Steuerstreit und Eurokrise: «Was passiert, gleicht einem Super-GAU»

Nr. 9 –

Die Ökonomin Mascha Madörin ärgert, dass die Schweiz in Steuerfragen nur über die richtige Taktik debattiert. Ein Gespräch über ideologische Tabus und ein Programm, das die griechische Bevölkerung ins Unglück stürzt, aber den Euro nicht rettet.

WOZ: Frau Madörin, Sie haben jahrelang im Rahmen der Aktion Finanzplatz Schweiz zum Thema Bankgeheimnis gearbeitet. Derzeit reden alle von einer Weissgeldstrategie. Was genau müsste jetzt konkret getan werden?
Mascha Madörin: Wenn ich ehrlich bin, treibt mich das Bankgeheimnis im Moment nicht mehr sehr um – die Eurokrise beunruhigt mich viel mehr. All die Fragen um das Bankgeheimnis scheinen jetzt unter dem Druck der USA und der EU in Bewegung zu kommen. Die Schweiz kann nicht mehr anders, als sich diesem Druck von aussen zu fügen.

Trotzdem: Welche Strategie bräuchte es denn Ihrer Meinung nach? Den automatischen Informationsaustausch als Maximalforderung?
Ich bin da skeptisch. Wenn automatisch alle Daten geliefert werden, erhält der Staat sehr viele Informationen, was heikel sein kann.

Was wäre denn eine bessere Lösung?
Mich ärgert an der aktuellen Diskussion, dass man vor allem über die Taktik spricht: Was muss die Schweiz tun, um möglichst unbehelligt aus dem Schussfeld zu kommen? Dabei müsste man doch endlich darüber reden, wie eine anständige, rechtsstaatliche Lösung aussehen kann. Es ist letztlich eine Frage der Gerechtigkeit und nicht der Taktik, vor allem, wenn es um Regelungen gegenüber anderen Ländern neben der mächtigen EU oder den USA geht. Es gibt aber noch weitere Steuerfragen, die demnächst garantiert auf die Schweiz zukommen: die Hinterziehung durch Unternehmen und durch den internationalen Handel. Auch dort ist die Schweiz ein Steuerparadies.

Offensichtlich liegen auch in der Schweiz griechische Gelder …
Man darf nicht alles vermengen. Man muss unterscheiden zwischen Diktatorengeldern, Kapitalflucht und Steuerhinterziehung – das ist manchmal dasselbe, manchmal nicht. Diktatorengelder stammen von korrupten Regimes, die Staatsgelder abgezweigt und auf ausländischen Konten in Sicherheit gebracht haben. Bei der Kapitalflucht bringen die Leute wegen der politisch instabilen Lage das Geld ausser Landes, wie das offenbar jetzt in Griechenland passiert.

Wie beurteilen Sie denn die Versuche der EU, die Krise in Griechenland zu bewältigen?
In Griechenland wird ein erschreckendes, neoliberales Programm durchgezogen, das letztlich ein sozialdemokratisches Verständnis der EU untergräbt. Was jetzt passiert, gleicht einem Super-GAU. Der Unterschied ist: Man führt ihn Schritt für Schritt herbei und sieht zu, wie sich die Katastrophe langsam entwickelt, ohne dagegen etwas zu tun. Es wundert mich sehr, was die vielen Experten sagen und schreiben: Sie begrüssen oder fordern Massnahmen, von denen man seit langem wissen sollte, dass sich damit keine akute Finanzkrise und keine daraus resultierende Wirtschaftskrise bewältigen lässt. Vielmehr wird sie durch die verordneten Massnahmen verschärft. Heute werden von der Europäischen Währungsunion (EWU) und vom Internationalen Währungsfonds (IWF) zur Eurokrise Entscheide gefällt, als ob es die Krise von 2008 und die darauf folgende Debatte nie gegeben hätte.

