Landesstreik: Ein diabolischer Plan zur Terrorisierung der Schweiz?

Nr. 47 –

Ein Antibolschewist verbreitet Fake News: Wie der Journalist Serge Persky mit seiner Verschwörungspropaganda die öffentliche Meinung zum Landesstreik manipulierte – und so die historische Erinnerung über Jahrzehnte prägte.

Stark im Ausdruck, schwach in Geografie: Plakat der CSP für die Nationalratswahlen im Oktober 1919 im Kanton Luzern. ZHB Luzern, Sondersammlung

Der schweizerische Landesstreik von 1918, so ist sich die historische Forschung heute einig, bildete den Höhepunkt einer fatalen Verquickung von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Spannungen, die sich im Lauf des Ersten Weltkriegs zwischen der ArbeiterInnenschaft und den bäuerlich-bürgerlichen Bevölkerungsschichten aufgestaut hatten. Der Streik, der keine revolutionäre Aktion, sondern eine mit reformistischen Forderungen verknüpfte Protestbewegung war, wurde in der Folge stark umgedeutet und erhielt eine gänzlich andere Dimension.

Massgeblichen Anteil daran hatte der russisch-französische Publizist und glühende Antibolschewist Serge Persky (vgl. «Die Machenschaften des umtriebigen Monsieur Persky» ), der mit seinen Artikeln in der «Gazette de Lausanne» die öffentliche Meinung in der Schweiz vor und nach dem Landesstreik gezielt manipulierte. Mit der Enthüllung von angeblichen bolschewistischen Geheimdokumenten, die er nie im Original vorlegen konnte, trug er dazu bei, dass der Landesstreik in der öffentlichen Wahrnehmung und in der historischen Erinnerung auf Jahrzehnte hinaus verfälscht blieb – mit verhängnisvollen politischen Folgen.

Ferngesteuert aus Moskau?

«Es kann heute keinem Zweifel mehr unterliegen, dass dem Landesstreik vom November 1918 revolutionäre Absichten zugrunde lagen und dass es sich um eine nach einheitlichem internationalen Plane geleitete Bewegung handelte.» Mit diesen Worten blickte der katholisch-konservative Schwyzer Ständerat Joseph Räber 1921 auf den Landesstreik zurück. Ins gleiche Horn blies wenig später der Berner Nationalrat Friedrich Michel von der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerfraktion. Auch er sah im Landesstreik das Ergebnis einer bolschewistischen Verschwörung.

Für Michel war klar, dass es sich beim Landesstreik nicht um einen wirtschaftlichen Streik mit reformistischen Zielen gehandelt hatte, «sondern um einen politischen Streik, der nach dem berühmten, in Moskau aufgestellten Plan zum förmlichen Bürgerkrieg überleiten sollte.» In diesem Sinne hatte sich im bürgerlichen Spektrum der öffentlichen Meinung in kurzer Zeit ein Revolutionsnarrativ herausgebildet, das bis zur Öffnung der Aktenbestände im Schweizerischen Bundesarchiv im Jahr 1968 die bürgerliche Erinnerung an den Landesstreik dominieren sollte.

Liest man die beiden Zitate mit den Thesen des US-Politikwissenschaftlers Michael Barkun, wird deutlich, wie stark dieses Revolutionsnarrativ von verschwörungstheoretischen Elementen durchdrungen war. Barkun hat in seinem Buch «A Culture of Conspiracy» (2013) drei Charakteristika definiert, die für Verschwörungstheorien konstitutiv sind. Demzufolge geschieht erstens nichts durch Zufall, zweitens ist nichts, wie es scheint, und drittens ist alles miteinander verbunden. So war der Landesstreik sowohl für Ständerat Räber als auch für Nationalrat Michel kein Ergebnis zufälliger Ereignisse, sondern von langer Hand geplant. Zudem stellte der Streik für sie ein gigantisches Täuschungsmanöver dar, dem gänzlich andere Ziele zugrunde lagen als jene, die das Oltener Aktionskomitee (OAK) in seinen Forderungen formuliert hatte.

Schlau gestellte Falle!

