Türkei: «Recep Erdogan lässt sich von niemandem mehr etwas sagen»
Der Terror der vergangenen Wochen hat die Fronten in der Türkei weiter verhärtet. Wie es nach der Parlamentswahl von Sonntag weitergeht, ist ungewiss. Vielleicht zwingt der Staatspräsident das Land gar in eine dritte Wahlrunde.
Die erste Explosion habe sie niedergerissen, sagt Düzen. Als sie sich auf dem Boden liegend umsah, lagen Dutzende Leichen um sie herum. Dann die zweite Detonation. Am 10. Oktober sprengten sich in der Hauptstadt Ankara zwei Selbstmordattentäter in die Luft, mehr als hundert Menschen kamen ums Leben. Die 21-Jährige hat mit viel Glück überlebt. «Diese Regierung tötet uns», sagt sie immer und immer wieder. Dann weint sie hemmungslos.
In einem Klima tiefsten Misstrauens, geprägt von Angst und gegenseitigen Verdächtigungen, mit viel Blut und neuem Hass, müssen die BürgerInnen der Türkei am Sonntag abermals ein neues Parlament bestimmen. Nachdem am 7. Juni der Wahlerfolg der kurdischen Partei HDP die AKP-Alleinherrschaft beendet hatte, brach der Friedensprozess zwischen Ankara und der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zusammen. Seitdem gab es bei Gefechten zwischen türkischen Sicherheitskräften und kurdischen RebellInnen Hunderte von Toten. Kurdische Städte im Südosten der Türkei wurden abgesperrt, mancherorts herrschen dort bürgerkriegsähnliche Zustände. Innerhalb von fünf Monaten wurden drei Bombenanschläge auf Veranstaltungen verübt, die von kurdischen und linken AktivistInnen organisiert worden waren. Nach dem letzten grossen Anschlag rief die PKK eine Waffenruhe aus. Offiziell herrscht Frieden – doch die Gewalt dauert weiter an.
«Ich fühle mich nirgends sicher»
«Die Türkei ist gerade ein Land zwischen Bürgerkrieg, Paranoia und Hass», sagt Düzen in ihrem Istanbuler WG-Zimmer. Sie kommt aus Tunceli, einer kleinen kurdischen Provinz im Südosten des Landes. Die Kurdin, die zur eigenen Sicherheit nicht ihren vollen Namen preisgeben will, ist für ihr Jurastudium in die Bosporusmetropole gezogen. Sie sagt, sie sei ein politischer Mensch, schon immer gewesen. Ihre Grosseltern hätten 1937 und 1938 die Aufstände in der Provinz miterlebt, als Zehntausende KurdInnen von türkischen Sicherheitskräften umgebracht und rund 4000 kurdische Dörfer im Südosten der Türkei zerstört worden waren. Ihre Eltern hätten die «Politik der verbrannten Erde» überlebt, so Düzen. Die Geschichte ihrer Familie hat sich in ihr Gedächtnis eingebrannt.
Nach Ankara fuhr Düzen vor drei Wochen mit Freundinnen, sie alle haben überlebt. Geblieben ist einmal mehr die Gewissheit, dass der Staat nichts für die Sicherheit missliebiger BürgerInnen unternimmt. Laut einer Mitteilung der Ärztekammer von Ankara sollen einige der Opfer an den Folgen des polizeilichen Tränengaseinsatzes am Anschlagsort gestorben sein. «Wir lagen noch auf dem Boden, als das erste Tränengas versprüht wurde», bestätigt Düzen.
Was macht so ein Anschlag mit einer Überlebenden? Sie zuckt zusammen und sagt: «Jetzt darf ich mich von der wahnsinnig gewordenen Regierung nicht verrückt machen lassen.» Dann raucht sie die dritte Zigarette innerhalb von zwanzig Minuten. «Ich fühle mich nirgends mehr sicher», konstatiert die junge Frau. Erst am Wochenende haben türkische Medien Bilder von vier mutmasslichen Mitgliedern der Dschihadorganisation Islamischer Staat (IS) veröffentlicht, die im Land seien und Anschläge planten.
