Dossier Generalstreik: Als die Schweiz ein bewegtes Land war
Nüchtern betrachtet war der Landesstreik von 1918 kein missratener Revolutionsversuch, sondern ein demokratisches Ereignis. Doch Linke wie Rechte wollten das lange nicht wahrhaben.
Der landesweite Generalstreik vom November 1918 nahm nicht nur in der Geschichtsschreibung, sondern auch in der politischen Auseinandersetzung jahrzehntelang eine Schlüsselstellung ein. Dass Arbeiterorganisationen ihre Anliegen statt mit den Mitteln der direkten Demokratie mit einer allgemeinen Arbeitsverweigerung durchzusetzen versuchten, erfüllte die bürgerliche Schweiz mit anhaltender Empörung. Wie kürzlich die Parlamentsdebatte zum Streikrecht zeigte, lösen hierzulande Arbeitskonflikte, die in demokratischen Staaten zum Alltag gehören, tief verwurzelte Abwehrreflexe aus.
Wenn noch heute selbst wirtschaftliche Streiks in Frage gestellt werden, wie bedrohlich musste dann vor Jahrzehnten ein Generalstreik wirken? Es ist allerdings davon auszugehen, dass lange nicht alle die Schreckgespenster ernst nahmen, die sie bis in die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts gerne hervorholten. Nicht selten dürften sie nur dazu gedient haben, die demokratische Glaubwürdigkeit von Arbeiterorganisationen in Zweifel zu ziehen.
Der Schwarzmalerei kam die ambivalente Haltung der Linken zum Generalstreik entgegen. Viele wollten ihn gänzlich in Vergessenheit geraten lassen wie etwa Robert Bratschi, alt Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), 1958 in seinem Radio-Nachruf auf den verstorbenen Robert Grimm. Andere beklagten die verpasste Chance zur grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft. Nur wenige wogen nüchtern die eingesetzten Mittel und die damit erzielten Ergebnisse ab – und fanden damit lange kaum Beachtung.
Seit den 1960er Jahren gehören Generalstreiks und ähnliche Massenbewegungen in demokratischen Staaten zwar nicht gerade zum Alltag, aber auch nicht zu den die Gesellschaftsordnung bedrohenden Ereignissen. Einige – etwa der Mai 1968 – werden gelegentlich noch durch eine verstaubte Optik als Revolutionsversuche beziehungsweise verratene Revolutionen betrachtet; in der Regel fällt aber die Reaktion prosaischer aus. Es wird diskutiert, ob die Beteiligung eindrücklich war und welche Schritte Unternehmerverbände oder politische Behörden zur Beruhigung einleiten. Eine solche Betrachtungsweise jenseits der Mythen führt auch beim schweizerischen Generalstreik vom November 1918 zu einer angemesseneren Einschätzung.
Allerdings stellten sich einer sachlichen Beurteilung des Generalstreiks nach dem Ersten Weltkrieg ernstliche Hindernisse entgegen. Im November 1918 hatte Revolutionsangst zwar nicht hierzulande, aber immerhin in der unmittelbaren Nachbarschaft ihre Berechtigung. Dazu kam die von der Arbeiterbewegung auch in der Schweiz gepflegte revolutionäre Rhetorik, die im linken und im rechten Lager teilweise ernst genommen wurde. Klassenkampf, Revolution, proletarische Diktatur und andere kämpferische Ausdrücke dürfen aber, wie Robert Grimm als wichtigster einheimischer Propagandist des Generalstreiks nie müde wurde zu betonen, nicht «im Heugabelsinne des Wortes» verstanden werden.
Die Vorstellung, dass bewaffnete Arbeiter oder – für viele noch schlimmer – Arbeiterinnen strategisch wichtige Gebäude unter ihre Kontrolle bringen, findet sich zwar in Szenarien der bürgerlichen Rechten. Sozialdemokratie und Gewerkschaften dagegen entwickelten solche Pläne nicht einmal in Ansätzen. Besetzungen, soweit sie in den denkwürdigen Novembertagen 1918 überhaupt vorkamen, bestanden in der Regel darin, dass Arbeiterinnen und Arbeiter durch massenhafte Präsenz in Bahnhöfen, vor Fabriktoren oder auf Baustellen den gewohnten Gang der Dinge verhinderten.
