Mascha Madörin: «Hausarbeit ist notwendige Arbeit, Punkt, Amen»

Nr. 14 –

Sie hat in Moçambique gelehrt und die Antiapartheidbewegung mitgeprägt, den Bankensektor durchleuchtet und das Thema Care-Ökonomie in die Schweiz gebracht. Ein Gespräch mit Mascha Madörin zum 70. Geburtstag.

  • «Sorge- und Pflegearbeit hat eine andere Logik als die Industrieproduktion: Man kann immer billiger Smartphones herstellen, aber nicht immer billiger pflegen», sagt Ökonomin Mascha Madörin.
  • «Mein Traumberuf wäre: Bücher lesen für andere. Um ihnen sagen zu können: ‹Diese drei Seiten da, das sind die wichtigsten.›»
  • Teilnehmende Beobachtung: Ausweis als Journalistin 1977 vom Informationsministerium in Moçambique ausgestellt.
  • Vorwärts und nicht vergessen: Mascha Madörin (ganz rechts) mit Ehemann Kurt und Sohn Grischa am 1. Mai 1975 in Basel. Foto: Privatarchiv

WOZ: Mascha Madörin, Wirtschaft und Arbeit sind Themen, die Sie leidenschaftlich interessieren.
Mascha Madörin: Ja. Im Verlauf meines Lebens habe ich Fabriken von innen gesehen, in einer Grossbank, für den Staat und für NGOs gearbeitet – ich habe die unterschiedlichen Arbeitsprozesse und Sinnlichkeiten dieser Betriebe miterlebt. In der Linken war die Wirtschaft oft eine grosse Projektionsfläche. Mich interessierte hingegen immer: Wie funktioniert es eigentlich?

Sie sind zu einer Zeit Ökonomin geworden, als das für Frauen noch unüblich war.
Ja, meine Vorbilder waren zwangsläufig Männer. Ich hatte Glück, ich kannte die Firma meines Vaters, er erzählte viel von seiner Arbeit – das war keine fremde Welt für mich. Ohne diese Erfahrung hätte ich vermutlich nicht Ökonomie studiert.

Wie sind Sie aufgewachsen?
Mein Vater stammte aus einer armen Familie und heiratete die Tochter eines benachbarten Schmieds, der Herde zu produzieren begann. Daraus entstand eine kleine Fabrik in Bubendorf bei Liestal. Mein Vater war der kaufmännische Direktor und Mitinhaber, gemeinsam mit zwei meiner Onkel.

An freien Samstagnachmittagen fuhr er mit mir in die Fabrik, wusch sein Auto, dann ging er ins Büro und sinnierte. Ich durfte in der Fabrik herumlaufen, und er erklärte mir die Maschinen. Und dann gab es die Welt der Mutter: Wir hatten einen Riesengarten, sie nähte auch viel – sie arbeitete am meisten von uns. Für mich war immer klar, dass Hausarbeit auch Arbeit ist. Und ich sah, dass die Arbeitsprozesse im Haushalt andere sind als in der Fabrik, dass sie eine andere ökonomische Logik haben.

Betrachteten Ihre Eltern ihre Arbeiten als gleichwertig?
Es war eine strikte Arbeitsteilung, zwei getrennte Welten. Mein Vater redete meiner Mutter nicht drein. Sie erzählte aber viel von ihrer Vergangenheit, von der Diskriminierung der Mädchen. Das war mein erster Unterricht in feministischer Ökonomie.

Wie war sie aufgewachsen?
In einer Schmiede, zu der auch ein Bauernbetrieb gehörte. Meine Mutter und eine Schwester machten Heimarbeit: Sie woben Seidenbänder. Die dritte Schwester arbeitete im Haushalt, und im Sommer mussten alle aufs Feld. Die sieben Söhne bekamen zwanzig Franken Sackgeld, die Töchter, die Seidenbänder woben, fünf Franken; und die Tochter, die den Haushalt machte, bekam nichts. Ihre Schwestern protestierten – meine Mutter war ziemlich rebellisch –, darum bekam meine Tante dann auch fünf Franken. Die Brüder hatten den ganzen Sonntag frei – ausser jene, die gerade melken mussten –, die Mädchen nur am Nachmittag von zwei bis vier. Die Mädchen erbten auch nichts, sie bekamen nur eine Mitgift bei der Heirat. Beim Bügeln erzählte mir meine Mutter solche Geschichten, und am Schluss fragte sie immer: «Findest du das gerecht?»