Erdogans «Cocktailtheorie»
In welche Richtung sich die Türkei nun bewegen wird, weiss auch Düzen nicht. Klar ist nur: Wer es wagt, Kritik an Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zu üben, lebt gefährlich. Erst letzte Woche sind mehr als zwei Jahre nach den Gezi-Protesten 244 DemonstrantInnen von damals zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Ein Gericht in Istanbul verhängte Strafen von bis zu vierzehn Monaten Haft gegen die Angeklagten, die Staatsanwaltschaft hatte bis zu zwölf Jahre Gefängnis verlangt. Ein vierzehnjähriger Schüler wurde in der zentraltürkischen Stadt Bünyan über Nacht von der Polizei in Gewahrsam genommen, weil er auf Facebook Erdogan kritisiert haben soll. Seit Erdogans Amtsantritt als Präsident vor vierzehn Monaten sind 236 Ermittlungsverfahren wegen «Präsidentenbeleidigung» eingeleitet worden. Dass Ministerpräsident Ahmet Davutoglu dieser Tage gütig von den Wahlplakaten blickt und darunter der Spruch steht: «Es gibt kein Du oder Ich, es gibt nur die Türkei», ist noch der beste Witz.
Ankara vermutet den IS hinter allen drei Anschlägen. Bisher hat sich die Organisation aber zu keinem der Attentate bekannt. Der Anschlag in Ankara sei ein «kollektiver Terrorakt» gewesen, verkündete Erdogan kürzlich. «Sie haben diese Tat gemeinsam geplant», sagte der Staatspräsident – und nannte den IS, die PKK, deren syrischen Ableger PYD sowie den syrischen Geheimdienstapparat als Drahtzieher. Dass sich der IS und die Kurden in Syrien bekriegen, wird in der AKP-Logik ausgeblendet, «Cocktailtheorie» spotten AKP-kritische Medien über diese Verdächtigung. Und viele KurdInnen sehen die Regierung selbst als Drahtzieher des Terrors. «Warum werden immer HDP-AnhängerInnen getroffen und nicht diejenigen der AKP?», lautet die immer wieder gestellte Frage. Klar ist, dass die Sicherheitskräfte und der Geheimdienst phänomenal versagt haben.
«Wem das nicht passt, der kann gehen»
Dengir Mir Mehmet Firat kennt sich mit den Kämpfen der Vergangenheit und der Gegenwart aus. Der freundliche 72-jährige HDP-Abgeordnete mit grauer, akkurat geschnittener Kurzhaarfrisur empfängt in seinem Büro in einem Wohnhaus in Ankara. Die Asche seiner Zigaretten lässt er während des Gesprächs die ganze Zeit auf den Boden fallen. Firat ist nicht irgendein Politiker: Von 2003 bis 2008 war er Vizechef der AKP. Und anders als etwa der Vorsitzende der sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, der ebenfalls kurdische Wurzeln hat, aber dieses Thema öffentlich meidet, setzt sich der Politveteran schon seit Beginn seiner politischen Karriere für eine Lösung der KurdInnenfrage ein. «Ich bin kein Türke, ich bin ein Kurde, der in der Türkei lebt», sagt er.
Firat kennt Erdogan seit Jahrzehnten, noch aus gemeinsamen Zeiten in der Fazilet Partisi (FP), einer islamisch-konservativen Partei, die 2001 vom Verfassungsgericht wegen «antilaizistischer Bestrebungen» verboten wurde. Gemeinsam mit anderen ehemaligen FP-Politikern gründete er 2001 die AKP. «Erdogan und ich waren nie Freunde. Aber er war mir gegenüber nie respektlos», sagt Firat knapp über das jetzige Staatsoberhaupt. Sein Kurdischsein war laut Firat auch nie ein Problem; die AKP sei immerhin die erste Partei gewesen, die die KurdInnenfrage in ihr Programm aufgenommen habe. Er habe lange Zeit Erdogans Reformversprechen geglaubt, sagt Firat: «Ich kann ja nicht in die Gehirne der Menschen schauen. Ich musste den Worten glauben.»