Sie haben auch viel zur Schuldenkrise in Lateinamerika gearbeitet. Gibt es Parallelen?
Am meisten irritiert mich, dass es bisher keine breite Solidaritätsbewegung in Europa gibt, die eine Schuldenstreichung verlangt. In den achtziger, neunziger Jahren verordnete der IWF verschiedenen lateinamerikanischen Staaten Sparprogramme, wie man sie jetzt Griechenland aufbürdet: die Staatsausgaben für Gesundheit, Bildung und Sozialversicherungen zusammenstreichen und die Privatisierung der staatlichen Unternehmen vorantreiben. Damals gab es weltweit eine breite Protestbewegung gegen diese sogenannten «Strukturanpassungsprogramme», und man verlangte, dass die Schulden dieser Länder gestrichen werden.

Haben die Staaten über ihre Verhältnisse gelebt?
Nein! Die Eurokrise wird zwar als Staatsfinanzkrise respektive als Krise des Sozialstaats abgehandelt, obwohl alle ökonomischen Fakten dem widersprechen. In den betroffenen Ländern – Italien, Spanien, Irland, Portugal, Griechenland – haben aber unterschiedliche Gründe zur Krise geführt: In einigen Ländern hat erst der Bail-out, also die erzwungene staatliche Bankenrettung und die darauf folgende Wirtschaftskrise, zu einer grossen Staatsverschuldung und grossen Staatsdefiziten geführt. In anderen Ländern ist vor allem der Privatsektor verschuldet. Allen ist gemeinsam, dass sie Exportschwierigkeiten haben.

Griechenland ist, was makroökonomische Daten anbelangt, in der schlimmsten Situation. Wäre die EU nicht so handlungs- und vielleicht auch analyseunfähig gewesen, hätte deswegen nicht eine Eurokrise ausbrechen müssen. Droht eine Krise auszubrechen, dann müssen sofort ungewöhnliche Massnahmen ergriffen werden, um sie einzudämmen. Bei der Schaffung der Währungsunion wurde aber keine Feuerwehr für die Bekämpfung von Eurokrisen eingerichtet.

Sie sprechen von einem Super-GAU – was genau kommt auf Griechenland zu?
Von der griechischen Regierung wird die Durchsetzung eines Wirtschaftsprogramms verlangt, das ökonomisch unrealistisch und widersprüchlich ist. Es wird eine sogenannte deflationäre Politik durchgesetzt, die – historisch gesehen – noch nie wirklich funktioniert hat.

Was bedeutet Deflation?
Für gewöhnlich fürchtet man ja die Inflation. Das Geld verliert stetig an Wert, die Kaufkraft der Löhne sinkt, alles wird sukzessive teurer. Der Vorteil ist aber, dass die Schulden ebenfalls an Wert verlieren, jedenfalls wenn sie auf die Währung des eigenen Landes lauten. Die Schuldenlast in eigener Währung verliert durch Inflation an Wert. Das haben die USA mit ihrer Dollarpolitik mehrmals sehr erfolgreich durchgespielt. Ein Problem der Eurozone besteht darin, dass alle Schulden in einer Währung verrechnet werden, über deren Wert die einzelnen Länder selbst nicht entscheiden können. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman sagt, dass die Europäische Zentralbank (EZB) die Situation der verschuldeten Länder und Staaten ein bisschen mildern könnte, wenn sie in der Eurozone eine Inflation von vier bis fünf Prozent zulassen würde. Aber sogar das widerspricht der EWU-Doktrin. Bei der Deflation, die jetzt durchgesetzt wird, zerfallen die Preise, die Löhne sinken. Setzt sich die Deflation fest, kommt man nur schwer wieder heraus. Der Konsum bricht ein, weil die Leute auf sinkende Preise warten oder damit rechnen, dass ihr Einkommen weiter sinkt. Dadurch sinkt die Nachfrage, selbst funktionierende Betriebe können ihre Produkte nicht mehr absetzen und gehen bankrott. Die Banken geben keine Kredite mehr. Am Ende ist man in einer sogenannten Deflationsspirale.