Gleichberechtigung und Gerechtigkeit, das hiess für meine Mutter: Zugang zu Lohn und Erbe, Freizeit und Ausbildung.

Sie selbst waren im Gymnasium eines von 6 Mädchen unter 800 Buben und haben dann später Ökonomie studiert …
Ja, ich hatte einen sehr guten Professor, Karl William Kapp. Er war einer der bekanntesten institutionellen Ökonomen – er hat das Konzept der ökologischen und sozialen Kosten erfunden. Ich habe auch Entwicklungsökonomie studiert und dazu das Lizenziat gemacht. Dort ging es oft darum, dass es ausserhalb der formalen Lohnarbeit eine andere Welt gibt: den informellen Sektor.

Wie wurden Sie politisiert?
1967, über den Vietnamkrieg. Wir waren eine kleine Gruppe, mein späterer Mann Kurt war auch dabei. Kurt und ich waren naiv, ich hatte noch kaum eine linke Zeitung in der Hand gehabt, aber ich argumentierte gern, und der Vietnamkrieg beschäftigte mich sehr.

Sie haben dann 1970 die Progressiven Organisationen Basel mitgegründet.
Ja, wir arbeiteten viel zu Verkehrsplanung und Universitätspolitik und organisierten später jedes Jahr ein grosses Fest mit den Migrantenorganisationen – «Nostra Festa», das war eine Antwort auf die fremdenfeindliche Schwarzenbach-Initiative.

1976 gingen Sie mit Kurt nach Moçambique …
Dort war die Frelimo, die moçambiquanische Befreiungsfront, an die Macht gekommen. Wir reisten ein halbes Jahr nach der Unabhängigkeit nach Maputo, ich als Assistentin an der Wirtschaftsfakultät und Kurt als Soziologiedozent. Das Land wurde von der DDR und Bulgarien offiziell unterstützt, dazu kamen Linke aus der ganzen Welt – von den Eurokommunisten bis zu den Stalinisten, von der Kommunistischen Partei Brasiliens bis zu Stadtguerilleros. Das gesamte Spektrum des linken revolutionären Denkens war vertreten, daneben auch Sowjets, die Kolchosenwirtschaft unterrichteten. Absurdistan!

Wie verständigten Sie sich?
Kurt und ich waren die Einzigen, die mit fast allen reden konnten. Wir lernten rasch einigermassen Portugiesisch, wir sprachen Französisch und Englisch, konnten uns auch mit den DDR-Leuten unterhalten … und mussten bei jedem grossen ideologischen Krach übersetzen. Typisch schweizerisch! Und alle verdächtigten uns, nicht auf dem richtigen Weg zu sein.

Sie haben im Zentrum für afrikanische Studien der Universität mitgearbeitet. Wie war das?
Ruth First, meine Chefin, war eine scharfzüngige Feministin, eine brillante und undogmatische Frau. Sie war als jüdische Baltin nach Südafrika emigriert, unterstützte als eine der ersten weissen Linken den ANC, die Befreiungsbewegung gegen die Apartheid. Ihr Mann, Joe Slovo, war in der kommunistischen Partei und gehörte zur Gruppe um Nelson Mandela. Ruth First wurde 1982 in Moçambique durch eine Briefbombe aus Südafrika getötet.

Sie haben in Moçambique auch Feldstudien betrieben.
In den Semesterferien mussten alle zum Volk. Wir machten eine Studie über Wanderarbeit der moçambiquanischen Kleinbauern. Praktisch alle erwachsenen Männer in den südlichen Provinzen waren bis zur Unabhängigkeit nach Südafrika in die Bergwerke gegangen. Manchmal blieben sie in Südafrika oder starben, dann waren die Frauen völlig rechtlos und oft gezwungen, den Bruder des Mannes zu heiraten. Viele gingen stattdessen nach Maputo und arbeiteten in der Cashewindustrie, eine unglaublich harte Arbeit. Bei diesen Forschungen habe ich gelernt, immer nach den Geschlechterverhältnissen zu fragen.

