dem Film hört man, wie nur eine Minute nachdem sich die Sprayer aus dem Staub gemacht hatten, die Polizisten vor dem Zug auftauchen: «Wie konnten die nur in zehn Minuten den ganzen Zug vollmalen?»

Sie legen Zeitpläne fest, in denen es für Zufälle keinen Platz gibt, weil sie für ihre Aktionen die Handys zu Hause lassen. Sie kommunizieren mit Funkgeräten, haben zur Not einen Peilsender im Gepäck, mit dem sie die Bewegungen des Zugs verfolgen können. Sie arbeiten mit Bewegungsmeldern und einer Alarmanlage, die sie an den Zugangswegen postieren, um sich vor Überraschungen durch die Polizei oder Sicherheitspersonal zu schützen. Jeder hat dabei seine Aufgabe: Einer trägt die Dosen, der andere die Kamera, der Dritte die Chipkarten. Sie sprechen ab, wer im Notfall in welche Richtung rennt und wo man sich später trifft. Sie fahren mit zwei Autos, die mit Funkgeräten kommunizieren, zu ihren Aktionen, damit das vordere Auto das zweite bei einer allfälligen Verkehrskontrolle warnen kann (im einen Auto befinden sich die Dosen, im anderen die Kameras und die Speicherchips). Sie bewegen sich auf den Areals der SBB wie deren eigene Mitarbeiter: mit Westen, Gleisschuhen. Wenn sie auf diesen Märschen auf SBB-Mitarbeiter treffen, grüssen sie freundlich, so wie es Bahnarbeiter untereinander halt tun.

Egal ob in Rapperswil, in Ziegelbrücke oder in Schaffhausen: Wenn KCBR einen Zug anmalen, wissen sie, wann und wohin dieser später fährt. So brauchen sie für das Foto am nächsten Tag nur irgendwo an der Linie zu warten. Dieses Fachwissen ist nötig: Die SBB ziehen angesprühte Züge so schnell wie möglich und meistens innerhalb eines Tages aus dem Verkehr in der Hoffnung, den Sprayern die Lust zu nehmen, und um keine Nachahmer zu motivieren. «Der jährliche Fahrplanwechsel bedeutet für uns Aufwand», sagt Hunter.

Die besprühte S-Bahn fährt vorbei. Hello fotografiert. Der Arbeitstag der Sprüher ist zu Ende. Angefangen hat er vor achtzehn Stunden. Zudem hatten Argent und Hunter zuvor schon zwei Nächte in einem Gebüsch gelegen, um die Gegend auszukundschaften: «Bei grösseren Aktionen will ich wissen, wie sich die Gegend in der Dunkelheit anfühlt», sagt Argent. «Wann fahren die letzten Bahnarbeiter nach Hause? Geht einer mitten in der Nacht mit seinem Hund spazieren?»

Auch wenn eine einzelne grössere Aktion meistens 24 Stunden oder mehr in Anspruch nimmt, dauert das Sprayen nur zwischen fünf Minuten und eineinhalb Stunden. Man geht um zehn Uhr abends los und kommt um vier Uhr morgens zurück, entspannt sich bei Sandwiches und Kaffee, verstaut die Dosen, macht die Kameras fertig, bevor es weitergeht. «Meistens fährt der bemalte Zug zwischen sechs und acht Uhr morgens ein», sagt Hello. «Danach sichern wir die Daten, schlafen. Wenn kein gutes Foto dabei ist, müssen wir am Nachmittag nochmals los, um den Zug in der Rushhour zu erwischen.»

Diesmal werden KCBR ihr Wochenziel erreichen: zwei Züge und ein Tram. Die Tramaktionen weckten bei den Sprayern einen zusätzlichen Ehrgeiz. Da die Zürcher Trams in der Nacht eingeschlossen sind (und erst gar nicht das Depot verlassen, wenn sie dort in der Nacht angesprüht wurden), bleibt den Sprayern nur die Möglichkeit, in jenen wenigen Minuten zuzuschlagen, wenn ein Tram an einer Endstation auf die Weiterfahrt wartet. Deal erstellte Listen, wann und wo sich gute Möglichkeiten bieten, sich anzuschleichen und die Pausen auszunutzen. Immer wieder musste eine Aktion abgebrochen werden, etwa weil ein Tramchauffeur am falschen Ort eine Zigarette rauchte oder Spaziergänger auftauchten. «Doch letztlich haben wir alle Linien bemalt, Nummer für Nummer», sagt Argent.

Hello sagt, er habe in den letzten Jahren wegen KCBR auf vieles verzichtet: «Mein einziger Job war das Sprühen. Das ist finanziell nicht einträglich: Keine neuen Schuhe, keine neuen Kleider, immer billig essen. Unser Luxusmenü, das wir uns manchmal nach gelungenen Aktionen gönnten, war gegrillte Ente bei einem Chinesen für siebzehn Franken.»