Hunger und Kriegsgewinne
Der Generalstreik kam im letzten Kriegsjahr nicht aus heiterem Himmel. Von 1900 bis 1914 zählte man im Mittel 125 Streiks pro Jahr, womit die Schweiz zu den bewegteren Ländern Europas gehörte. Nach einer kurzen Beruhigung zu Beginn des Ersten Weltkrieges tat sich ein immer tieferer sozialer Graben auf. Während ein Teil der Unternehmer riesige Kriegsgewinne einfuhr und auch die Bauernschaft so gut wie schon lange nicht mehr verdiente, lebte ein wachsender Teil der Arbeiterschaft in grösster Armut und war auf staatliche Unterstützung angewiesen. Anders als im Zweiten Weltkrieg wurden die äusserst knappen Lebensmittel erst gegen Schluss und dann nur ungenügend rationiert.
Den Arbeiterinnen und Arbeitern entging nicht, wie wichtig sie gerade in Kriegszeiten waren. Sowohl die Armee mit der Grenzbesetzung als auch die florierenden Betriebe – nicht zuletzt die, die für die Kriegsparteien produzierten – sorgten für günstige Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt. Unter diesen Bedingungen verbesserten sich gegen Kriegsende die Erfolgsaussichten bei Streiks; seit 1917 nahmen diese daher zu – parallel zur Entwicklung im Ausland.
Für die Arbeiterorganisationen, deren Anliegen bei den Behörden auf wenig Widerhall stiessen, lag es nahe, den Streik als Druckmittel auch auf politischer Ebene ins Auge zu fassen. Das Oltener Aktionskomitee, in dem Robert Grimm im Februar 1918 über die etablierten Institutionen hinweg die wichtigsten Gewerkschafts- und Parteifunktionäre einer neuen Generation vereinigte, richtete mehrmals Forderungen an den Bundesrat, so im März ein 15-Punkte-Wirtschaftsprogramm mit Schwergewicht auf der Lebensmittelversorgung, im April die Ablehnung einer Milchpreiserhöhung und im Juli elf Forderungen vor allem gegen die Einschränkung politischer Rechte, erneut zur Lebensmittelversorgung sowie zu Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen. Anders als früher mussten die Behörden auf diese Begehren zumindest teilweise eingehen, denn sie wurden jeweils mit einer Generalstreik-Drohung verbunden.
Im Herbst 1918 verhärtete sich das Klima. Der Zusammenbruch der alten Ordnung und der Aufstieg der Arbeiterbewegung war in den Nachbarländern Deutschland und Österreich absehbar, und nicht wenige befürchteten Ähnliches für die Schweiz. Sie sahen im Streik der Zürcher Bankangestellten Ende September, den die Arbeiterunion mit einem lokalen Generalstreik unterstützte, die Generalprobe für die Revolution. Andere wollten die aufbegehrende Arbeiterschaft ein für alle Male zurückbinden, und dies musste vor der Demobilisierung der Armee geschehen. Vor dem Bekanntwerden der militärischen Besetzung Zürichs am 7. November hatten die überraschten Arbeiterorganisationen keine Aktion vorbereitet. Um die allgemeine Empörung zu kanalisieren, rief das Oltener Aktionskomitee für Samstag, den 9. November, einen Proteststreik aus, der an fast allen Orten ruhig verlief. In Zürich allerdings versuchte Oberstdivisionär Emil Sonderegger – später einer der führenden Rechtsextremen –, mit seinen Truppen Demonstrationen zu verhindern. Damit waren alle Vermittlungsbemühungen aussichtslos. Das Oltener Aktionskomitee – vor der Wahl, die Kontrolle über die Bewegung endgültig zu verlieren oder mitzuziehen – beschloss nach langer Diskussion einstimmig, für Dienstag, den 12. November, einen landesweiten Generalstreik auszurufen.
