Versicherungsspione: «Bei uns hat sich ein Mechanismus des Misstrauens festgesetzt»

Nr. 14 –

Der Basler Staatsrechtsprofessor Markus Schefer kritisiert die gesetzliche Grundlage zur Überwachung von Sozialversicherten deutlich. Das Parlament habe sich von Stereotypen leiten lassen und stelle die Rechtsgleichheit infrage.

«Wenn das Gesetz zur Abstimmung kommt, werde ich es auf jeden Fall ablehnen», sagt Rechtswissenschaftler Markus Schefer.

WOZ: Herr Schefer, vor der Beratung über die Observation von Sozialhilfeversicherten haben Sie mit drei Kolleginnen und Kollegen einen Brief ans Parlament geschrieben. Wie kam es zu dieser aussergewöhnlichen Intervention?
Markus Schefer: Letzten Herbst fand in Basel eine Tagung zu rechtlichen Fragen von Sozialversicherungen statt. Da lag der Entwurf des Gesetzes durch die ständerätliche Kommission bereits vor. Wir stellten fest, dass er schwerwiegende Probleme aufwirft, und beschlossen, etwas zusammen zu unternehmen. Wir schrieben dem Ständerat, später auch dem Nationalrat einen Brief. Es hätte viel zu sagen gegeben, aber wenn wir das Plenum überzeugen wollten, mussten wir uns beschränken: Der Schwerpunkt der beiden Briefe lag darauf, dass die Anordnung einer Observation von einem Richter überprüft werden müsse – besonders dann, wenn technische Hilfsmittel eingesetzt werden können.

Zumindest beim Einsatz von Hilfsmitteln hat das Parlament eine richterliche Überprüfung beschlossen. Sie waren also erfolgreich.
Minim, würde ich sagen.

Sie finden weiterhin, es bräuchte grundsätzlich eine richterliche Genehmigung für Observationen?
Auf alle Fälle, schliesslich sind auch die Versicherungen, die die Observationen durchführen lassen, Partei im Verfahren. Sie müssten ihren Verdacht gegenüber einem unabhängigen Dritten, einem Richter, belegen können. Das Problem beginnt aber schon früher.

Wo denn?
Bei der Frage, wer die Observation überhaupt anordnet. Ich begreife nicht, warum man nicht den traditionellen Weg genommen und die Überwachung im Strafrecht statt im Sozialversicherungsrecht geregelt hat. Schliesslich gibt es dort bereits den Straftatbestand des missbräuchlichen Bezugs von Sozialleistungen. Man hätte die Strafprozessordnung ändern und für diesen Tatbestand Überwachungen erlauben können. Dann wäre die Staatsanwaltschaft dafür zuständig, eine Observation anzuordnen. Und wir wären im üblichen rechtsstaatlichen Rahmen von Prozessen, die sich eingespielt haben, mit den entsprechenden Rechtsmitteln.

Nach dem neuen Gesetz ordnen ausgerechnet jene mit dem grössten Eigeninteresse die Observation an: die Versicherungen.
Es wäre besser, die Staatsanwaltschaft würde sie anordnen, weil es ihr Kerngeschäft ist, Straftaten aufzudecken. Auch wenn das nicht dem Wunsch der Versicherung entspräche, weil die Verfahren langwieriger würden.

Wie stehen Sie grundsätzlich zur Observation von Sozialversicherten?
Ich gehöre nicht zu denen, die finden, dass sie unter keinen Umständen infrage komme. Es kann in Einzelfällen über die Jahre um hohe Geldleistungen gehen. Wenn es einen klar begründeten Verdacht gibt, kann es durchaus gerechtfertigt sein, eine Person auf öffentlichem Grund zu observieren. Aber man muss die Überwachung auf schwerwiegende Fälle beschränken, bei denen effektiv ein klar begründeter Verdacht besteht.