Argent sagt, er habe in seinen Jobs für zwei gearbeitet, für sich und für Hello. «Ich habe ihm Geld gegeben, gleichzeitig hat er viel mehr für KCBR gearbeitet. Hat geplant, organisiert und vor allem viel fotografiert.»

Dieses hohe Tempo ist Deal manchmal zu viel. Er ist der Älteste in der Gruppe: «Ich war vor zehn Jahren selbst so drauf wie meine Kumpels: Mit dem Kopf durch die Wand. Ich war süchtig nach Graffiti. Irgendwann umgibst du dich nur noch mit Leuten, die einen ähnlich krassen Film fahren. Und wenn jemand meine Kunst kritisiert hat, dann war meine Antwort eine Ohrfeige. Das habe ich überhaupt nicht ertragen. Kunst bedeutete für mich Freiheit. Da brauchte mir keiner zu sagen, was richtig oder falsch ist. Inzwischen habe ich diese Verbissenheit ein wenig verloren», sagt er. So kann es vorkommen, dass sich die drei Jüngeren über den Alten beklagen, weil er nicht denselben Ehrgeiz aufbringt – und er wiederum von den Jungen Respekt für sein Vermächtnis, sein Durchhalten über all die langen Jahre einfordert.

Deal begann 1993 zu sprayen. Ende der Neunziger habe die Szene in Zürich geboomt, sagt er. Ständig seien neue Gruppen wie aus dem Nichts aufgetaucht. Die Zugdepots seien jedoch bereits unter den alten Gruppen aufgeteilt gewesen. «Ich spielte mit meinen damaligen Kumpels in der Szene eine Aussenseiterrolle. Wir gehörten einfach nicht so recht dazu. Vielleicht weil bei uns die meisten nicht sonderlich gebildet waren. Ich meine nicht im klassischen Sinn gebildet. Wir hörten lieber auf das, was uns 2Pac erzählte: Wir sassen an Nachmittagen arbeitslos in Parks herum und tranken Whisky.»

2004 sei die Zürcher Graffitiszene zusammengebrochen. «Die Leute wurden älter und setzten andere Prioritäten im Leben. Sie widmeten sich ihren Jobs und der Familie. Viele Sprüher hörten auf. Legenden verschwanden», sagt Deal. Plötzlich standen den jüngeren Sprühern Zugdepots offen – diese Entwicklung war ein Grundstein für KCBR. «In jener Zeit lernte ich Hello kennen. Dann kamen Imad, Hunter und Argent hinzu. Und dann Gano und B-True. Statt eine ruhige Kugel zu schieben, stand ich plötzlich im Zentrum der heftigsten Zürcher Graffitiexplosion.»

Einer Explosion, der er zusammen mit Hello 2008 einen Namen gab: «Wir haben uns damals zusammen an Partys die Kante gegeben und auf dem Heimweg die ganze Stadt mit unseren Tags verziert», sagt Hello. Irgendwann sprühte Deal «endlos blau» und in einem «klassischen Hip-Hop-Grössenwahn-Move» die Buchstaben «KC» auf den Boden und sagte zu Hello: «Wenn ich jemals wieder eine Graffiticrew gründe, dann heisst sie King’s Club.» Hello nahm die Dose, sprühte «BR» daneben und sagte: «Und wenn ich jemals wieder eine Crew gründe, dann heisst sie Be Retarded.» Das war es dann, die Verschmelzung von Grössenwahn und Behinderung: KCBR – King’s Club Be Retarded.

«Mein Leben hat sich reduziert auf Grundsätzliches», sagt Hello. «Ich liege mit einem Kumpel eine Nacht lang im Gebüsch und warte. Das ist eigentlich ziemlich romantisch.» Argent sagt, Männer müssten aus allem einen Wettbewerb machen. Das sei wohl der Grund, warum ihre Graffitiaktionen immer extremer geworden seien. Wirklicher Tiefgang sei in ihren gemalten Penissen und Schriftzügen ja nicht zu erkennen. «Die Mission ist die Message», sagt er.

Im Moment könne er nur verlieren, sagt Argent. Und damit liegt er wohl nicht einmal so falsch: Die Sprayer in der Bankenstadt fahren zwar wie Investmentbanker vor der Finanzkrise volles Risiko – nur erwarten sie vom Staat keine Absicherung, wenn die Sache schiefgeht. Bei ihren Aktionen geht es nicht um Gewinn (höchstens um Ruhm in einer relativ kleinen Szene). Es geht um Adrenalinkicks und, wie Argent sagt, um Loyalität und Freundschaft. «Mit Graffiti können wir höchstens von der Polizei geschnappt und zu hohen Bussen verdonnert werden», sagt er. «Zu gewinnen gibt es nichts. Deshalb vertraue ich meinen Freunden blind. Würden wir Banken überfallen, ginge es wohl in erster Linie um Geld. Aber hier? Wer seine ganze Energie für etwas derart Sinnloses verwendet, der verarscht dich nicht.»

Dieser Text erschien in einer längeren Fassung auch im Buch «Live Life Like KCBR». Edition Patrick Frey.