Ohne Truppen keine Zwischenfälle
Die allgemeine Arbeitsniederlegung, an der sich gemäss einer Umfrage des SGB rund 250 000 Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligten, verlief weitgehend ruhig. In Basel etwa, der Stadt mit der stärksten radikalen Strömung in Sozialdemokratie und Gewerkschaften, kam es zu keinerlei Zwischenfällen, weil zwei bürgerliche und die beiden sozialdemokratischen Regierungsräte gemeinsam einen Aufmarsch der Armee verhinderten. Nur an wenigen Orten, meist bei aggressivem Vorgehen der Truppen, geriet die Lage kurzfristig ausser Kontrolle. Mit fortschreitender Dauer formierten sich die Gegenkräfte; im bürgerlichen Lager gewann der unversöhnliche Flügel an Boden. Nachdem sich Bundesrat und verschiedene Kantonsbehörden nach der ersten Überraschung konzessionsbereit gezeigt hatten, verhärtete sich ihre Haltung zusehends. Am 13. November verlangte die Landesregierung mit Hinweis auf die einsatzbereite Armee den bedingungslosen Abbruch der Bewegung. Das Oltener Aktionskomitee fügte sich dem Druck und rief zur Wiederaufnahme der Arbeit auf, sodass am 15. November, am Freitagmorgen, fast überall wieder gearbeitet wurde.
Der Generalstreik wurde lange weitgehend als Misserfolg interpretiert. Eine schwache Führung habe die Durchsetzung der Forderungen oder gar eine Revolution verhindert, kritisierte die radikale Linke. Die gemässigte wollte die Bewegung rasch in Vergessenheit geraten lassen und alle Ergebnisse ihrem Verhandlungsgeschick zuschreiben. Das bürgerliche Lager schliesslich betonte die bedingungslose Kapitulation und die deutliche Lehre, die der Staat denen erteilte, die konventionelle Wege verliessen. Dabei wurden namentlich der angeblich unschweizerische Charakter der Bewegung und die Rolle der Armee herausgestrichen.
Diese negative Wertung überdeckte lange die Erfolge des Generalstreiks. Mit der Zeit fanden immerhin die neun Forderungen der Streikproklamation mehr Aufmerksamkeit, in moderner Terminologie Neuwahl des Nationalrates nach dem Proporz, Frauenstimmrecht, allgemeine Arbeitspflicht, 48-Stunden-Woche, Demokratisierung der Armee, sichere Lebensmittelversorgung, Altersversicherung, Staatsmonopol für den Aussenhandel sowie Vermögenssteuer. Massnahmen zu Arbeitspflicht, Lebensmittelversorgung und Aussenhandel entfielen mit dem Ende der Kriegswirtschaft. Die übrigen Punkte fanden bis 1971 ganz oder teilweise Verwirklichung, erwiesen sich also keineswegs als systemsprengend.
Ein Zusammenhang mit dem Generalstreik lässt sich allerdings nur bei der Erfüllung von zwei Forderungen herstellen. So entstand von Anfang 1919 bis 1925 die Verfassungsgrundlage für die Alters- und Hinterlassenenversicherung; die effektive Einführung ging dann erst nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zuletzt wegen der noch immer gegenwärtigen Angst vor einem weiteren Generalstreik zügig voran.
Die weitaus klarste materielle Folge des Streiks von 1918 war eine massive Arbeitszeitverkürzung. Das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement und Spitzenfunktionäre von Unternehmerverbänden machten eindringlich auf die Gefahr einer Wiederholung der allgemeinen Arbeitsniederlegung aufmerksam, falls die 48-Stunden-Woche nicht eingeführt werde. Tatsächlich gelang es bereits im Jahre 1919, durch Absprachen und Gesetze in der Industrie, im öffentlichen Dienst und in zahlreichen Gewerbezweigen die neue Normalarbeitszeit durchzusetzen.
