Russische Revolution: «Friss Ananas, Bürger, und Haselhuhn!»

Nr. 19 –

Die Animationsfilmerin Katrin Rothe lässt aus Karton die Russische Revolution aufleben. Das Zürcher Animatorium zeigt das Making-of des Films «Der wahre Oktober».

Unterwegs dorthin, wo geschossen wird: Der Futurist Wladimir Majakowski. Still: Katrin Rothe

Wie nur erzählt man die komplizierte Geschichte der Russischen Revolution? Die Filmemacherin Katrin Rothe setzt auf einfaches Material. Mit Figuren aus Karton, die vor einem skizzenhaften Hintergrund auftreten, zeichnet sie die Ereignisse von der Februar- zur Oktoberrevolution in St. Petersburg nach. Es sind nicht die bekannten politischen Figuren, die am Anfang des Films aus den historischen Büchern fallen, die von der Regisseurin in ihrem Atelier zusammengetragen werden. Fünf KünstlerInnen gucken zwischen den Seiten hervor, spazieren in die Geschichte hinein und erzählen sie aus ihrer Perspektive.

Da ist die Lyrikerin Sinaida Hippius, die einen literarischen Salon betreibt, eine Grande Dame voll banger Sorge über den Aufstand der Strasse. Der Kunstkritiker Alexander Benois, in braunem Anzug und mit Nickelbrille, bleibt ebenfalls der bürgerlichen Welt verhaftet. Der Schriftsteller Maxim Gorki sympathisiert zwar mit der Revolution, zieht aber immer wieder skeptisch seine buschigen Augenbrauen hoch. Sein junger Kollege Wladimir Majakowski wiederum eilt begeistert durch die Strassen; begleitet vom Klang einer Beatbox, ist er unterwegs zu den Orten, wo geschossen wird. Und dann ist da noch Kasimir Malewitsch: Der Maler des radikalen «Schwarzen Quadrats» besteht selbst aus bunten, geometrischen Flächen, ein formvollendeter neuer Mensch.

Überfordert im Umbruch

Katrin Rothe gelingt es, die turbulenten Ereignisse nach dem Sturz des Zaren 1917 und die sich widerstreitenden Fraktionen in der Zeit der Parallelherrschaft von Parlament und Arbeiter- und Soldatenräten nachzuzeichnen. Sie erweckt die Kartonfiguren zum Leben, macht die Überforderung der Menschen deutlich, die Ereignisse zu verstehen, ihre Zerrissenheit zwischen einer alten und einer neuen Zeit: «Und zu guter Letzt können wir nicht verstehen, worum es eigentlich ging», meint Hippius an einer Stelle zu Benois. Auch die KünstlerInnen streiten über den richtigen Weg. In einem Kunstparlament soll erst eine Kommission zum Schutz der Denkmäler vergangener Zeiten eingesetzt werden. Sofort wird das Gegenteil gefordert: eine Kommission zur planmässigen Vernichtung der Kunst und der vergangenen Zeiten.

Die Filmerin lässt ihre Figuren Originalzitate sprechen. Das macht das Zuhören bisweilen anspruchsvoll, verleiht der Geschichte dafür umso mehr Tiefgang. Verhandelt werden die grossen Fragen von Krieg und Frieden. Benois als Pazifist: «Mehr denn je fühle ich mit meinem ganzen Wesen, dass es erforderlich ist, den Krieg zu beenden.» Die neu gewonnenen Freiheiten werden bewertet. Gorki zum 1. Mai: «Russland ist einen fantastischen Schritt vorwärtsgegangen und hat Europa hinter sich gelassen.» Und immer geht es um die Rolle der Kunst in der Revolution. Majakowski, der Futurist: «Genossen, wenn ihr wollt, dass eure Manifeste, Plakate und Banner mehr Aufmerksamkeit erregen, lasst euch von den Künstlern helfen.» Der Springinsfeld mit seiner wehenden, gelben Schleife um den Hals wird einem im Verlauf des Films mit seinen Frechheiten gegen die Obrigkeit immer sympathischer: «Friss Ananas, Bürger, und Haselhuhn, musst bald deinen letzten Seufzer tun!», heisst sein Lieblingsreim. Die Bolschewiken singen ihn, als sie das Winterpalais stürmen. Majakowski selbst wird als umstrittener Revolutionsdichter ein tragisches Ende finden.

Hunderte Wahrheiten

Katrin Rothe wird im Film immer wieder selbst sichtbar, wie sie als Erzählerin die Geschichte arrangiert. Zum Schluss verknüpft sie all die Schauplätze, die Ereignisse und Figuren, die sie in ihrem Atelier an einen Zeitstrahl gepinnt hat, mit einem roten Faden. Dann nimmt sie alles von der Wand und wischt die Schnipsel zusammen. «Ich wollte den wahren Oktober finden. Gefunden habe ich Hunderte Wahrheiten», konstatiert sie. Dass man als Betrachter mit den animierten Figuren mitfühlt, dass die Regisseurin gleichzeitig die Geschichte immer wieder als eine erzählte sichtbar macht, als eine mögliche Interpretation im umkämpften Feld der historischen Deutungen, macht die Klasse dieses Films aus.

Die Entstehungsgeschichte ist noch bis Ende Mai im Zürcher Animatorium zu besichtigen. In einem Ladenlokal im Niederdorf sind hier seit einem Jahr Ausstellungen rund um Animationsfilme zu sehen: eine unerwartete Nische in der geschäftigen Stadt. Ausgestellt sind die Kartonfiguren, die Scherenschnitte, die in «Der wahre Oktober» die Massen formen, und die Stadtpläne, die als Kulisse dienen. Bereitwillig erklärt einem Animatoriums-Betreiber Rolf Bächler anhand der Drehbücher, wie ein Animationsfilm entsteht. An einem Tag produzierte Katrin Rothe zwanzig Sekunden ihres abendfüllenden Films. Zu kaufen gibt es kleine Säckchen mit Kartonresten der Russischen Revolution. Ein passendes Souvenir: Die Spiegelgasse, von der Lenin einst loszog, liegt gleich ums Eck.

Der Film läuft bis am 25. Mai 2017 im Zürcher Kino Stüssihof sowie im Berner Kino Rex am Montag, 15. Mai 2017, um 18.30 Uhr und am Sonntag, 28. Mai 2017, um 10.30 Uhr.

Die Ausstellung im Animatorium an der Zürcher Leuengasse 15 ist bis am 27. Mai 2017 zu sehen. Mi–Fr 14–19 Uhr, Sa 12–17 Uhr.

Der wahre Oktober. Regie: Katrin Rothe. Deutschland/Schweiz 2016