Ihr Sohn Grischa war zu Beginn Ihres Aufenthalts drei Jahre alt – wie funktionierte das?
Es gab eine Kinderkrippe, aber dort gefiel es ihm nicht. Da fragten wir unsere Nachbarn – eine exemplarische städtische Frelimo-Familie –, ob er zu ihnen könnte. Sie nahmen uns in die Familie auf, das war toll, wir wurden an alle Feste eingeladen und bekamen auch alle Familiendramen mit.

Überzeugte Sie die damalige Politik der Frelimo?
Vieles beeindruckte mich. Die Regierung setzte auf Umverteilung, Mindestlöhne, Zugang zu öffentlichen Einrichtungen für alle. Unter portugiesischer Herrschaft hatte mehr oder weniger Apartheid geherrscht, wenn auch nicht so strikt wie in Südafrika. Es war toll zu sehen, wie die Leute sich Raum nahmen – als wir nach Maputo kamen, sah man am Strand fast nur Weisse, zwei Jahre später waren alle da. Und alle mussten Schlange stehen, auch die Weissen. Als sichtbares Zeichen, dass Schluss war mit dem Kolonialismus.

Die Bevölkerung achtete die Frelimo sehr, auch weil sie – jedenfalls anfänglich – nicht korrupt war. Aber ihre Ideen über die Umwandlung der Gesellschaft fanden nur ein begrenztes Echo. Sie versuchte zum Beispiel, den Brautpreis zu verbieten – aber die Leute zahlten ihn weiterhin und nannten ihn einfach «agradecimento»: Dank für das Aufziehen der Tochter.

1980 kehrten Sie in die Schweiz zurück – und fingen 1982 bei der Aktion Südafrika-Boykott an.
Das lag nahe, ich war für viele Aktivisten eine Vertrauensperson: Sie erzählten mir Dinge, die sie einer anderen Europäerin nicht erzählt hätten. Für mich war es toll, so in die Schweiz zurückzukommen. Ich bin einfach beim Thema geblieben.

In der Schweiz war die Antiapartheidbewegung anfänglich stark von Kirchen und Drittweltläden geprägt. Westschweizer Gruppen begannen mit dem Früchteboykott, dann schloss sich die Erklärung von Bern an, und ab 1982 arbeitete ich für die Aktion Südafrika-Boykott in einer bezahlten Halbtagesstelle.

Wie war die Stimmung in der Schweizer Bevölkerung?
Es gab schon ein Bewusstsein, dass die Apartheid nicht richtig ist. Aber auch viel Paternalismus. Ähnlich, wie man heute über Migranten in der Schweiz spricht, sprach man damals über die Schwarzen: «Die müssen noch etwas Demokratie lernen. Sie sind noch nicht reif.» Das Bewusstsein über Menschenrechtsverletzungen war immer unterentwickelt in der Schweiz. Mich wundert die heutige Leichtfertigkeit im Umgang mit den Menschenrechten nicht.

Wie beurteilen Sie heute den Erfolg des Apartheidboykotts?
Wir hatten in der Bevölkerung grossen Erfolg, das war eine der breitesten Bewegungen, die es in der Schweiz je gab. Als die Apartheid vorbei war, kamen hohe Beamte zu mir und sagten: «Ihr habt gute Arbeit gemacht.» Wir waren mehrmals ein Sitzungstraktandum für Generaldirektionen. Aber – und das befürchte ich heute auch bei Yanis Varoufakis’ Bewegung für ein demokratisches Europa – man hatte Schwierigkeiten, mehr als eine Basisbewegung zu mobilisieren. Das Übersetzen in institutionelle Politik war viel schwieriger. Ich schrieb unendlich viele Anfragen für Nationalräte zu Südafrika – vom Bundesrat kam nie eine substanzielle Antwort!