Das Gefühl der Täuschung war bereits zur Zeit des Landesstreiks verbreitet gewesen. So vertrat der Schweizerische Bauernverband die Haltung, die im Rahmen des Streiks propagierten sozialen, wirtschaftlichen und politischen Forderungen seien ein blosser Köder gewesen, um die Arbeitermassen zum Umsturz, dem wahren Ziel, zu verführen: «Wir hoffen, dass ein grosser Teil der Arbeiterschaft die Gefahren und die ihnen schlau gestellte Falle erkennen wird. Man spricht von Generalstreik und meint Revolution.» Dieses Empfinden teilte auch der spätere NZZ-Chefredaktor und FDP-Nationalrat Willy Bretscher. In einem Buch zur sozialistischen Bewegung in der Schweiz vertrat er 1923 die Ansicht, dass die Forderungen «der revolutionären Bewegung eine unverfänglichere Etikette, etwa die einer Aktion zur Beschleunigung der Sozialreform, umhängen» sollten.

Zum dritten Punkt schliesslich, wonach alles miteinander verbunden war: Die Geschehnisse folgten angeblich einem Masterplan aus Moskau und standen in direkter Verbindung mit den revolutionären Ereignissen im Ausland. Die These von Ständerat Räber, wonach der Landesstreik Teil einer «nach einheitlichem internationalen Plane» geleiteten Bewegung war, wurde vor allem dadurch glaubhaft, dass in den besiegten Nachbarländern Deutschland und Österreich-Ungarn fast zeitgleich die Monarchien zusammen- und Revolutionen ausbrachen.

Leichtes Spiel für Gerüchte

Als im November 1918 der Erste Weltkrieg endete, genoss Verschwörungsdenken in weiten Teilen der europäischen Bevölkerung grosse Konjunktur. Vier Jahre Kriegspropaganda hatten ihre Wirkung nicht verfehlt und eine verzerrte, instabile Nachrichten- und Informationslage hinterlassen, in der Gerüchte und Verschwörungstheorien leichtes Spiel hatten. Besonders vor dem Hintergrund der russischen Oktoberrevolution erlebte der Konspirationismus eine Blütezeit. Die Machtübernahme Lenins und der Bolschewiki löste in weiten Teilen Europas Ängste vor einer bevorstehenden Weltrevolution aus. Auch in der Schweiz, wo Lenin bis 1917 im Exil lebte, kursierten am Ende des Ersten Weltkriegs Gerüchte über – mit unermesslichen finanziellen Mitteln ausgestattete – bolschewistische Geheimzellen und Tarnorganisationen, die nur auf eine Gelegenheit lauerten, um die Revolution auszulösen.

In dieser Krisenphase gelang es Serge Persky, mit seinen Falschmeldungen in der «Gazette de Lausanne» die künftige Beurteilung des Landesstreiks zu beeinflussen. Persky nahm die vorhandenen Ängste und Gerüchte systematisch auf und verknüpfte sie zu Verschwörungsnarrativen, die bei der Bevölkerung verfingen. In einem Artikel mit der Überschrift «Pour terroriser le monde» berichtete er am 29. Oktober 1918 von bolschewistischen Geheimplänen, die Streiks, Unruhen und Attentate in mehreren westeuropäischen Ländern – darunter auch die Schweiz – als Vorbereitung zur Revolution vorsahen. Die Schweiz sollte dabei als Vorposten zur Revolutionierung Europas dienen. Zudem sollten in einem kommenden Generalstreik Sprengstoffanschläge in Zürich, Bern, Genf und Lausanne verübt werden. Angeblich standen den bolschewistischen Verschwörern 300 bis 400 Millionen Rubel zur Verfügung.

Alarm bis in höchste Kreise

Diese Fake News zogen für die Schweiz diplomatische Konsequenzen nach sich. So meldete Lord Acton, der britische Generalkonsul in Zürich, den Inhalt als glaubhaft nach London weiter. Einem «Memorandum on Switzerland as a Bolshevik Centre» des britischen Nachrichtendienstes ist zu entnehmen, dass die Schweiz schon länger als potenzielle Operationsbasis Lenins beobachtet wurde. Der französische Botschafter in Bern, Paul Dutasta, setzte den Bundesrat in der Folge unter Druck und forderte Massnahmen gegen die bolschewistischen Umtriebe.

