Die Mär vom Generationenkonflikt: Die AHV nützt den Jungen

Nr. 26 –

Ich muss kurz persönlich werden, liebe Jungfreisinnige, geschätzter Arbeitgeberverband, sehr geehrte UBS. Ich bin 37 Jahre alt und gehöre gemäss dem Bundesamt für Sozialversicherungen zu den Jahrgängen, die am meisten für die Altersreform 2020 bezahlen werden. Wäre ich schon 44 Jahre alt, würde eine Besitzstandswahrung für die Renten gelten, und ich wäre fein raus.

Trotzdem lassen mich Ihre alarmistischen Warnungen vor dem Angriff auf den Generationenvertrag kalt, mit denen Sie in der Abstimmung Jung und Alt gegeneinander ausspielen. Offenbar haben Sie den Generationenvertrag nicht verstanden, ob unbewusst oder aus Geschäftsinteresse.

Um den Vertrag zu verstehen, geht man am besten ein paar Generationen zurück ins Jahr 1947. Damals wurde über die Einführung der AHV abgestimmt. Die Gewerkschaften drehten einen Werbefilm mit dem Titel «Lasst uns tapfer beginnen». Vom Pathos abgesehen, ist er unverändert aktuell, erklärt er doch das Wesen einer Sozialversicherung: Zu sehen sind alte Menschen, von denen damals vier Fünftel in Armut lebten, viele von ihnen mussten ihren Lebensabend in Bedürftigenheimen verbringen. An einer Stelle des Films, der sich übrigens im Netz findet, heisst es: «Bedürftige Menschen sind keine freien Menschen.»

Das ist der entscheidende Gedanke hinter jeder Sozialversicherung. Nur eine soziale Absicherung ermöglicht Freiheit. Zuerst einmal verschaffen die jüngeren den älteren Menschen die Freiheit, nicht auf Almosen angewiesen zu sein, sondern einen Rechtsanspruch auf eine Rente zu haben. Auch wenn sie für viele bis heute nur knapp für ein selbstständiges Leben reicht. Wie zum Beispiel für meine Grossmutter, deren Radius zuletzt mit dem Rollator bis zur Migros reichte. Aber sie war stolz auf ihre eigene Wohnung, schaute am Fernsehen Viktor Giacobbo und lachte über Christoph Blocher.

Der Generationenvertrag befreit aber auch die Jüngeren. Erst dadurch, dass wir nicht persönlich für das Auskommen der Eltern nach ihrer Pensionierung sorgen müssen, ist uns der individualisierte Lebensstil möglich, auf den niemand verzichten möchte. Falls das einige ob der neoliberalen Parolen von der Eigenverantwortung vergessen haben sollten: Hinter unseren Freiheiten stehen ausgeklügelte, soziale Sicherungssysteme mit überraschenden, intergenerationellen Effekten.

In meinem Freundes- und Bekanntenkreis folgt gerade ein Kind auf das nächste. Dabei zeigt sich, dass unser schöner Wirtschaftsstandort ohne die Betreuung der EnkelInnen durch Grosseltern sofort zusammenkrachen würde. Sichere Renten ermöglichen nämlich nicht nur ein Leben auf dem Golfplatz oder in Thailand. Weil die Grosseltern, ergänzend zu Kinderkrippen, bei der Betreuung der Enkel helfen, wird es Paaren mit kleinen Kindern häufig erst möglich, mehr oder weniger gleichberechtigt einer Arbeit nachzugehen. Statt Horrorszenarien von der Finanzierung der AHV zu zeichnen, würde die UBS in ihren Studien besser diese Alltagsökonomie beziffern.

Noch jede Prognose zum Bankrott der Altersvorsorge hat sich rückblickend als falsch erwiesen. Die AHV ist eben keine Wette auf die Zukunft, sondern ein Wirtschaftskreislauf in der Gegenwart, der sich im Austausch von Geld und Zeit abspielt. Die Renten der Pensionierten tragen über den Konsum zu den Löhnen der Werktätigen bei, die wiederum die AHV finanzieren. Sicher muss das System wegen der sich verändernden Demografie über die Jahre gelegentlich justiert werden, wie das jetzt mit der Altersreform 2020 geschieht. Dass die Lohnabhängigen leicht mehr bezahlen, weil die Altersvorsorge grösstenteils über Lohnprozente finanziert wird, ist nur logisch.

Die Rentenreform hat mit der Heraufsetzung des Frauenrentenalters einen hohen Preis. Aber sie hat auch ihre Stärken, weil sie die AHV ausbaut, die viel direkter als die Pensionskassen das Kapital im Wirtschaftskreislauf hält und es erst noch umverteilt. Sie trägt nicht zum Kampf zwischen den Generationen bei. Im Gegenteil: Die AHV stärkt die Solidarität zwischen Jung und Alt, den Ausgleich zwischen Arm und Reich.