«junge Welt»: Orthodoxie am Kiosk

Nr. 20 –

Die linke Berliner Tageszeitung expandiert in die Schweiz. Sie steht vor allem für einen antiimperialistischen Kurs, der links wie rechts gern gesehen wird.

Wer in letzter Zeit im Restaurant Silberkugel am Zürcher Bleicherweg zu Burger und Cola eingekehrt ist, konnte eine überraschende Entdeckung machen: ein Plakat der linken deutschen Tageszeitung «junge Welt» («jW»). «Sie lügen wie gedruckt. Wir drucken, wie sie lügen» war darauf zu lesen. Der Slogan ist alt, die Kampagne neu: 200 000 Euro hat sich die «jW» eine Reihe von Plakaten, Inseraten (auch in der WOZ) und Radiospots in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz kosten lassen. Das Ziel: mehr Abos im deutschsprachigen Süden.

Mit ihrer volkstümlichen Sehnsucht nach dem Realsozialismus der Vergangenheit und ihrem Fetisch für geopolitische Machttektonik will die einst auflagenstärkste Zeitung der DDR nicht so recht in die Gegenwart passen. Andererseits profitiert die «jW» von einem Revival jener Denkmuster: Die Abozahlen steigen, die Linke Presse Verlags-, Förderungs- und Beteiligungsgenossenschaft, der das Blatt mehrheitlich gehört, legt an Mitgliedern zu. Von dort kann die «jW» Kredite beziehen, mit denen sie Investitionen wie die aktuelle Werbekampagne tätigen kann. Derzeit hat die Genossenschaft 1832 Mitglieder, die zusammen 3266 Anteile zu je 500 Euro gezeichnet haben.

Der gemeinsame Feind verbindet

Mit fünfzig gedruckten und einigen Onlineabos ist die Bedeutung der «jW» auf dem Schweizer Markt marginal. Doch sie will mehr. Darum ist das Blatt seit April hier an über 200 Verkaufsstellen wie Kiosken und Supermärkten erhältlich. Auch die Berichterstattung zur Schweiz durch Freischaffende, die für ein bescheidenes Zeilenhonorar arbeiten, soll ausgebaut werden. Im Gespräch betont Geschäftsführer Dietmar Koschmieder, die Schweiz interessiere ihn auch inhaltlich. Als eine Art «Labor des Kapitalismus» nehme sie ökonomische Entwicklungen immer wieder vorweg. Doch in erster Linie trachtet er nach der zahlungskräftigen Schweizer LeserInnenschaft. Koschmieder, dem die nahezu alleinige Kontrolle über die Zeitung nachgesagt wird, sieht noch einiges an Potenzial für eine linke Tageszeitung wie die «jW»: «Die Leute merken, dass sie von der bürgerlichen Presse angelogen werden.» Und unter diesen Leuten seien nicht nur Linksradikale.

Tatsächlich wird das Blatt in Deutschland auch am ganz rechten Rand gelesen. So soll der Neonazi Ralf Wohlleben die «jW» während der NSU-Prozesse im Gerichtssaal gelesen haben; und der NPD-Kreisverband Jena bezeichnete sie als «eine der letzten aufrechten Printzeitungen in Deutschland». Natürlich kann sich eine Zeitung ihre LeserInnen nicht aussuchen. Was die «jW» für die Rechte aber interessant macht, ist ihr antiimperialistischer Kurs, der zu Verschwörungstheorien und Nationalismus neigt.

Niemand stand für diesen Kurs wie Werner Pirker, der langjährige aussenpolitische Meinungsmacher der Zeitung. Als Pirker 2014 verstarb, betrauerte ihn der zur politischen Rechten übergelaufene Jürgen Elsässer in einem Nachruf als «nationalen Kommunisten». Elsässer, der einst selber für die «jW» und andere linke Publikationen schrieb, ist heute Chefredaktor des rechtspopulistischen Magazins «Compact», zu dessen wichtigsten Anliegen die Verteidigung der deutschen Souveränität gegenüber dem «US-Imperium» gehört. Der gemeinsame Feind verbindet.

Die Spaltung

Unter dem Titel «Die personifizierte Antithese» wurden in einem Nachruf auf Pirker in der linken deutschen Zeitung «Jungle World», die 1997 als Abspaltung von der «jW» entstanden war, dessen haarsträubende Positionen aufgelistet: Den Terrorismus im Irak nach der US-Invasion von 2003 bezeichnete Pirker als Widerstand, den Protest gegen das iranische Regime von 2009 sah er als «konterrevolutionäre Revanche an der Islamischen Revolution als Emanzipationsprozess der Volksklassen», und als das Gaddafi-Regime 2011 ins Wanken geriet, trauerte er dessen «antiimperialistischer Mobilisierungsfähigkeit» nach.

Pirker und Koschmieder gehörten zu den wenigen, die dem einstigen Zentralorgan der DDR-Jugendorganisation FDJ die Treue hielten, als abtrünnige Redaktionsmitglieder 1997 in den Streik traten und die Redaktionsräume besetzten. Nach Koschmieders Versuch, die Zeitung wieder auf eine orthodoxe Linie zu bringen, brach der politische Konsens in der Redaktion auseinander. Aus der Streikzeitung, die der «taz» und dem «Neuen Deutschland» beigelegt wurde, entstand kurz darauf die «Jungle World». Die «jW», die nach dem Streik für eine Weile wieder mit ihrem Schriftzug aus DDR-Zeiten erschien, blieb als Bollwerk der orthodoxen Linken zurück.