Eben weil er den Worten glaubt, trat Firat 2008 von seinem Amt als stellvertretender AKP-Vorsitzender zurück. Kurz zuvor hatte Erdogan vor kurdischen ZuhörerInnen darauf bestanden, die Türkei sei «eine Nation, eine Flagge, ein Staat». «Wem das nicht passt, der kann gehen», hatte der Politiker damals gesagt. Da sei ihm endgültig klar geworden, dass Erdogan kein Versöhner, sondern ein Spalter sei. Hätte er als AKP-Vize die KurdInnenpolitik nicht mehr beeinflussen können als jetzt? «Nein», sagt Firat. «Erdogan ist ein Führer. Irgendwann gab es kein Wir mehr, sondern nur noch ein Ich.»
Debatten seien unmöglich geworden, Erdogans Wort Gesetz. «Recep Erdogan lässt sich von niemandem mehr etwas sagen», so Firat. Er macht Erdogan für das Blutvergiessen der vergangenen Monate verantwortlich. Vor gut einem Jahr ist Firat der HDP beigetreten – nicht aus emotionalen, sondern aus pragmatischen Gründen. «Die HDP ist die einzige Partei, die der AKP Paroli bieten kann», sagt er und lässt wieder die Asche seiner Zigarette unter seinen Schreibtisch fallen.
In Richtung Diktatur
Aber das scheint nicht auszureichen. Denn trotz landesweiter Friedensdemonstrationen hat der Terror das Land nicht geeint. Vielmehr hat er die politischen Lager, Ethnien und Konfessionen weiter gegeneinander aufgebracht. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gezici glauben 28 Prozent der Befragten, dass die PKK hinter dem Attentat in Ankara stecke. 25,9 Prozent vermuten den IS und 10,1 Prozent die HDP hinter dem Anschlag.
Doch was passiert, wenn die AKP – wie in Umfragen vorhergesagt – erneut die absolute Mehrheit verfehlt? Sollte es nach den Wahlen wieder auf eine Koalition hinauslaufen, werde sich die HDP mit der AKP und der CHP an einen Tisch setzen, sagte kürzlich der HDP-Kovorsitzende Selahattin Demirtas. Bisher hatte die HDP eine Zusammenarbeit mit der islamisch-konservativen Regierungspartei immer konsequent abgelehnt. Doch dann kam der Terror.
Eine Koalition mit der ultranationalistischen MHP hat Demirtas weiterhin als «unmöglich» ausgeschlossen. Am wahrscheinlichsten wäre dann eine Koalition der AKP mit der CHP, sagt Sinan Ülgen vom Thinktank Zentrum für Wirtschafts- und Aussenpolitikstudien (Edam) in Istanbul. «Die grösste Ungewissheit ist, ob Erdogan diese Koalition akzeptiert oder das Land in eine dritte Wahlrunde zwingt – ein Szenario, das nicht ausgeschlossen werden kann.» Denn Ministerpräsident Davutoglu sagte kürzlich: «Bei Gott, hoffentlich müssen wir keine Koalition eingehen.»
«Ich glaube nicht, dass die AKP eine Alleinregierung stellen kann», sagt HDP-Politiker Firat. «Das Glas ist zerbrochen. Es gibt einfach zu viele Scherben.» Aber falls doch, «dann steuert die Türkei in Richtung Diktatur». Die Studentin Düzen weiss nicht mehr, woran sie glauben soll. «Was soll nur aus uns werden? Er will einfach nicht von der Macht lassen», sagt sie. Dann weint sie wieder.
Schweizer Wahlbeobachtung
Die prokurdische, linksoppositionelle HDP hat Organisationen aus ganz Europa eingeladen, die vorgezogenen Parlamentswahlen vom Sonntag zu beobachten. Die Partei errang beim letzten Wahlgang im Juni achtzig Parlamentssitze und beendete damit die Alleinherrschaft der AKP. Seither bekommen die UnterstützerInnen der HDP die staatliche Repression zu spüren.
Gemäss einer Medienmitteilung der Schweizer Delegationen sind über 200 EuropäerInnen zur Wahlbeobachtung in die umkämpften kurdischen Provinzen im Südosten des Landes gereist. Aus der Schweiz beteiligen sich zwei Delegationen mit insgesamt neunzehn Freiwilligen, darunter mehrere Kantonsräte, zwei ProfessorInnen und eine Wahlexpertin.
Ziel sei es, den Menschen Mut zu machen, trotz Einschüchterung auf ihrem Recht auf freie und faire Wahlen zu beharren.