Flucht aus der Türkei: «Wir wollten uns von der Angst befreien»

Nr. 14 –

Der Gewerkschafter Lami Özgen sass einst im türkischen Rat der Weisen, der den Konflikt mit den KurdInnen lösen sollte. Dann musste er fliehen.

Als Aktivist will Lami Özgen auch im Schweizer Exil weiterkämpfen. «Doch irgendwann glaubt man, den Boden unter den Füssen zu verlieren», sagt er.

Lami Özgen ist kaum wiederzuerkennen. Früher war der Gewerkschafter oft im türkischen Fernsehen. Zur Hauptsendezeit hat er die Rechte der ArbeiterInnen eingefordert und sich gegen die autoritären Tendenzen im Land ausgesprochen. Jetzt steht Özgen in den Räumen des kurdischen Vereins in St. Gallen und schaut kurdisches Fernsehen. Er sieht erschöpft aus.

Mitte 2017 musste er aus der Türkei fliehen, wie viele politisch engagierte Landsleute. «Ich wusste, dass mich mein Engagement in Gefahr bringen würde», sagt er. «Doch ich wollte für ein besseres Leben kämpfen.»

Gegen Rassismus, Krieg, Sexismus

Özgen wurde 1963 in Diyarbakir geboren. In der kurdischen Region herrschten Armut, Ungerechtigkeit und feudale Gesellschaftsstrukturen. Die Linke dominierte – unter Studentinnen, Arbeitern, selbst unter Polizisten und Soldaten. Özgen wurde angesteckt. Obwohl er aus armen Verhältnissen stammte, in denen Bildung als Luxus betrachtet wurde, wollte er die Welt verstehen. Und er wollte für eine gerechtere und freiere Gesellschaft kämpfen.

Am 12. September 1980 putschte das Militär. Eine katastrophale Niederlage für alle Oppositionellen. Bald fanden sich zwei Millionen Menschen auf schwarzen Listen wieder, auf denen das Militärregime DissidentInnen registrierte. Hunderttausende wurden verhaftet. Auch Özgen landete zum ersten Mal für ein paar Monate hinter Gittern.

Nach seiner Freilassung ging er nach Ankara, um zu studieren. Dort waren viele Bewegungen aktiv, es kam oft zu Konfrontationen mit der Staatsgewalt. Obwohl er das von früher her kannte, war die Situation hier eine andere: In Diyarbakir hatte er für seine kurdische Identität und gegen die Armut in der Region gekämpft. Die Leute, die in Ankara mit ihm auf die Strasse gingen, waren aber aufmüpfige Menschen unterschiedlichster Herkunft.

«Wir wollten uns von der Angst befreien, die wir verinnerlicht hatten», erinnert sich Özgen. Deswegen habe er 1989 eine Gewerkschaft für LehrerInnen mitgegründet – inzwischen unterrichtete er an einer Schule Biologie. «Ich wollte genauso die Rechte der Arbeiter wie diejenigen der Kurden verteidigen.» Er habe gemerkt, dass das derselbe Kampf sei. Deswegen sollte die Gewerkschaft nicht nur für ArbeiterInnen einstehen, sondern auch für die Demokratisierung des Landes, gegen Rassismus, Krieg und Sexismus und gegen jede Diskriminierung. «Unter diesen Schlagwörtern haben wir Gewerkschaften in vielen Bereichen gegründet – trotz der Drohungen seitens des Staats und trotz all der Verhaftungen.» 1994 entstand daraus die Kesk, der grösste gewerkschaftliche Dachverband des öffentlichen Diensts.

Friedensprozess einseitig beendet

2012 wurde Özgen erneut festgenommen. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Zuvor hatte er Präsident Recep Tayyip Erdogan immer wieder kritisiert, weil dieser im Osten einen Feldzug gegen die KurdInnen führte. «Wir haben als Kesk stets für eine friedliche Lösung des Konflikts geworben», sagt Özgen. Der Krieg habe Tausende Leben gefordert und enorm viel gekostet. Die Regierung reagierte mit Privatisierungen und Sparpolitik, was viele ihren Job kostete. «Für uns bedeutete diese Politik einen herben Rückschlag nach Jahren des gewerkschaftlichen Kampfs.»

Nach einigen Monaten wurde er wieder freigelassen und – überraschend – in den «Rat der Weisen» berufen, der die Regierung bei der Lösung des Kurdenkonflikts beraten sollte. «Ich sagte zu, weil ich jede noch so kleine Chance ergreifen wollte, um mitzuhelfen, das Blutvergiessen zu stoppen.» Er reiste viel in die Kurdengebiete. «Eines wurde mir schnell klar: Die Menschen wollten vor allem ein Ende des Kriegs.»

Als die kurdisch geprägte HDP 2015 bei den Wahlen unerwartet stark abschnitt, verschärfte Erdogan seine Politik. Schliesslich erklärte er den gesamten Friedensprozess für beendet. Zwei Jahre später wurde Özgen, damals Kovorsitzender der Kesk, zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt – der Terrorvorwurf gegen ihn war nie fallen gelassen worden. Noch im selben Monat flüchtete Özgen aus dem Land.

Özgen bereut nichts. Er versucht auch in der Schweiz, seinen Kampf fortzusetzen. Wenn man Erdogan nicht stoppe, glaubt er, werde sich der Krieg ausweiten. Über seine persönliche Situation im Exil redet er nur zögernd. Nur so viel: «Man fühlt sich wie ein Ball, der hin- und hergeworfen wird. Und irgendwann glaubt man, den Boden unter den Füssen zu verlieren.»