Wie erfolgreich war der Boykott von Grossbanken?
Tausende von Leuten zogen ihr Geld zurück. Das erfuhren wir von Bankangestellten, die Strichlisten über Kontenaufhebungen machten. Eine Stärke der Bewegung bestand darin, dass sie einfache, klare Tipps gab, wie sich die Leute beteiligen konnten: Boykottiert die Grossbanken, boykottiert die Früchte …

Ende der achtziger Jahre wechselten Sie dann zur Aktion Finanzplatz Schweiz (AFP).
Ich hatte immerhin schon mal bei einer Bank gearbeitet. Und für mein Prestige innerhalb der Linken war die AFP toll: Wenn du über die bösen Banken arbeitest, bist du richtig links. Ich wurde anerkannt, weil ich Zahlen lesen kann und schon in den Achtzigern wusste, was Derivate sind. Das gab mir das nötige Prestige, um als feministische Ökonomin ernst genommen zu werden. Ich habe zu Gold gearbeitet, zum Bankgeheimnis, zur Schuldenproblematik, zu den unsäglichen Strukturanpassungsprogrammen des Internationalen Währungsfonds und weiterhin zu den Beziehungen der Grossbanken zur Apartheid.

Bewirkte die Kritik der AFP etwas?
Dass das Bankgeheimnis schliesslich so sang- und klanglos untergegangen ist, trotz des Gemotzes der SVP, hat mit unserer langen Vorarbeit zu tun. Davon bin ich überzeugt. Irgendwann konnte man nicht mehr sagen: «Wenn wir die Gelder nicht aufnehmen, tun es andere.» Die Kampagnenarbeit war spannend, aber auch sehr anstrengend. Sicher nicht mein Traumberuf.

Was wäre denn Ihr Traumberuf?
Bücher lesen für andere. Um ihnen sagen zu können: «Diese drei Seiten da, das sind die wichtigsten.» Das wäre das Schönste.

Heute ist Care-Arbeit eins Ihrer Schwerpunktthemen. Wie sind Sie dazu gekommen?
Ganz wichtig für mein Verständnis der feministischen Ökonomie war die Forschung in Moçambique, insbesondere in Maputo. Die Stadt – vor der Unabhängigkeit hiess sie Lourenço Marques – war geprägt vom Wochenendtourismus: Sie war der Ort, wo die Südafrikaner ihrem puritanischen, repressiven Regime entkommen konnten. Es gab einen riesigen informellen Sektor, viele Prostituierte, Restaurants, Musik und Tanz: All das, was Gott in Südafrika verboten hatte. Dieser Sektor brach nach der Unabhängigkeit zusammen, weil die Grenze geschlossen war. Wir untersuchten, welche Strategien die Frauen in dieser Situation entwickelten. Dabei betrachteten wir die informelle Arbeit der Frauen immer im Kontext der postkolonialen Umbrüche. Für mich war das intellektuell wahnsinnig wichtig. In Europa war die Debatte viel eingeschränkter.

Inwiefern?
Der gesamtökonomische Kontext fehlte oft in der Debatte der damaligen Frauenbewegung. Eine spannende feministische Politökonomie entstand aber schon bald in den achtziger Jahren – und nicht zufällig wurde sie von Frauen entwickelt, die sich mit Nord-Süd-Fragen befassten. Auslöser waren die Finanz- und Schuldenkrisen im Süden.

Wie entwickelten sich die Krisen im Süden?
Der Internationale Währungsfonds (IWF) zwang den verschuldeten Ländern im Süden eine unsinnige Strukturanpassung auf – mit den gleichen Argumenten wie heute in Griechenland. Das Resultat waren massenweise gescheiterte Staaten. Wenn Regierungen kein Geld mehr haben für die Grundversorgung in der Bildung und im Gesundheitswesen, ist das erstens ein Rezept für Korruption: Alle versuchen verzweifelt, irgendwie an Güter, zu Schulplätzen und medizinischer Versorgung zu kommen. Und zweitens kann man jede Demokratie vergessen. Warum sollen sich Leute für den Staat interessieren, wenn die elementarsten Leistungen nicht mehr gewährleistet sind?