Sie sehen darin eine politische Katastrophe …
Nehmen wir das Beispiel Deutschland. Deutschland musste wegen des Ersten Weltkriegs irreal hohe Reparationszahlungen leisten. Danach kam 1929 der Finanzcrash. Anfang der dreissiger Jahre, während der grossen Weltwirtschaftskrise, litt Deutschland unter einer starken Deflation – was mit ein wichtiger Grund war, dass Hitler überhaupt an die Macht kam. Politisch ist es furchtbar, etwas von Regierungen zu verlangen, was ökonomisch nicht möglich ist oder jahrzehntelang von einem Land grosse Opfer verlangt. Auch eine nicht korrupte, durchsetzungsstarke Regierung wird dadurch völlig delegitimiert. Ich fürchte mich vor den politischen Entwicklungen in Griechenland und in der EU insgesamt.

Könnte die EZB den Staaten nicht helfen?
Das ist eine andere Tabufrage, die zunehmend akuter wird. Eine Nationalbank darf überschuldete Staaten nicht retten wie Banken. Das war historisch nicht immer so und ist nicht zwingend – trotzdem gilt dieses Tabu. Deshalb müssen die Nationalbanken indirekt helfen, indem sie entweder auf dem Markt Staatsschulden aufkaufen und niedrigere Zinsen bieten. Aber selbst das ist für die EZB tabu. Das Einzige, was nach neoklassischer Doktrin erlaubt ist – aber innerhalb der EZB trotzdem zu heftigen Kontroversen geführt hat –, ist die Ausgabe von billigem Geld: Die EZB stellt den Banken Unmengen Geld zur Verfügung, für das diese nur ein Prozent Zins zahlen. Damit können die Banken dann von den Problemländern Anleihen kaufen und bekommen dafür acht oder mehr Prozent. Das sind meistens Staatsanleihen oder Anleihen, die vom Staat garantiert sind. Die Banken verdienen Milliarden daran, und das zahlen die eh schon verschuldeten Staaten mit öffentlichen Geldern. Es ist überhaupt nicht einsichtig, weshalb die Nationalbanken ihre Mittel nicht direkt den Staaten zu günstigen Konditionen zur Verfügung stellen können oder sogar selbst Geld drucken und so Staaten direkt vor der Überschuldung retten. Die Bedingungen, unter denen sie das tun dürfen, müssten natürlich genau geregelt werden. Übrigens: Wenn die Schweiz Mitglied der Eurozone gewesen wäre, hätte die Nationalbank nicht so intervenieren dürfen, wie sie es 2008 zur Rettung der UBS getan hat.

Warum hätte die Nationalbank unter diesen Bedingungen das UBS-Rettungspaket nicht schnüren dürfen?
Die Nationalbank hätte keine Franken, respektive Euros, drucken können, um damit Dollars zu kaufen – dank dieser Dollars konnte sie ja dann die toxischen Wertpapiere der UBS kaufen. Wären wir in der Eurozone, hätte das nur die EZB tun können. Damals musste der Schweizer Staat nur sechs Milliarden Schweizer Franken aufbringen, was ein kleiner Teil war, verglichen mit den 38 Milliarden Dollar, die die Nationalbank beisteuerte. Wären wir Mitglied der Europäischen Währungsunion gewesen, hätte der Staat alles Bail-out-Geld selbst aufbringen müssen. Uns wäre es so schlimm ergangen wie Irland. Der Irrsinn der Europäischen Währungsunion und die Krise des Euro haben schon damit begonnen, dass die Währungsunion versucht hat, die Banken auf nationalstaatlicher Ebene zu retten.

