Essay: Der Islam als Religion braucht meine Verteidigung nicht. Er hat 1,4 Milliarden Anhänger. Man kann eine Meinung von einer Religion haben, aber Angst vor einer Religion gibt es nicht.

Nr. 15 –

Wer in Deutschland die Fremden hasst, hasst im Grunde die Deutschen, schreibt der syrisch-deutsche Schriftsteller Rafik Schami. Um einen Fremden zu integrieren, bestehe der erste Schritt darin, die Deutschen zu integrieren. Ein Plädoyer gegen den von Salonprovokateuren verbreiteten Horrorkitsch zum Thema Migration.

Unser Leben ist keine stete Linie. Es ähnelt eher einem Mosaik. Je näher man kommt, umso sichtbarer werden die Brüche, umso charaktervoller die Steine. Deshalb entschied ich mich dafür, eine komplexe Angelegenheit in ihre Steine zu zerlegen, und sollte ich einen Stein vergessen, so ist es eine Anregung für die Leserinnen und Leser, ihn zu ergänzen. Nichts Schöneres kann einem Text passieren.

Ein Lächeln kann Gastfreundschaft sein

April 2016. Ich stehe vor einem Regal im Supermarkt. Letzte Woche haben sie die Regale umgeordnet, und ich fühle mich verloren wie damals in der Wüste, als ich meinen Vater auf der Jagd begleitete und er und seine Freunde mich für ein paar Stunden allein liessen. Hier stehen Regale, aber weit und breit ist kein Berater zu sehen. Seit Jahren habe ich es aufgegeben, junge Mädchen, die in irgendeinem Supermarkt irgendein Praktikum machen, mit Fragen zu belästigen. «Kann ich Ihnen helfen?», höre ich hinter mir. Eine kleine alte Frau – bestimmt achtzig – stützt sich auf ihren Einkaufswagen und lächelt mich an. Ihr Lächeln ist eine Oase. Ich atme erleichtert auf. «Danke», sage ich, «ich komme schon zurecht, aber herzlichen Dank.» Ich streichle verlegen ihre kleine Hand. Später an der Kasse winken wir uns ein letztes Mal zu. «Haben Sie es gefunden?», fragt sie laut. Ich hebe die Dose mit den eingelegten Artischockenherzen und nicke. Ein Lächeln kann eine Gastfreundschaft sein, weil es das Fremde wegnimmt.

Fremd im eigenen Land

Ich weiss nicht, ob es immer so war oder ob es eine Folge der Naziherrschaft ist, aber viele Deutsche haben eine gestörte Beziehung zu ihrem Land. Loben Sie ein griechisches Dorf einem Griechen gegenüber oder eine spanische Spezialität einem Spanier gegenüber oder Damaskus mir gegenüber, und Sie werden eine fast kindliche Freude auf den Gesichtern beobachten. Da ich seit 45 Jahren in Deutschland lebe und so viele Tourneen durch das Land gemacht habe, kenne ich es besser als viele Deutsche, und ich finde das Land faszinierend schön, vielfältig, einladend und reich an Sehenswürdigkeiten. Wenn ich davon aber einem Deutschen vorschwärme, schaut er sich manchmal verlegen um. Manche erröten sogar, wenn sie ein Lob über ihr Land hören, als hätte man ihnen etwas Unanständiges oder Peinliches erzählt.

Ich liebe dieses Land, das mir eine Sprache und ein Zuhause gab. Ich liebe seine Schönheit, die mich fasziniert. Man kann ein Land auch lieben, ohne vor Stolz und Nationalismus zu platzen.

Der Deutsche ist fremd im eigenen Land, nicht durch die Fremden ist er das geworden, sondern ohne sie und durch seine Geschichte. Deshalb besteht der erste Schritt der Integration eines Fremden in der Integration der Deutschen. Erst wenn sie ihr Land lieben, können sie den Fremden lieben. Hier sehe  ich eine grosse Chance für die Deutschen, über die Fremden heimisch zu werden. Ich bin sicher, es wird ein langer Weg, und noch sicherer bin ich nach 45 Jahren Leben in Deutschland: Wer in diesem Land die Fremden hasst, hasst die Deutschen.