Die Arbeiterschaft wird eingemeindet
Neben diesen materiell greifbaren Ergebnissen verbesserte sich vor allem die Stellung der Arbeiterorganisationen in Wirtschaft und Staat. Entgegen verbreiteter Meinung gehört die Schweiz nicht zu den Pionierländern der Sozialpartnerschaft; Gesamtarbeitsverträge bildeten lange die grosse Ausnahme und beschränkten sich auf einige Gewerbezweige. Unternehmerverbände hielten es nicht einmal für nötig, mit Gewerkschaften zu verhandeln. Selbst informelle Kontakte blieben seltene Ereignisse. Dies änderte sich nach dem Generalstreik schlagartig. Verbindliche Verhandlungen gehörten fortan zur Tagesordnung; zahlreiche Abkommen zu Lohn- und Arbeitszeitfragen wurden auf höchster Ebene vereinbart. Branchenweite Gesamtarbeitsverträge verweigerte allerdings die Exportindustrie bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges mit Ausnahme eines kurzen Intermezzos in der Uhrenindustrie weiterhin. Immerhin fanden sie im Gewerbe nun weitere Verbreitung, wobei nicht einmal immer die Gewerkschaften die Initiative ergriffen. Im Schreinergewerbe etwa forderten 1919 die von Arbeitskonflikten zermürbten Meister einen Landesvertrag.
Auch der Bundesstaat änderte seine Haltung grundlegend. Nicht zuletzt seine kalte Schulter gegenüber den Anliegen der Arbeiterschaft hatte während des Ersten Weltkrieges die sozialen Spannungen verschärft. Nachdem der Schweizerische Gewerkschaftsbund im Generalstreik als mächtiger Repräsentant der Arbeiterschaft aufgetreten war, stellte sich für die Bundesbehörden die Frage der künftigen Zusammenarbeit. Zugang zu vorparlamentarischen und exekutiven Entscheidungsstrukturen hatten Funktionäre der freien Gewerkschaften bisher fast nur über den auch katholische Vereine und Krankenkassen umfassenden Arbeiterbund gefunden. Nachdem dieser nicht zuletzt am Generalstreik zerbrochen war, blieb zur Einbindung der Arbeiterschaft einzig der direkte Kontakt zu deren stärksten Organisationen.
Vor allem Bundesrat Edmund Schulthess als Vorsteher des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartementes – das damals die Sozialpolitik betreute – strebte eine konsensorientierte Verhandlungskultur an. Bereits in der Woche nach dem Generalstreik sass er in der Fabrikkommission mit Vertretern der Gewerkschaften und Unternehmer am Verhandlungstisch, wo überraschend konstruktive Gespräche zur Verkürzung der Arbeitszeit geführt wurden. Ab 1925, als sich eine durch die 1920 einsetzende kurze, aber heftige Wirtschaftskrise bedingte scharfe politische Konfrontation gelegt hatte, hielt der Schweizerische Gewerkschaftsbund Einzug in fast alle Expertenkommissionen des Volkswirtschaftsdepartementes.
Im Zweiten Weltkrieg fanden Anliegen von Sozialdemokratie und Gewerkschaften weit bessere Berücksichtigung als zwischen 1914 und 1918. Es gelte, einen weiteren Generalstreik zu verhindern, liest man in zeitgenössischen Berichten. Reformen wurden früher und unter Einbezug der Betroffenen eingeleitet, um bei Kriegsende eine ähnliche Explosion wie 1918 zu vermeiden.
Seit einigen Jahrzehnten gilt der Generalstreik in der Demokratie zwar nicht als Normalfall, aber auch nicht mehr als systemsprengendes Ereignis. Spätestens seit 1989 ist zudem erwiesen, dass breite Volksbewegungen ohne Bürgerkrieg ein Regime stürzen können. Solche Erfahrungen müssen in eine nüchterne Einschätzung des schweizerischen Generalstreiks vom November 1918 eingehen. Er darf nicht mehr als – je nach Standpunkt – geplante, verratene oder gescheiterte Revolution betrachtet, sondern muss als wirksames oder unwirksames Druckmittel im Rahmen der bestehenden Verhältnisse analysiert werden. Dabei ergibt sich ein – allerdings nur auf den ersten Blick – paradoxer Zusammenhang: Gerade die scheinbar das bestehende politische und wirtschaftliche System sprengende Aktion trug am meisten und schnellsten zur Integration der Arbeiterbewegung bei. Diese verlief allerdings in den folgenden Jahrzehnten alles andere als linear.