Das neue Gesetz geht viel weiter. Können Sie kurz erklären, wer alles überwacht werden und wie weit die Observation gehen kann?
Die Möglichkeit, zu observieren, wird auf Bereiche ausgedehnt, wo gar kein Problem besteht. Sie gilt für alle Sozialversicherungen, von der IV über die Krankenkassen bis hin zur AHV-Hilflosenentschädigung. Observiert werden darf auf dem öffentlichen Grund und an Orten, die man vom öffentlichen Grund aus einsehen kann.

Beispielsweise Balkone.
Das offensichtlichste Beispiel sind Balkone, aber wenn sie eine moderne Wohnüberbauung mit grossen Fenstern haben, darf man gemäss dem Wortlaut des Gesetzes auch dort hineinschauen. Der Nachrichtendienst oder die Staatsanwaltschaft bräuchten dafür eine richterliche Genehmigung. Das kann nicht sein. Wenn die Sozialversicherungen, bei denen es um Geld geht, mehr Kompetenzen haben als ein Nachrichtendienst, der vor Terrorismus schützen muss, oder die Staatsanwaltschaft, die einen Mörder finden muss, besteht ein Wertungswiderspruch.

Sie sagen, die Überwachung sei am falschen Ort geregelt, sie betreffe zu viele und gehe zu weit. Wie entstand diese Schieflage?
Das Parlament hat meiner Meinung nach zu stark emotional getrieben gearbeitet.

Woher kommt diese Emotionalität?
Vor rund fünfzehn Jahren wurde das Zerrbild des «Sozialschmarotzers» geschaffen. Aufgrund von Einzelfällen schuf man ein bestimmtes Stereotyp, und jetzt werden ganze Gruppen negativ betrachtet.

Warum liess sich eine Mehrheit des Parlaments von Stereotypen leiten?
Diskussionen wie die um «Sozialschmarotzer» hinterlassen Spuren, in der öffentlichen Auseinandersetzung und in der individuellen Wahrnehmung. Wie schaue ich solche Leute an? Was kommt mir als Erstes in den Sinn, wenn ich an einen IV-Bezüger denke? Da hat sich in den letzten eineinhalb Jahrzehnten ein Mechanismus des Misstrauens in unseren Köpfen festgesetzt: «Hm, da müssen wir aber genau hinschauen!»

Kann man sagen, dass die ganze Missbrauchsdebatte, die die SVP Anfang der nuller Jahre anzettelte, inzwischen das ganze System beschädigt hat? Dass sie völlig aus dem Ruder gelaufen ist?
Ursprünglich wurde durchaus ein Problem thematisiert: Es gibt schliesslich Sozialversicherungsbetrug. Und man muss solchen im Rahmen der Verhältnismässigkeit verhindern. Das Parlament hat nun aber jedes Mass verloren. Man hat ein Problem herausgelöst, isoliert betrachtet und in fast perfektionistischer Weise beheben wollen. Die Grundidee unserer Rechtsordnung aber ist die Verallgemeinerung. Es geht darum, Regeln für unser Zusammenleben aufzustellen, von denen jeder wollen kann, dass sie auch für ihn gelten. Diese Verallgemeinerung und Abwägung ist hier nicht passiert. Die Überwachung ist zudem nur sachspezifisch gelöst: Sie gilt nur für die Sozialversicherungsleistungen, nicht beispielsweise bei den Subventionen oder bei den Steuern.

Bürgerliche Politiker wie CVP-Präsident Gerhard Pfister argumentieren, es sei ein anderer Fall, ob jemand Geld vom Staat beziehe oder diesem Geld nicht bezahle.
Es ist die gleiche Rechtsordnung, die mir einen Anspruch auf Sozialleistungen gibt und mich dazu verpflichtet, Steuern zu bezahlen. Wie kann ich rechtfertigen, dass die rechtlichen Bestimmungen, die mich verpflichten, dem Staat etwas abzugeben, anders durchgesetzt werden als die Bestimmungen, die mir einen Anspruch auf eine staatliche Leistung geben? Hinter Pfisters Gedanke schimmert die Vorstellung durch, der Anspruch des Leistungsbezügers sei rechtlich weniger bindend als die Verpflichtung des Steuerzahlers. Dem ist nicht so.