Nicht Angsthaben ist eine Schande, sondern Angstmachen

Eine Freundin liest mein Interview im «Kölner Stadt-Anzeiger» und fragt per E-Mail, ob sie sich für ihre Angst vor Fremden schämen muss. Sie habe schlicht und einfach Angst vor den Flüchtlingen in ihrem Dorf. Ob die Angst vor dem Fremden (Xenophobie) dem Menschen angeboren oder dessen Erfindung ist, bleibt umstritten. Anders formuliert: Ob die Neugier auf alles Neue, Fremde oder deren Gegenteil, die Angst davor, als eine Art primitiver Überlebensreflex entscheidend ist, bleibt diskutabel. Aber sollte man Angst vor dem Fremden empfinden, ist das keine Sünde und schon gar nicht Rassismus. Man sollte darüber reden.

Aber was meinen wir genau mit dem «Fremden»? Wir nehmen einen Menschen nicht als «Fremden» wahr, weil er einen anderen Pass trägt, sondern weil er anders aussieht, spricht, sich verhält. Ein blonder Schwede wird in Deutschland seltener von Rassisten angegriffen als ein dunkelhaariger Deutscher. Diese Angst vor dem Fremden, die ein Mensch aus welchen Gründen auch immer empfindet, ist selbst kein Rassismus, aber jene, die – gestützt darauf – eine Stigmatisierung des Fremden, die Propagierung seiner Ausgrenzung und Vertreibung sowie die Gefährdung des Lebens dieser Fremden kaltblütig in Kauf nehmen, sind Rassisten.

Wie machen sie das? Sie projizieren das Hässliche, Gemeine, Gefährliche, das ihnen geeignet erscheint, auf den Fremden. Nicht selten entspringt ein beachtlicher Teil davon ihrer Fantasie. Wenn all das nicht reicht, kommen sie mit Verschwörungstheorien, deren Folgen immer antisemitisch sind. Der hässliche Fremde wechselt je nach Land und Krise und je nach Verbot. Er war einst Jude, Sinti und Roma, Russe, später Amerikaner, Italiener, Türke, Pole, Araber, und nun ist er der Muslim.

Ein einfaches Prinzip

Ein junger Mann fragte mich nach einer Lesung: Ob ich den Islam verteidigen wolle, wenn ich die Herren Sloterdijk, Strauss, Safranski, Jirgl, Böckelmann und andere kritisiere? Der Islam als Religion braucht meine Verteidigung nicht. Er hat 1,4 Milliarden Anhänger. Man kann eine positive oder negative Meinung von einer Religion haben, aber Angst vor einer Religion gibt es nicht. Am allerwenigsten kann man Angst vor einer Religion haben, die man nicht kennt.

Was die Hetzer, die mit diesem Wort Angst schüren, meinen, ist brutal: Hass gegen Muslime. Das sprechen die Rassisten nicht aus. Es könnte einen guten Richter auf die Idee bringen, sie wegen Volksverhetzung anzuklagen, da hier in Deutschland bereits vier Millionen Muslime leben. Deshalb tarnen die feigen professionellen Hetzer ihre Zielscheibe und nennen sie: Islam, wovon breite Schichten der Bevölkerung wenig Ahnung haben.

Selbstverständlich haben die Herren das Recht, sich frei zu äussern. Ich gehe weiter und sage: Dank der Freiheit des Wortes entlarven sich Rassisten in jeder Krise. Diese tiefsitzende Verachtung gegenüber einer Minderheit, die friedlich in diesem Land lebt und sich nicht wehren kann, ist einfach feige, und das wissen die Herren, und deshalb drücken sie sich verschroben aus. Wer verschroben spricht, hat etwas zu verbergen.  Und wenn ein Fremder die Stimme gegen sie erhebt, drehen  sie vollkommen durch und werfen ihm vor: Er sei gekränkt,  er schlage blind um sich. Der syrische Autor greife deutsche Intellektuelle an. Das erinnert mich an die Schlagzeile einer Boulevardzeitung in den achtziger Jahren: « Afrikanischer Löwe attackiert deutsche Forscherin». Aber diese ihre Äusserungen entlarven ihre Verachtung der Freiheit überhaupt, denn diese Salonprovokateure haben nicht die geringste Achtung vor der Freiheit, der Würde und dem Glauben von vier Millionen Muslimen hier in unserem Land.

