100 Jahre Generalstreik: Als plötzlich alles möglich schien
Was weiss die aktuelle Forschung über den Landesstreik von 1918, über Hunger und rechte Bürgerwehren? An einer Tagung zum Jubiläum kam keine Feierlichkeit auf, dafür wars zu interessant.
Im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs spitzte sich die Notlage auch in Basel zu. Dem Stadtkanton gelang es nicht, genügend Nahrungsmittel aus anderen Kantonen und dem Ausland zu beschaffen. Arbeiterinnen und zunehmend auch mittelständische Hausfrauen sahen ihre Kinder krank werden. Aber es half nichts, mit einem Arztzeugnis grössere Rationen zu erbitten. Der Staat blieb hart und erschien als Beschützer der Reichen, die offen zeigten, was sie im Krieg verdient hatten. Im Kampf gegen den Schwarzmarkt durchsuchte die Polizei private Keller und Küchen. Laut Historikerin Maria Meier versuchten fast alle zu tricksen, die meisten Arbeiterinnen mit Sicherheit. Wer lässt sich schon tatenlos aushungern.
An einer Tagung des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) am 15. November in Bern zeigte Meiers Fallstudie in neuer Genauigkeit auf, warum es im Frühling und Frühsommer 1918 in Schweizer Städten zu Hungerdemonstrationen kam. Zur gleichen Zeit bildete sich das Oltener Aktionskomitee aus Gewerkschafts- und SP-Spitze, die Idee eines landesweiten Massenstreiks mit politischen Zielen wurde skizziert. Im Herbst überschlugen sich dann international die Ereignisse. Am 11. November ging der Krieg zu Ende, in Wien und Berlin stürzten RevolutionärInnen die Monarchie – ein Jahr nach der Oktoberrevolution in Russland. Das veränderte auch die Luft in der Schweiz. Dass ein radikaler Aufbruch möglich schien, war für die einen Grund zur Hoffnung, für andere war es furchterregend. An der Tagung stellte der Historiker Adrian Zimmermann die internationale Stimmungslage bewusst an den Anfang, bevor er den Ablauf der Schweizer Ereignisse festhielt.
Panik am Finanzplatz
30. September bis 1. Oktober 1918: In Zürich streiken die Bankbeamten. Die Arbeiterunion ruft zu Solidaritätsstreiks auf und legt die Innenstadt lahm. Panik am Finanzplatz. Auf nationaler Ebene nimmt das Stimmvolk am 13. Oktober das Proporzwahlrecht an, womit eine deutliche Kräfteverschiebung zugunsten der Linken absehbar wird. Am 6. November geschieht dann, was militaristische Stimmen gefordert hatten: Der Bundesrat beschliesst, Zürich und Bern mit einem Truppenaufgebot vorsorglich zu besetzen, um eine Revolution zu verhindern. In Zürich treten ArbeiterInnen in einen lokalen Generalstreik. Am 10. November wird ein Soldat während einer Demonstration erschossen. Am gleichen Tag hat das Oltener Aktionskomitee (OAK) auf Druck der Zürcher Genossen den Landesstreik ausgerufen. Am 11. November legen 250 000 Leute die Arbeit nieder, die Eisenbahn und weitere öffentliche Betriebe stehen still. Nach einem Ultimatum des Bundesrats beschliesst das OAK bereits am 14. November den Abbruch des Streiks. Grund dafür ist der Wunsch, einen möglichen Bürgerkrieg zu verhindern.
99 Jahre später wirft die Frage, ob dieser Entscheid richtig war, nicht mehr viele Wellen. Die Historiker Adrian Zimmermann und Bernard Degen wie auch SGB-Präsident Paul Rechsteiner sind sich einig: Was anfangs eine Niederlage war, legte den Grundstein für spätere Erfolge. Eine zentrale Forderung des Streiks, die 48-Stunden-Woche, wurde bereits im Juni 1919 durch das Parlament beschlossen. In zahlreichen lokalen Streiks und Kampagnen erreichten die Gewerkschaften Gesamtarbeitsverträge. Die Landesregierung lernte aus dem Desaster der Kriegsjahre: Im Zweiten Weltkrieg erhielten die Soldaten einen Sold, die Rationierung der Lebensmittel wurde von Anfang an besser geplant und organisiert.
Die unheimlichen Patrioten
Gegen diese Einhelligkeit opponierte an der Tagung nur der Lausanner Historiker Hans-Ulrich Jost. Er konnte dabei an die Referate von Pierre Eichenberger, Andreas Thürer und Silvia Arlettaz anknüpfen. Thürer hatte dargelegt, wie sich als Antwort auf den Landesstreik eine neue, militante Rechte bildete, die private Bürgerwehren bewaffnete und dabei vom Bund unterstützt wurde. Arlettaz zeigte auf, wie radikal sich die Ausländerpolitik der Schweiz nach dem Ersten Weltkrieg verhärtete und wie wichtig das weitverbreitete Stereotyp des ausländischen Bolschewisten dabei war. Im öffentlichen Diskurs war der gute Arbeiter fortan ein patriotischer Schweizer, der linke Arbeiter ein Ausländer. Linke Frauen wurden als russische Nymphomaninnen und Hysterikerinnen karikiert. Pierre Eichenberger führte aus, wie sich als Antwort auf Streiks die Arbeitgeberverbände bildeten, radikalisierten und international vernetzten. Jost spitzte dann seine – bereits vor dreissig Jahren formulierte – These zu, nach der der Landesstreik von der extremen Rechten um General Wille bewusst provoziert worden sei, um den liberalen und gesprächsbereiten Teilen des Bürgertums den Boden zu entziehen. Aber, kam der Einwand, von 1919 bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise hätte man nicht so erfolgreich verhandeln können, wäre der Landesstreik nicht gewesen.
Zwischen den Fronten
Die Notwendigkeit der Demonstration eigener Stärke zeigte sich auch innerhalb der Linken, wie das Referat von Elisabeth Joris deutlich machte. Die Hungerdemonstrationen im Frühsommer 1918 waren fast ausschliesslich von Frauen organisiert worden. Dass sie einen wichtigen Pfeiler der militanten Bewegung bildeten, war nicht mehr zu übersehen. So wird verständlich, weshalb es das Frauenstimmrecht an die zweite Stelle auf dem Forderungskatalog des Landesstreiks schaffte.
Dass «Arbeiter» und «Bürgerliche» selbst damals keine felsenfest gefügten Blöcke waren, wurde mehrmals deutlich. Die Rolle des Bankpersonals, von Marc Perrenoud dargestellt, brachte die klare Abgrenzung von «ArbeiterInnen» und «Angestellten» ins Wanken. Joris erzählte von der bürgerlichen Frauenrechtlerin Emilie Gourd, die sich im Namen ihres Verbandes mitten im Landesstreik an den Bundesrat wandte, um die Forderung des OAK nach dem Frauenstimmrecht zu unterstützen. Aber auch die Figur des «Juden» irrlichterte zwischen den Fronten: Von rechter Seite als «judeo-bolschewistischer» Revolutionär beschworen, tauchte er im Referat von Maria Meier ganz anders auf; sie gab auch ein Beispiel für linken Antisemitismus, der den «jüdischen Wucherer» für allen Hunger verantwortlich macht. An neuen Fragen und an Diskussionsstoff fehlt es nicht, daran liess dieser Auftakt zum Jubiläumsjahr keine Zweifel.
Informationen und Hinweise auf die Veranstaltungen im Jubiläumsjahr 2018: www.generalstreik.ch.