Die Überwachung von Bedürftigen ist also politisch motiviert.
Ja, denn die unterschiedliche Wertung folgt einem Vorurteil: Die, die etwas vom Staat bekommen, sollen gefälligst dankbar sein. Bei den Steuern hingegen erscheint der Staat als eigentliches Problem. Doch das ist kein durchdachtes Staatsverständnis. Letztlich geht es in beiden Fällen darum, rechtliche Verbindlichkeiten durchzusetzen. Der Sozialversicherungsbetrüger steht moralisch nicht schlechter da als ein Steuerpflichtiger, der betrügt. Beide tun genau dasselbe: Sie maximieren ihren persönlichen Vorteil auf Kosten der Allgemeinheit.

Letzte Woche wurde das Referendum gegen das neue Gesetz lanciert. Die GegnerInnen argumentieren, alle könnten von der Überwachung betroffen sein. Teilen Sie diese Sicht?
Weil die Vorlage so breit angelegt ist, kann man das Argument tatsächlich so bringen. In der Praxis werden zwar längst nicht alle Individuen betroffen sein, als Staatsbürger geht uns das Gesetz aber alle an. Im Raum steht die Frage, wie wir uns eine offene und freie Gesellschaft vorstellen: Was bedeutet es, wenn Sozialversicherungsbezüger einer intensiveren Überwachung ausgesetzt werden als alle anderen? Und wenn plötzlich private Firmen beginnen, Observationen zu machen? Wir schaffen in unserer Gesellschaft zunehmend private Einheiten, die auf Überwachung spezialisiert sind und die niemand mit der nötigen Stringenz kontrolliert.

Werden Sie das Referendum unterstützen?
Wenn es zur Abstimmung kommt, werde ich das Gesetz auf jeden Fall ablehnen. Die Frage, ob es politisch klug ist, das Referendum zu ergreifen, ist schwieriger zu beantworten.

Weshalb?
Das Grundproblem des Referendums ist in diesem Fall, dass man mit Grundrechten argumentiert. Diese sind stark darauf ausgerichtet, Minderheiten zu schützen. Das Referendum ist aber natürlich ein Mehrheitsinstrument. Damit eine Minderheit schützen zu wollen, ist schon rein strukturell schwierig.

Sie raten also dazu, auf ein Referendum zu verzichten?
Nein. Das Positive eines Referendums ist die Intensivierung des politischen Diskurses. Man führt eine intensive Debatte, es wird auf alle Seiten argumentiert. Das kann der Materie nur nützen, unabhängig vom Erfolg des Referendums an der Urne.

Der Verfassungsrechtler

Markus Schefer wuchs in Teufen in Appenzell Ausserrhoden auf, studierte Rechtswissenschaft in Bern und lehrt seit 2001 an der Universität Basel.

Der 53-Jährige hat sich unter anderem auf vergleichendes Staatsrecht, Verfassungstheorie und juristische Methodenlehre spezialisiert. Seine Lehrtätigkeit führte Schefer immer wieder ins Ausland, so in die USA, nach Indien und Südafrika.

Referendum startet

Sie suchten 5000 UnterstützerInnen, innert einer Woche waren es über 10 000: Die Kampagne gegen Versicherungsspione der Schriftstellerin Sybille Berg, des Anwalts Philip Stolkin sowie der Campaigner Dimitri Rougy und Daniel Graf ist überaus erfolgreich gestartet.

Diesen Donnerstag um 10.15 Uhr wird das Referendum gegen das Observationsgesetz auf dem Berner Waisenhausplatz öffentlich lanciert. Unterschriftenbögen gibt es auf pledge.wecollect.ch .