Altersvorsorge: Das Geschäft mit der Angst

Nr. 35 –

Seit 25 Jahren wird die Finanzsituation der AHV systematisch schlechtgeredet. Wie begannen die Angriffe? Und was steckt dahinter?

Comic von Ruedi Widmer zur Altersvorsorge
Illustration: Ruedi Widmer

Schriller die Schlagzeilen nie klingen, als wenn es um die Zukunft der AHV geht: «Bald drohen wieder rote Zahlen», warnt die «Finanz und Wirtschaft», «Die AHV ist am Abgrund», weiss der «Nebelspalter». «Es sieht düster aus für die Jungen», heisst es beim «Limmattaler», «Trotz Reform noch Finanzlücke von 650 Milliarden», mahnt die NZZ. All die negativen Meldungen stammen aus diesem Jahr. Das Mantra, das beständig wiederholt wird: Immer weniger Jüngere bezahlen für immer mehr Ältere, die AHV wird an der demografischen Entwicklung noch zugrunde gehen.

Der mediale Alarmismus irritiert, wenn man sich die nüchternen Zahlen anschaut. Diese ergeben einen gänzlich anderen Schluss: Die Alters- und Hinterbliebenenversicherung AHV, die 1948 in Kraft trat, ist heute äusserst stabil finanziert. Das Umlageergebnis von den Beschäftigten zu den Rentner:innen – also die Einzahlungen minus die Ausgaben – lag 2021 um 880 Millionen Franken im Plus. Der AHV-Fonds, der die gesamten Rentenausgaben für ein Jahr sichern soll, lag auf einem Allzeithoch von fast 50 Milliarden Franken.

Bereits im Mai hatte das Bundesamt für Sozialversicherungen seine Finanzperspektiven für die AHV korrigiert. Frühestens im Jahr 2029 würde das Ergebnis ins Negative kippen: weit später als bisher angenommen. Angesichts der finanziellen Stabilität der AHV, eines Rekordergebnisses des AHV-Fonds und der Korrektur der Finanzperspektiven: Wie kann es sein, dass ihr Zustand in fast allen Medien und von den bürgerlichen Parteien derart negativ beschrieben wird? Wann war die Behauptung vom finanziellen Kollaps aufgrund der Demografie erstmals zu hören?

Mut zum Abbruch

SP-Ständerat Paul Rechsteiner gestaltet als amtsältester Parlamentarier die Sozialpolitik im Bundeshaus seit 1986 mit. Die Angriffe auf die AHV, erinnert er sich, hätten Mitte der neunziger Jahre mit dem Weissbuch «Mut zum Aufbruch» begonnen. «Man kann von einer eigentlichen Finanzierungslüge der Wirtschaftsverbände, Banken und Versicherungen sprechen. Die AHV wird systematisch schlechtgeredet, mittlerweile über ­Generationen.»

In ihrem Weissbuch stellten die Autoren aus Wirtschaft und Wissenschaft – eine reine Männergruppe – eine neoliberale Agenda für die Schweiz auf. Sie forderten Privatisierungen und griffen den Schweizer Sozialstaat frontal an. «Ein finanzieller Kollaps der AHV aufgrund des Wandels der Altersstruktur der Bevölkerung rückt in bedenkliche Nähe», heisst es im Buch. Es drohe eine «unerträg­liche, volkswirtschaftlich ruinöse Belastung der Arbeit mit Sozialabgaben». Die AHV mit der ersten Säule sei weitgehend durch die berufliche Vorsorge der zweiten Säule zu ersetzen.

Noch extremer waren die Forderungen von SVP-Parteichef Christoph Blocher und dem Finanzspekulanten Martin Ebner. Das Duo propagierte im Börsentaumel der Neunziger die Privatisierung der AHV und ihren Gang an die Börse. «Man stelle sich einmal vor, diese Stimmen hätten sich durchgesetzt», sagt Rechsteiner. «Die AHV hat sich in den letzten 25 Jahren als weit effizienter und stabiler erwiesen als die berufliche Vorsorge, wo heute die grossen Probleme der Altersvorsorge liegen.» Nur zwei Finanzierungshilfen für die AHV seien nötig gewesen: 1999 wurde ihr ein Mehrwertsteuerprozent zugeschlagen, 2020 wurden die Lohnprozente im Rahmen der Steuerreform STAF leicht erhöht, was sich in den aktuell sehr positiven Resultaten niederschlägt.

