Medientagebuch: Ganz unten im Ständer

Nr. 43 –

Die Tageszeitung «Neues Deutschland».

Sie erscheint täglich, flattert mir aber – der Post und ihres Privatisierungsfimmels wegen – verspätet ins Haus, meistens zwei oder drei Ausgaben auf einmal, jede liebevoll gefaltet, das Streifband mit Klebestreifen zusammengeklebt. Ausser von mir und gut 30 000 AbonnentInnen, fast alle in der ehemaligen DDR zu Hause, wird sie auch vom Verfassungsschutz und im Familienministerium gelesen, das ihre Berichterstattung für «teilweise linksextremistisch» hält. Sie hat, aus ihrer Zeit als Zentralorgan der SED, ein furchtbar schlechtes Renommee; in Westdeutschland zum Beispiel schauen die Leute pikiert, wenn ich ihnen von ihr vorschwärme, und an den Kiosken steckt sie ganz unten im Ständer, zusammen mit der «Jungen Welt», meiner anderen deutschen Lieblingszeitung; die Verkäuferinnen müssen immer erst nach dem Preis suchen, auswendig wissen sie ihn nicht.

Das «Neue Deutschland» («ND»), um das es hier geht, ist mir nicht wegen seiner aktuellen Nachrichten so lieb – für Neuigkeiten ist ohnehin die Modebranche zuständig oder die Werbeindustrie –, sondern weil es sich um das Übergangene und Vergessene kümmert: Arbeiterbewegung, Antifaschismus, Frauenfussball, gegenständliche Kunst, DDR-DissidentInnen und was aus ihnen geworden ist, Streiks und Demonstrationen in Halberstadt und auf der ganzen Welt. Wenig Ironie, wofür ich dankbar bin. Nur selten Sätze, die zu Sprachpartikeln zerhackt sind. Einen gibt es, Hans-Dieter Schütt, der ständig beweisen muss, dass er nicht mehr der Stalinist ist, der er einmal gewesen sein will, und genau weiss, wann eine Schauspielerin, die im DDR-«Polizeiruf» aus dem Jahr Schnee die Nichte des Hochstaplers gespielt hat, 85 wird; eine andere, Irmtraud Gutschke, die jede Rezensionsseite völkerverbindend ausrichtet; einen Dritten, Klaus Bellin, der mit grosser Eleganz an die Klassiker erinnert.

Das «ND» ist anspruchsvoll, hat aber keine intellektuelle, sondern – ihren Briefen nach zu schliessen – eine gebildete Leserschaft, zum Grossteil jenseits der sechzig, die Die Linke wählt (diese hält fünfzig Prozent der Anteile). Eine Parteizeitung also, wenn auch nicht deren Sprachrohr, samt allem, was dazugehört: Ratgeber, Reiseklub, Buchservice, Berlin-Wandertag und Geschichtenwettbewerb. An sich keine schlechten Voraussetzungen, um sich mit einem Stock an StammleserInnen zu behaupten.

Trotzdem kämpft das «ND» ums Überleben. Die Auflage ist in den letzten fünfzehn Jahren auf die Hälfte gesunken, einerseits aus biologischen Gründen (obwohl die alten GenossInnen, traut man den stets lesenswerten Todesanzeigen, häufig ein biblisches Alter erreichen), andererseits, weil die kulturelle Kolonisation das realsozialistische Erbe allmählich ausdünnt. Das Anzeigenaufkommen war immer schon minimal. Zudem hat sich in der Partei die Illusion verbreitet, es könne ihr gelingen, von den hegemonialen Medien ernst genommen zu werden. Dann bräuchte es das «ND» nicht mehr.

Die Zeitung hat ihrerseits eine Blattreform gestartet, um neue LeserInnenschichten zu gewinnen, aber bis auf eine magersüchtige Schrift und ein Herumschieben von Kolumnen ist nicht viel dabei herausgekommen. Sie sollte lieber ein bisschen stolzer sein, selbstbewusster, verlässlicher im Umgang mit freien MitarbeiterInnen. Und an ihrer Linie festhalten. Besser, als sozialistische Zeitung unterzugehen, denn sich als bürgerliche zu tarnen – und früher die Segel zu streichen.

Erich Hackl ist Schriftsteller und WOZ-Mitarbeiter in Wien.