Persky war es damit gelungen, die Gerüchteküche weiter anzuheizen. Aus einem Protokoll des Bundesrats vom 12. November 1918 geht hervor, dass der verhängnisvolle Artikel vom 29. Oktober 1918 als einer von mehreren Anhaltspunkten dafür angeführt wurde, dass «ein Unternehmen zum gewaltsamen Umsturz der Bundesverfassung» geplant war. Der Beschluss zur Ausweisung der Sowjetmission in Bern, das vom Bundesrat verfügte präventive Truppenaufgebot gegen den irrtümlich erwarteten Umsturz sowie der bald darauf einsetzende Landesstreik schienen Persky recht zu geben. Bereits am Tag nach dem Streikabbruch wurden dessen bisherige Artikel in der «Gazette de Lausanne» als «prophetisch» gewürdigt.

Persky legt nach

Persky agitierte in der Folge weiter und landete seinen grössten Coup mit einem Artikel vom 23. April 1919. Schlagzeile: «Le plan de terrorisme en Suisse». Indem er einen angeblichen 15-Punkte-Plan mit Instruktionen zur Revolutionierung der Schweiz aufdeckte, schien er ein Beweismittel in der Hand zu haben, das Moskaus Verstrickung in den schweizerischen Landesstreik erhärtete. Laut Persky war der Revolutionsplan wenige Tage vor dem Landesstreik über den sowjetischen Gesandten in Berlin an die Sowjetmission in Bern gelangt. Nach gelungenem Umsturz hätte diese die Schweizer SozialistInnen instruieren sollen. Unter dem als Diktator eingesetzten Kommunisten Karl Radek wäre die Schweiz als Sowjetrepublik proklamiert worden. Mindestens 2000 Angehörige der bürgerlichen Führungsschicht wären als Geiseln genommen und GegnerInnen der Revolution hingerichtet worden.

Der Artikel, der in der Folge wie ein Lauffeuer durch die Schweizer Medienlandschaft ging, wurde in der sozialdemokratischen Presse heftig kritisiert, von den bürgerlichen Zeitungen jedoch in der Mehrheit als glaubwürdig dargestellt. Ein Kommentar der «Basler Nachrichten» zeugt von der Bestürzung, mit der die bürgerliche Presse auf die scheinbaren Enthüllungen reagierte: «Wer in der Schweiz würde nicht schaudern, wenn er diesen diabolischen Plan zur Terrorisierung unseres Landes liest, und wer würde Persky nicht beipflichten, dass die Schweiz allen Anlass hat, gegen weitere bolschewistische Umtriebe auf der Hut zu sein?» Der Verfasser sah damit den Beweis dafür erbracht, «dass Lenin und Konsorten einen Plan zur Terrorisierung der Schweiz bereit hatten und dass es vielleicht nur dem Scheitern des Generalstreiks zu verdanken ist, dass seine Ausführung nicht versucht wurde».

Die sogenannten Persky-Dokumente wurden in der Folge rege tradiert, obwohl ihre Existenz nie bewiesen wurde. Im antikommunistischen Propagandafilm «Die Rote Pest» von 1938, dem radikalsten Hetzfilm der Schweizer Filmgeschichte, schaffte es der fingierte Revolutionsplan sogar auf die Kinoleinwand. Perskys Fake News von 1918/19 fanden auch Eingang in die Geschichtsschreibung zum Landesstreik und wurden noch 1970 ein letztes Mal im Sinne einer historischen Quelle publiziert. Der Historiker Willi Gautschi, der in seiner 1968 erschienenen Monografie zum Landesstreik das lange tradierte Revolutionsnarrativ auf überzeugende Weise entkräften konnte, schrieb sogar noch 1981, dass die Persky-Dokumente «jahrzehntelang das Geschichtsbild des Landesstreiks beeinflusst» hätten und sich «bis heute deutliche Spuren davon nachweisen» liessen.