Mein Prinzip ist sehr einfach: Solange ein Flüchtling, welcher Religion oder Ethnie er auch angehört, angegriffen wird, werde ich ihn und sein Recht auf Schutz verteidigen und seine Angreifer entlarven. Das tue ich, um der Freiheit würdig zu sein, die ich in diesem wunderbaren Land geniesse. Und dabei kann ich mit Vergnügen zeigen, wie klein diese Geister sind, die durch die Medien aufgeblasen wurden. Wer die Argumente der Hetzer hört und liest, erinnert sich nicht nur an die Beschreibungen der Kolonialisten und Orientalisten gegenüber den Völkern der arabisch-islamischen Welt, sondern auch sehr schnell an die Hetze der Nazis gegen Juden und Russen, die fast alles aus dem Vokabular der Antisemiten im 19. Jahrhundert übernommen haben. Diese moderne Variante nimmt sich die Muslime als Zielscheibe, weil deren Beschimpfung noch straffrei ist. Deshalb wurde sie salonfähig.

Verbrecher sind Verbrecher

Wie sehr sollte man bei einem Verbrechen, das ein Fremder  begeht, Rücksicht auf dessen Herkunft nehmen? Gar keine! Begeht ein Fremder ein Verbrechen, muss sich die Justiz des Falls annehmen – nicht die Lynchrichter. Nicht anders, als wenn ein Deutscher ein Verbrechen begeht. Punkt, Ende! Eine  Demokratie muss wehrhaft bleiben. Nur so schützt sie ihre freiheitliche Ordnung. Das bedeutet, mit aller Deutlichkeit  dafür einzutreten, dass hier nur ein Gesetz gilt: das Gesetz der Bundesrepublik Deutschland. Aber was helfen Gesetze und Verordnungen, wenn sie nicht angewandt werden? Eine Parallelgesellschaft, wie sie bereits in manchen europäischen Städten existiert, ist kein Beweis der Stärke der Kriminellen oder Salafisten, sondern ein Beweis der Laschheit, der Korruption von Polizei und Justiz.

Die Tarnkappe

Die professionellen Angstmacher gebrauchen die Islamophobie als Tarnkappe einer rassistischen Haltung. Der Zweck dieses Wortkonstrukts ist es, den Hass gegen den Fremden – neuerdings den Flüchtling, den Muslim – zu schüren. Unabhängig davon, ob dieser der ersten, der zweiten oder gar der dritten Generation von Einwanderern angehört oder seit fünfzig Jahren hier in Deutschland lebt und friedlich zur Zivilisation dieses Landes beiträgt, egal ob er in Gruben, am Fliessband, in der Gebäudereinigung arbeitet oder Häuser entwirft oder baut, hinter oder vor der Kamera steht oder singt, malt, komponiert oder erzählt, auf der Bühne oder am Patientenbett tätig ist.

Alle sind für den Hasser gesichtslose Muslime. Nun versetzen wir uns für nur fünf Minuten in die Seele eines friedlichen Menschen dieses Landes, der durch Zufall der muslimischen Minderheit angehört. Er bekommt nach all den Jahrzehnten die Ohrfeige der Diffamierung, ob durch eine dämliche Karikatur, die seinen Propheten mit einer Bombe im Turban darstellt, oder durch die Tiraden eines Thilo Sarrazin und von dessen Verteidigern Udo Ulfkotte und Peter Sloterdijk.

Durch die ständige Diffamierung der Muslime erhöhen die Hasser den Anteil der Muslime, die sich in diesem Land nicht akzeptiert fühlen. Es ist ein bitteres Gefühl, nach so vielen Jahren öffentlich diffamiert zu werden, ohne dass ein Richter Anklage gegen diejenigen erhebt, die die Hasstiraden von sich geben. Was bleibt einem isolierten Muslim, der nie Islamist war?