Und warum genau darf die EZB überschuldete Staaten nicht retten?
Es ist einfach ein wichtiges neoliberales Tabu. Im Statut der Europäischen Zentralbank steht nur, dass sie stabilisierend auf den Euro wirken, das heisst Antiinflationspolitik betreiben muss. Da steht nicht, was sie im Krisenfall tun soll. Allerdings hat die EZB das Tabu auch schon gebrochen, indem sie auf dem Sekundärmarkt griechische und andere Staatspapiere aufgekauft hat. Sie könnte Griechenland einen Teil der Schulden erlassen, weil sie die Staatspapiere auf dem Sekundärmarkt unter dem Preis der Darlehensschuld eingekauft hat und auf die hohen Zinsen verzichten könnte. Damit würde die Last der jährlich anfallenden Schuldendienste Griechenlands gemildert, aber bis jetzt hat die EZB diesen Vorschlag knallhart abgelehnt. Die internationale Bankerszene ist vorläufig mit dieser Lösung zufrieden, weil die Hunderte von Milliarden von Euros, die sie fast gratis von der EZB bekommt, weitere schöne Geschäfte ermöglichen.

Ist nicht auch der Euro an sich ein Problem, weil alle Euroländer und auch ihre Sozialversicherungssysteme letztlich über die Währung miteinander verhängt sind?
Es war mir immer schleierhaft, wie man eine neue Währung einführen kann, ohne gleichzeitig die nötigen Institutionen zu schaffen, die im Krisenfall agieren können. Es gibt in einem Währungssystem immer Ungleichgewichte, die zwangsläufig zu einer Krise führen, wenn man sich nicht um den Ausgleich kümmert.

Und warum hat man das nicht getan?
Man glaubte, eine Krise würde die EU-Integration vorantreiben. Doch genau das Gegenteil passierte. Mit dem Programm, das man Griechenland verschrieben hat, produziert man einen «Failed State», einen gescheiterten Staat. Die Bevölkerung eines ganzen Landes wird damit ins Unglück gestürzt – und es bringt nicht einmal etwas. Der Euro ist noch nicht gerettet.

Was bräuchte es dann?
Die Eurozone als Währungsgebiet verschiedener Länder wirft angesichts der Globalisierung der Finanzmärkte neue Fragen auf, die überhaupt nie diskutiert wurden. Zudem wurden selbst die bekannten Probleme, die schon John Maynard Keynes formuliert hat, schlicht ignoriert. Auf der Ebene der Währungsunion müssen neue Institutionen geschaffen werden. Zum einen muss das Statut der EZB radikal verändert werden, sie muss wesentlich mehr Kompetenzen erhalten. Ich denke, dass es eine Art europäischen Währungsfonds braucht und – was effektiv schon existiert – eine europäische Entwicklungsbank, welche Marshall-Projekte für Länder in der Krise finanziert. Es braucht auch ein System von Eurobonds – also EU-Staatsanleihen –, das einzelne Staaten vor dem Furor der Spekulanten schützt.

Und was geschieht mit den Schulden?
Ich glaube, dass es auch die Einführung eines Schuldenstreichungsrechts für Länder und Staaten braucht – nicht nur für die Eurozone, wie dies schon früher diskutiert wurde. Und dann braucht es ein regionales Finanzausgleichssystem, das schon Keynes für Länder mit Einheitswährung gefordert hat.

Mascha Madörin

Die Nationalökonomin Mascha Madörin (65) ist eine der wenigen Expertinnen, die zu feministischer Wirtschaftstheorie und -politik forschen; gegenwärtig arbeitet sie vor allem zu den Bereichen öffentliche Finanzen und Care-Ökonomie. Von 1976 bis 1980 lehrte Madörin an der Universität in Moçambique, danach arbeitete sie während dreizehn Jahren bei der Aktion Finanzplatz Schweiz zu Themen wie Schuldenkrisen, Diktatorengelder, Geldwäscherei, Steuerhinterziehung.