Warum treffen solche Krisen Frauen anders als Männer?
Weil vor allem Frauen dafür zuständig sind, die ökonomischen Bedingungen für das Leben und Überleben zu gewährleisten. Dieser Bereich hat eine andere Logik als die Kapitalakkumulation, die bis heute vorwiegend eine Männerwirtschaft ist. Wenn man das nicht versteht, versteht man auch die politische Frage der Geschlechterverhältnisse nicht. Dieser Gegensatz existiert weiter, egal wie sich die Rollen der Frauen verändern.

Viele Feministinnen der siebziger Jahre fanden, Hausarbeit sei das Letzte. Sie nicht.
Ich habe Hausarbeit auch gehasst, aber für mich war immer klar, dass das notwendige Arbeit ist, Punkt, Amen.

Sie haben einmal gesagt: Wenn in einer Familie die Zeit für unbezahlte Arbeit schrumpft, sinkt der Lebensstandard.
Ja, wenn die Zeit nicht reicht, das tun zu können, was das Leben angenehm und die Konsumgüter konsumierbar macht, verschlechtert sich die Lebensqualität. Ich finde viele Debatten über Haus- und Familienarbeit sehr seltsam. Da wird so getan, als sei alles nur eine Frage der effizienten Organisation. Das stimmt einfach nicht. Und oft wird vor allem problematisiert, dass Frauen diese Arbeit machen. Aber ich finde andere Fragen wichtiger: Welche dieser Arbeiten sollte man bezahlen? Was wäre gerechter? Wie organisiert die Gesellschaft die Care-Arbeit, die immer teurer wird?

Warum wird sie immer teurer?
Weil sie im Gegensatz zur Güterproduktion nicht produktiver werden kann. Man kann immer billiger Smartphones herstellen, aber nicht immer billiger pflegen. Jetzt wird viel über die Roboterisierung debattiert, darüber, dass uns die Arbeit ausgehe, doch im Care-Sektor geht die Arbeit nicht aus, im Gegenteil!

Aber wer soll sie bezahlen?
Diese Frage müssen wir dringend diskutieren. Klar ist: Investitionen in die Care-Arbeit haben Effekte weit über den Sektor hinaus. Es gibt ein spannendes Beispiel aus Argentinien. Dort startete der Staat während der Krise um die Jahrtausendwende ein Programm: Gemeinden und Gruppen konnten Leute zum Minimallohn anstellen. Frauen in armen Quartieren organisierten bezahlte Kinderhüte- und Kochdienste. Das war ein Riesenerfolg, die beste Armutsbekämpfung. Die Frauen sagten: Erstens sieht man jetzt, wie wichtig unsere Arbeit ist, und zweitens haben wir Geld. Aber als es wieder mehr reguläre Arbeitsplätze gab, fuhr die Regierung das Projekt zurück. Die Jobs der Frauen wurden wieder zu unbezahlter Arbeit.

Manche Linke erhoffen sich vom bedingungslosen Grundeinkommen mehr Spielraum für die Care-Arbeit. Sie sind skeptisch.
Ja. Zum einen besteht die Gefahr, dass das Grundeinkommen zu Wohlfahrtsnationalismus führt. In Dänemark sieht man das: Das Land hat eine sehr gut organisierte Care-Ökonomie, aber immer ist die Angst da, dass einem jemand etwas wegnimmt. Wie lange müsste eine Ausländerin im Land sein, um das Grundeinkommen zu erhalten? Und weil die Kosten für die Care-Arbeit zunehmen, befürchte ich, dass mit dem Grundeinkommen eine gespaltene Gesellschaft entsteht, wie es sie heute im Ansatz schon gibt: Die Armen können sich keine personenbezogenen Dienstleistungen leisten. Wenn jemand auf Pflege angewiesen ist, reicht das Grundeinkommen nirgends hin. Was wird aus der gesellschaftlich notwendigen Arbeit?