Einigelung, Desinteresse an der deutschen Gesellschaft und Bereitschaft zur Aufnahme eines fundamentalistischen Gedankenguts, das ihm ziemlich kühl und pseudorational nahebringt, warum die Deutschen ihn hassen. Die Kopftücher sind weniger ein Erfolg der Fundamentalisten als ein Misserfolg unserer Gesellschaft, diese Minderheit zu schützen und zu integrieren. Über zwanzig Jahre trugen die türkischen und arabischen Frauen in Deutschland kein oder nur selten ein Kopftuch. Nicht der Fremde ist schuld an der Fremdenfeindlichkeit, sondern die, die auf seine noch nicht begangenen Fehler spekulieren. Wir könnten von unseren muslimischen Bürgern grosse Unterstützung bekommen, wenn es darum geht, den Flüchtlingen, die hier Asyl bekommen, bei ihrer Integration behilflich zu sein. Aber nein, das ist den alten Hetzern zu kompliziert. Fremde raus! Das ist ihre simple Überzeugung. Beide, der Hasser der Muslime und der Antisemit, streben ein Ziel an: die Ausgrenzung einer heterogenen Gruppe aus der bedrohten guten Gesellschaft, als handelte es sich um eine böse Masse. Bei den Antisemiten diente der Talmud, bei den Hassern der Muslime dient der Koran als Zeuge der Boshaftigkeit.

Die verlogene Angst der Denker a. D.

Haben die Angstmacher Angst vor den Muslimen? Meine eindeutige Antwort lautet: nein. Nicht nur sie, die meisten Menschen fliegen in Länder, deren Bewohner mehrheitlich Muslime sind, Länder wie Ägypten, Albanien, Bahrain, Jordanien, Katar, Indonesien, Jemen, Syrien (vor dem Krieg), Malaysia, die Malediven, Marokko, Oman, Pakistan, Tunesien, die Türkei. Dort ist der Muslim Hausherr. In Europa nicht! Ich kenne viele deutsche Anarchisten a. D., Maoisten a. D., die kein Problem damit hatten und haben, bei arabischen Scheichs und muslimischen Diktaturen zu Gast zu sein. Die Hotels sind mit fünf Sternen versehen, Flug und Futter sind erstklassig. Einer dieser Intellektuellen rief, halb betrunken und um drei Kilo schwerer geworden, am siebten Tag: «Es ist alles schön hier, aber ich weiss nicht, warum ich da bin.» Solche Fragen entlarven mehr, als ihr Sprecher fürchtet: Charakterschwund. Der listige Ölscheich grinste. Sprach aber die Antwort nicht aus: Werbung für Dubai. Derselbe Intellektuelle sagt nun jedem, der Ohren hat, er habe Angst vor dem Islam.

Der Islam ist eine Religion und hat wie alle anderen Religionen mehrere Gesichter. Wer das nicht weiss, soll die Bibel gründlich lesen und sich bei Gelegenheit über Hexenprozesse, über Kreuzzüge und, wer noch Nerven hat, über die Untaten der christlichen Kolonialisten in Afrika, Asien und Lateinamerika informieren. Nein, Angst vor einer Religion kann ein Intellektueller nicht haben, sonst verdient er diese Bezeichnung nicht. Etwas anders empfinden die Herren am greisen Stammtisch. Sie empfinden Verachtung, die durch Überheblichkeit entsteht.  Sie entsteht in der Regel gegen Fremde aus armen Ländern, aus ehemaligen Kolonien.

Die Herabwürdigung der Geflüchteten

Verschwörungstheoretiker können einen zum Lachen bringen, wenn man die zweite Flasche Wein hinter sich gebracht hat. Im nüchternen Zustand erscheinen sie einem als Schwachsinnige, die hysterisch nach Wegen suchen, Juden für alles, was schiefgeht, verantwortlich zu machen, auch wenn die Kaida offiziell die Verantwortung für die Terroranschläge in New York am 11. September 2001 übernimmt. Seit den antisemitischen «Protokollen der Weisen von Zion» und bis heute enden neun von zehn Verschwörungstheorien antisemitisch. Nun hat der Autor Reinhard Jirgl aufgedeckt, dass die Flüchtlinge Teil einer Weltverschwörung seien – nicht von Wladimir Putin geleitet, auch nicht von Baschar al-Assad, sondern von den USA, deren Absicht es sei, «Europa weiter wirtschaftlich und politisch zu deregulieren». Und dass die Deutschen, «die Arglosen im Inland», fest im Griff der USA seien. Dieser abstruse Gedanke steht in Jirgls Artikel «Die Arglosen im Inland» (in «Tumult», Winter 2015/16). Seine Sprache und sein Inhalt erinnern mich sehr an die Reden der rechtsextremen Ideologen der Heimatvertriebenen in den siebziger Jahren. Und damit will er die Probleme im Jahre 2016 lösen!