Aus neuen Quellen geht nun hervor, dass Persky selber von Verschwörungsängsten durchdrungen war und mit über 170 antibolschewistischen Artikeln, die er in mehreren Ländern veröffentlichte, gezielt versuchte, die internationale öffentliche Meinung gegen das junge Sowjetregime aufzubringen und dieses zu diskreditieren. In diesem Kontext ist auch seine Berichterstattung in der «Gazette de Lausanne» zu betrachten, mit der er die öffentliche Meinung in der Schweiz manipulierte. Gegenüber dem französischen Militärattaché in Bern, für den er als Informant tätig war, offenbarte Persky 1919, dass er einen «unerbittlichen Kampf gegen den Bolschewismus» führe. Seine Artikel bezeichnete er dabei unverhohlen als «Kampfmittel».

Die verfälschte Deutung des Landesstreiks, zu der Serge Persky beigetragen hat, fiel in einer Phase der allgemeinen Verunsicherung auf fruchtbaren Boden. Indem die Ursachen des Streiks in einer Verschwörung gefunden schienen, wurden die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gründe des Streiks teilweise verdrängt. Wichtige sozialpolitische Reformen – so etwa die Einführung einer AHV – wurden jahrzehntelang verschleppt, während der vermeintlich revolutionäre Landesstreik als Legitimationsgrundlage für verschärfte Staatsschutzmassnahmen diente. Die Verschwörungsgerüchte im Vorfeld des Streiks hatten zudem bereits als Legitimationsinstrument zur Ausweisung der Sowjetmission in Bern und zum präventiven Militäraufgebot gegen den befürchteten Umsturzversuch gedient.

Die Schweiz wird gesäubert

Die verzerrte Wahrnehmung des Ereignisses trug in der Folge wesentlich zu einer verschärften Ausländerpolitik bei und befeuerte den schweizerischen Antikommunismus. Bereits während des Landesstreiks hatte sich eine reaktionäre Bürgerwehrszene formiert, für die der angebliche Revolutionsversuch fortan als Gründungsmythos und Handlungsstimulator diente. Der Bundesrat leitete noch während des Streiks eine juristische Untersuchung ein, die jedoch keine bolschewistische Verschwörung feststellen konnte.

Dennoch kam es zu zahlreichen Ausweisungen, weshalb der leitende Bundesanwalt Franz Stämpfli die kostspielige Untersuchung als Teilerfolg verbuchte: «Hat auch die Untersuchung in strafrechtlicher Hinsicht ein unbefriedigendes Resultat ergeben, so hat sie doch zur Ausweisung einer grossen Zahl von Ausländern geführt. Die Säuberung der Schweiz von diesen bolschewistischen und kommunistischen Agenten rechtfertigt allein die Kosten.»

Die verbreiteten antibolschewistischen Ressentiments und die Mär vom revolutionären Landesstreik wurden in der Folge noch lange gegen die Sozialdemokratie als angebliche Umsturzpartei ausgespielt. Der Historiker Hans Ulrich Jost schrieb 1988, dass das Ereignis ein «halbes Jahrhundert lang» dazu diente, «die Arbeiterschaft und die sozialistische Bewegung in der Schweiz in ein schiefes Licht zu rücken und zu stigmatisieren. Wie ein Schreckgespenst wurde, wenn von Arbeiterpolitik, Sozialismus und Streik die Rede war, mit einem Verweis auf den Landesstreik Moskau und der Kommunismus heraufbeschworen.» Die als national unzuverlässig gebrandmarkte Sozialdemokratie bot so den bürgerlichen Parteien ein gemeinsames Feindbild, das jahrelang als Klammer für den in sich oftmals uneinigen Bürgerblock diente.

Der Historiker Daniel Artho forscht im Rahmen des Projekts «Krieg und Krise» an der Universität Bern. Der vorliegende Text basiert auf seinem Beitrag für das Buch «Der Landesstreik. Die Schweiz im November 1918» (Hrsg. Roman Rossfeld, Christian Koller und Brigitte Studer, erschienen 2018 im Verlag Hier und Jetzt).