Prognosen fern der Realität

Zur Angstmacherei beigetragen hat auch die AHV-Prognostik. Über Jahre zielten die Prognosen des Bundes weit daneben, wie eine Zusammenstellung des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) zeigt: 1995 wurde für das Jahr 2020 ein Defizit bei der AHV von 8,3 Milliarden Franken prophezeit. 2005 war immer noch von 6,8 Milliarden die Rede, 2014 noch von 0,7 Milliarden. Das tatsächliche Resultat im Jahr 2020: ein Betriebsergebnis von plus 1,9 Milliarden.

«Entscheidend ist eben nicht das Verhältnis der Beschäftigten zu den Rentner:innen, sondern die Gesamtlohnsumme, aus der sich die Renten ergeben» sagt Gabriela Medici, die beim SGB für die Sozialversicherungen zuständig ist. Mit 400 Milliarden Franken jährlich ist die Gesamtlohnsumme derzeit so hoch wie nie. Als Gründe nennt Medici drei Faktoren: die Produktivität, die auch dank der technologischen Entwicklung gestiegen ist, die Frauenerwerbstätigkeit, deren Anteil stark zugenommen hat, und die Arbeit der Migrant:innen: Ihr immenser Beitrag an die AHV ist in der politischen Debatte weitgehend tabuisiert. Dass die Ausländer:innen zum Erfolg des Wirtschaftsstandorts beitragen, mag noch knapp gelten. Nicht aber, dass sie den Lebensabend der Schweizer:innen mit­finanzieren.

In seinen Prognosen habe das Bundesamt für Sozialversicherungen die drei Faktoren im Gegensatz zur Demografie lange unterschätzt, sagt Medici. Erst 2011 unter FDP-Innenminister Didier Burkhalter wurden sie stärker berücksichtigt. «Seither liegen die Schätzungen näher bei den tatsächlichen Ergebnissen. Doch noch immer sind sie konservativ und schwankungsanfällig.» Das zeigt sich auch bei der kommenden Abstimmung über die AHV 21 vom 25. September, mit der das Frauenrentenalter und die Mehrwertsteuer erhöht werden sollen. In der Botschaft zur Vorlage war von einem negativen Betriebs­ergebnis von 7,6 Milliarden Franken bis 2030 die Rede. Nun, im Abstimmungskampf, sollen es gerade noch 1,8 Milliarden sein.

«Das ist Volksverdummung»

Dass in Zukunft nochmals eine Finanzhilfe für die AHV nötig sein wird, möchte Gabriela Medici nicht in Abrede stellen. «Doch diese muss erst im kommenden Jahrzehnt greifen – und eine minime Erhöhung der Lohnprozente wird dabei weit effizienter sein als die jetzige Abstimmungsvorlage.» Das sieht auch Paul Rechsteiner so: «Wenn man in Rechnung stellt, dass die Zahl der Rentner:innen seit der Gründung der AHV um die Hälfte zugenommen hat, dann ist die Leistung des Sozialwerks phänomenal.» Das liege auch daran, dass die Rentenbeiträge auf dem gesamten Lohn erhoben werden, womit die Personen mit hohen Einkommen zur Solidarität verpflichtet werden. «Im europäischen Vergleich ist das ­einmalig.»

Was steht dann aber tatsächlich hinter dem Demografiemantra der Bürgerlichen und ihren dauernden Abbauplänen? Für Medici ist klar: «Die Altersvorsorge ist ein Business. Je stärker die Angst vor einem Kollaps der AHV geschürt wird, desto eher investieren die Leute in die private Vorsorge in der zweiten und der dritten Säule.». Rechsteiner verweist auf die vielen Auftragsstudien von UBS oder Credit Suisse, mit denen die Banken auf den Gesetzgebungsprozess Einfluss nehmen wollen: «Die Dauerpropaganda zielt darauf ab, dass alle besser für sich schauen sollen. Wenn man die Zahlen der AHV studiert, muss man aber sagen: Das ist schlicht Volksverdummung.»