Das ist nicht mehr Islamophobie. Das ist eine bedenkliche Überheblichkeit gegenüber den Deutschen, die in seinem Artikel schwachsinnig wirken, und gegenüber dem Leid von Millionen, die vor dem Bombenhagel geflüchtet sind und Hilfe brauchen. Seine Meinung, dies sei eine US-Verschwörung gegen Deutschland und Europa, ist für mich eindeutig antisemitisch. Ich vermute, Jirgl hat Udo Ulfkotte, einen Pegida-Anhänger und Verschwörungstheoretiker, verinnerlicht. Ulfkotte liefert in seinem Buch «Heiliger Krieg in Europa» ein Bild seiner bedenklichen Fantasien über einen «geheimen Plan zur Unterwanderung nichtmuslimischer Staaten». Lauter dunkle Mächte, die sich verschworen haben, Deutschland zu zerstören. Das ist die moderne Übersetzung der erfundenen «Protokolle der Weisen von Zion», aber auf Muslime umgemünzt. Braucht man noch mehr, um zu verstehen, wohin diese Herren wollen?

Herr Sloterdijk will den Islam reformieren

Natürlich ist das ironisch gemeint. Herr Sloterdijk kann nicht einmal sich selbst reformieren. Der Linke a. D., Bhagwan-Anhänger a. D., Prediger für Menschenselektion («Regeln für den Menschenpark») a. D., Wirtschaftsneoliberaler a. D. und jetzt für eine kurze Zeit, weil es Mode ist, Islamexperte, meint, der Islam sei «mit einem modernen Staat und einer modernen Gesellschaft nicht vereinbar» (kath.net). Wer das sagt, hat keine Ahnung von der Geschichte. Es ist ahistorisch. Es war derselbe Islam, der eine der schönsten Zivilisationen hervorgebracht hat. Die Gründe seiner Krise sind mannigfaltig, und Europa ist nicht unbeteiligt daran gewesen. Statt einer Analyse aber klopft Herr Sloterdijk wieder Sprüche. Geschichte und Forschung haben Hetzer nie interessiert. Nein, eine laut, weil hohl klingende Metapher ist schnell zur Hand. So schreibt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler: «Der Tanz der Metaphern, den dieser Typus des öffentlichen Intellektuellen aufgeführt hat, hat vor allem als Lernblockade gewirkt. Sloterdijk hat sich in allerhand Sprachbilder geflüchtet, um sich die Mühe zu ersparen, die einschlägige Forschung zur Kenntnis zu nehmen. So konnte er über alles reden, ohne Genaueres zu wissen.»

Aber woran liegt es, dass Wortführer so tief stürzen? Herfried Münkler gab im selben Artikel («Die Zeit» vom 12. März 2016) die Antwort: «Solange die Bundesrepublik ein Akteur ohne grössere politische Spielräume und ohne politische Handlungsmacht war, hat sie sich diesen Typus des öffentlichen Intellektuellen folgenlos leisten können. (…) Aber das ist vorbei, seitdem Deutschland zum zentralen Akteur der europäischen Politik geworden ist.»

Die alten Herren beschäftigen sich intensiver, fast wie Theologen, mit den Schwächen des Islam. Sie zeigen eifrig, welche Eigenschaften der Islam hat, die ihn daran hindern, hier in Europa anzukommen. Warum muss sich der Islam an Europa anpassen? Diese Angriffe von aussen triefen vor Überheblichkeit und können nur zu Gegenwehr führen. Diese Überheblichkeiten, kombiniert mit den Beleidigungen, die in ganz Europa gegen den Islam erlaubt sind, führen mit Sicherheit nicht zur Reform des Islam. Nein, eine Gesellschaft, eine Religionsgemeinschaft kann sich durch Angriffe von aussen nicht reformieren, sondern nur einigeln. Die Reform muss von innen kommen, und sie war, ist und wird immer schwer und mit grossen Opfern verbunden sein, und dies in allen Gesellschaften. Was wir tun können, ist, liberale Kräfte zu unterstützen und Geduld zu haben.