Die Befürworter eines Grundeinkommens gehen davon aus, dass die Menschen sozial genug sind, um diese Arbeit auch ohne Bezahlung zu leisten.
Aber wer leistet sie? Zu welchen Bedingungen? Das Initiativkomitee unterschätzt diesen Sektor massiv. Sie gehen auch davon aus, dass die Leute, die mies bezahlt werden, einfach nicht mehr arbeiten gehen. Aber es gibt Arbeit, die gemacht werden muss. Wenn ich Pflege brauche, muss ich mich darauf verlassen können.

Für mich ist es ein grundlegender linker Wert, anzuerkennen, dass alle wichtig sind für die Schaffung von Reichtum, Wohlfahrt und Lebensstandard. Ich bin für die radikale Bezahlung von Arbeit. Die traditionelle Linke betrachtete Arbeit als ökonomische Frage – wie organisiert die Gesellschaft die Arbeit, zu welchen Bedingungen? Das Grundeinkommen hingegen geht vom bestehenden Markt aus.

Aber was ist mit denen, die nicht arbeiten können?
Es braucht auch eine gute Sozialhilfe ohne Arbeitszwang und mit einer relativ grossen Marge, die man dazuverdienen kann, ohne die Sozialhilfe zu verlieren. Aber abgesehen davon soll man Menschen einen Lohn geben für gesellschaftlich relevante Leistungen. Es gibt so viel Arbeit, die das Leben bereichern würde. Lebenssinn hat doch auch etwas mit Relevanz für die Gesellschaft zu tun.

Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Lage der europäischen Wirtschaft? Ist etwas aus der Finanzkrise 2008 gelernt worden?
Nein. Die Eurozone befindet sich bis heute in einer prekären Situation. Die Banken sind nicht saniert, die Arbeitslosigkeit ist in den Südländern der Eurozone sehr gross, die Krise der Banken ist weiterhin eng mit der Krise der Staatsfinanzen verhängt.

Wie müsste eine vernünftige Politik gegenüber Griechenland aussehen?
Erstens müssen die Schuldendienste weit in die Zukunft hinausgeschoben werden, damit sich Griechenland wirtschaftlich erholen kann. Zweitens braucht das Land ein anderes Reformprogramm. Das jetzige treibt die Abwärtsspirale und die soziale und wirtschaftliche Zerrüttung des Landes weiter voran. Wie kann man so verrückt sein und so etwas implementieren wollen! Yanis Varoufakis und die griechische Regierung haben zweimal alternative Programme vorgelegt. Beide Vorschläge wurden nie diskutiert, weder in der Eurogruppe noch in irgendwelchen andern Gremien, auch nicht öffentlich.

Können Sie sich ein Ende des Kapitalismus vorstellen?
Über Utopien mache ich mir nicht allzu viele Gedanken. Vielmehr interessieren mich Umbrüche und Krisen. Ich bin überzeugt, dass sie es sind, die gesellschaftliche Aufbrüche entstehen lassen.

Dieses Interview ist ein Auszug aus einer längeren Fassung. Die vollständige Version erscheint im Juni in einem Buch zu Leben und Werk von Mascha Madörin, herausgegeben von Bettina Dyttrich und Stefan Howald in der Zürcher edition 8.

Die Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF) ehrt Madörin als feministische Ökonomin am Donnerstag, 28. April, um 18 Uhr öffentlich an der Gartenhofstrasse 7 in Zürich.

Mascha Madörins Website www.maschamadoerin.ch ist demnächst online.

Kritisch und bahnbrechend

Mascha Madörin (70) ist ausgebildete Ökonomin. 1972 war sie in Burundi und von 1976 bis 1980 in Moçambique tätig. Ab 1982 koordinierte sie den Boykott gegen das südafrikanische Apartheidregime in der Schweiz, ab 1988 durchleuchtete sie für die Aktion Finanzplatz Schweiz den Schweizer Finanzplatz kritisch; seit zwanzig Jahren leistet sie bahnbrechende Beiträge zu einer feministischen Ökonomie und zur Care-Ökonomie.