Die Chinesen kommen

Ich möchte niemandem Angst machen, aber mir scheint es an dieser Stelle angebracht, die Leserinnen und Leser darauf  aufmerksam zu machen, dass unsere Erde durch eine absurde Eigenschaft der Menschen auf ihr Ende zurast. Ich weiss, ich weiss, ich sage nichts Neues. Das wissen viele Wissenschaftler und ahnen noch viel mehr Leute, weil sie logisch denken. Eine dieser absurden Eigenschaften des Menschen ist, dass nichts auf der Welt ihn mehr befriedigt als Macht und Moneten. Kein Schwein denkt auch nur eine Sekunde daran, seine Lebensgrundlage zu zerstören, damit siebzig Schweine die Hälfte der Erde besitzen. Aber siebzig Männer tun das. Sie sind so dumm, dass sie sich nicht einmal fragen, was ihre Enkel und Urenkel erben werden: Schrott, Dreck, zerstörten Wald und ruinierte Flur, Krankheiten und Krieg, vor dem sich niemand mehr verstecken kann.

Das ist nun keine Propagandastunde, sondern die Einleitung zu einer inzwischen in Umlauf gekommenen Horrorvision von Natur- und Umweltkatastrophen. Ich vermute, der erste grosse Knall wird in China stattfinden. Das habe ich schon vor mehr als einem Jahrzehnt geschrieben. Denn dort wird so billig produziert, und das geht nur, wenn man auf die Natur nicht die geringste Rücksicht nimmt.

Also werden die nächsten Flüchtlinge Umweltflüchtlinge sein, womöglich in der Mehrheit Chinesen. Was wird Herr Sloterdijk auf seinem chinesischen Laptop schreiben, der ohne die arabische Null nicht hätte erfunden werden können? Dass Buddhismus und Taoismus nichts taugen und ungeeignet für die moderne Gesellschaft sind, dass die Chinesen sowieso bald zusammenklumpen und mit mafiösen Triaden eine Parallelgesellschaft aufbauen, die von den wohlhabenden alten Herren Jirgl, Strauss und Co. Schutzgelder erpresst? Und wie wird die zweite Chorstimme des Herrn Safranski in der «NZZ am Sonntag» singen? Dass die Chinesen gar keine Ahnung haben, wie man mit Christen lebt, dass sie geil auf Blondinen sind und dass sie Jagd auf Hunde machen werden, weil sie ja Hunde lieben … im Kochtopf?

Der Horrorkitsch

Unterwegs auf meiner Tournee durch Hunderte von Städten las und notierte ich viel über die sogenannte Flüchtlingskrise. Ich sah Plakate der rechten Alfa-Partei, auf denen ein dunkelhaariger, bärtiger Mann dabei ist, eine weisse Frau zu vergewaltigen. Dies ist die Bildübersetzung von Rüdiger Safranskis Aussage in der «NZZ am Sonntag»: «Die jungen Männer bringen ihr Machogehabe mit, bringen die Gewalt mit, was für alle schlimm ist, besonders aber für die Frauen.» Das ist Horrorkitsch!

Alte Herren kann man nicht aufklären. Beweist man ihnen die Falschheit einer ihrer Aussagen, ziehen sie das nächste Vorurteil aus der Westentasche, und wenn nichts bleibt, kommen sie mit der Geilheit der Fremden. Es ist ein Vorurteil, aber damit projizieren die alten Herren ihre Fantasien und ihre unterdrückten Wünsche auf den Fremden.

Integration ohne Illusion

Den Weg der Integration zusammen zu gehen ist nicht einfach, denn die Integration ist auch bei beiderseitigem gutem Willen noch lange kein Zuckerschlecken. Sie ist zäh und langfristig umgarnt von Problemen und gespickt mit Rückfällen. Sie verlangt von allen Beteiligten gute Nerven und eine solche Geduld, dass ein Kamel im Vergleich dazu hysterisch wirkt. Am Ende, vielleicht wenn unsere Urenkel das Sagen haben, wartet eine wunderbare Belohnung: eine bunte friedliche Gesellschaft. Wenn es klappt, werden sich meine Phosphate freuen und viele kleine Disteln düngen: Der Distelfink ist mein Liebling unter den Singvögeln. Und er ist wie die Flüchtlinge bedroht.

Sie, die behaupten, über Wissen zu verfügen, haben keinen Ratschlag für Politiker, für Helfer und schon gar nicht für Flüchtlinge. Nur dann wären sie, auch wenn sie sich irren sollten, in meinen Augen Intellektuelle. Nein, sie haben kein weises Wort, weder aus Vernunft noch aus Mitleid, geschweige denn aus Liebe. Vielmehr reagieren sie zynisch aus der Ferne ihres Stammtischs. Es ist eine merkwürdige Beobachtung, dass die Mehrheit dieser Stammtischverächter radikale Linke waren, und nun, wenn das Volk einmal seinen Willen zeigt, politisch aktiv und aus seiner Geschichte lernend humanistisch zu sein, werden die Westentasche-Stalinisten selbstgefällig und stinkig. Ihre Provinzialität zeigt sich in ihrer wortreichen Erstarrung und Feindseligkeit gegenüber fremden Kulturen.

Die Vernunft hat ihre Grenzen dort, wo sie zu Opportunismus und Zynismus verleitet. Und das ist nicht selten in Zeiten der Krise. Wirken kann nur die mutige Liebe, die kein Opfer scheut, die anderen gibt, ohne Grund und Berechnung, die es ermöglicht, Krisen zu überwinden, und eine Brücke über den Abgrund zwischen Wissen und Weisheit baut.

Warum ich eine besondere Antenne für Fremdenhasser habe

Ich bin in einer historischen doppelten Minderheit geboren: Aramäer unter den Arabern und Christ unter den Muslimen, und durch mein Exil bin ich in eine dritte moderne Minderheit geraten: fremd in Deutschland.

Der Angehörige einer Mehrheit (sagen wir ein katholischer Italiener oder ein sunnitischer Syrer), der ins Exil gerät, sei es als Gastarbeiter, Exilant oder Flüchtling, bleibt eine lange Zeit wie blind, wie verwirrt in der neuen Umgebung. Die Übung der Jahrtausende hat er nicht. Der Angehörige einer historischen Minderheit fühlt sich schneller ein. Er wird sich zum Beispiel nie mit Fremdenfeinden gegen die Fremden verbinden, es sei denn, sein Hirn hat sich in einen Haufen Kacke verwandelt. Meine Beobachtungen in 45 Jahren bestätigen das. Ich kenne einige traurige Fälle, deren Schilderung mich anwidert. Nicht die übertriebene Höflichkeit, sondern die Geschichte zwingt mich dazu, diejenigen Mehrheiten zu loben, die bei allen Problemen mit ihren Minderheiten gut umgegangen sind. Die Deutschen brauchen sich nicht zu verstecken. Seit über fünfzig Jahren leben sie zumindest friedlich mit ihren Minderheiten. Aber auch die muslimische Mehrheit in meinem Ursprungsland Syrien, die uns trotz 200 Jahre währender Kreuzzüge am Leben gelassen hat. Ich möchte, dass mir die Herren Sloterdijk, Safranski, Ulfkotte, Jirgl, Böckelmann und Co. ein christliches Gegenbeispiel zeigen. Sagen wir eine französische Minderheit, die den Ersten Weltkrieg in Deutschland überlebt hat. Na, es gibt sie nicht? Schwer zu finden? Ein deutsches Viertel in oder ein deutsches Dorf nahe Moskau oder Leningrad? Auch nicht?

Man muss nicht erst Herta Müller lesen, um zu erfahren, wie elend es den europäischen Minderheiten im und nach dem Krieg gegangen ist. Die Geschichte ist meine Zeugin.

Was lernt der Angehörige einer historischen Minderheit von Kindesbeinen an? Er lernt, dass ein Menschenhasser ist, wer Fremde hasst. Und davon bringt ihn keiner weg, auch wenn er mit dieser Meinung allein dasteht.

Rafik Schami

© 2016 Rafik Schami. Dieser Text ist ursprünglich am 2. April 2016 im «Kölner Stadt-­Anzeiger» erschienen.

Rafik Schami

Der syrisch-deutsche Autor Suheil Fadel (69) (das Pseudonym Rafik Schami steht für «Damaszener Freund») wurde als aramäischer Christ in Damaskus geboren. In den sechziger Jahren floh er nach Beirut, um der Einberufung in die Armee zu entgehen. 1971 wanderte er nach Deutschland aus und promovierte in Chemie. Danach wurde er freier Schriftsteller, schrieb auf Arabisch und Deutsch. Mit «Erzähler der Nacht» schaffte er 1989 den Durchbruch. Seither sind von ihm rund 35 Bücher erschienen, zuletzt «Sophia oder Der Anfang aller Geschichten» (2015). Rafik Schami meldet sich regelmässig als politischer Kommentator zu Wort.