Dossier Generalstreik: Per Notrecht zur Fremdenpolizei

Zwei Geschwister im Geiste – die Fremdenpolizei und der Vaterländische Verband – treten zur Zeit des Generalstreiks an, um die Ordnung zu retten.

Bereits im November 1917, ein Jahr vor dem Generalstreik, hat die nationale und internationale Krisensituation ein beängstigendes Ausmass angenommen. Der Krieg ist auf dem Höhepunkt, die bolschewistische Machtübernahme in Russland liegt nur Wochen zurück. Die Schweiz ist von politischen und sozialen Konflikten zerrissen. Die Parteinahme nach Sprachgebiet für die Krieg führenden Mächte Frankreich und Deutschland droht die Nation zu spalten. In der Arbeiterschaft gärt es. Die Preise steigen unaufhörlich, aber die Löhne sinken, Mietzins und Lebensmittel werden immer weniger bezahlbar, die Arbeitslosen haben keine Versicherung. Während die Bevölkerung teilweise hungert, liest sie in den Zeitungen über «Spekulanten», «Wucherer», «Schieber» und über reiche Ausländer, die sich in die kriegsverschonte Schweiz zurückgezogen hätten.

In diesen Tagen schreibt das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement, die bisherige Praxis der kantonal geregelten Einreise- und Fremdenkontrolle habe vollkommen versagt. Es sei misslungen, jene Ausländer fern zu halten, die durch Spionage, Störung der Landesversorgung und Kriegspropaganda «die öffentliche Ordnung in hohem Masse gefährden». Eine «zentrale Melde- und Auskunftsstelle für die wirksame Handhabung der Fremdenpolizei [ist] unerlässlich. Es muss eine Stelle geschaffen werden, die alle Meldungen über die verdächtigen Personen, die die Grenze überschreiten, oder bei der Kontrolle im Innern auffallen, registriert, über diese verdächtigen Personen Auskunft gibt und bei Anständen in der Grenzkontrolle Weisungen erteilt.» 1)

«Schieber», «Räterepublikaner», «Juden»

Per Notrecht errichtet der Bundesrat am 17. November 1917 eine zentralstaatliche Fremdenpolizei und verschiebt damit Kompetenzen, die bisher bei den Kantonen lagen, zum Bund.2 Am gleichen Tag, an dem der Bundesrat das neue Kontrollorgan installiert, kommt es in Zürich zu Unruhen, die Arbeiter errichten Barrikaden, Schüsse fallen, es gibt erstmals Tote und Verletzte. Die Regierung handelt ohne Zweifel auch aus Angst vor Unruhen, vor einem sozialistischen Umsturz. Mit Sperren an den Grenzen versucht sie, das Chaos im Innern abzuwenden. Der Feind kommt nach ihrer Ansicht von aussen und unterwühlt die soziale Ordnung im Innern. Gibt es nicht ungezählte Internationalisten, die den «Klassenkampf» predigen und gegen den Burgfrieden wettern? Und war Lenin nicht bis vor wenigen Monaten in der Schweiz und hat hier die Revolution, die jetzt in Russland alles umstürzt, vorbereitet?

Um den Bolschewismus zu bekämpfen, arbeitet die Zentralstelle in ihren ersten Jahren rege mit dem militärischen Nachrichtendienst zusammen. Ein weiteres Indiz dafür, dass die Angst vor revolutionären Umtrieben die Einrichtung der neuen Stelle mitbestimmt hat. Der Landesstreik von 1918, der dem Bürgertum einen bleibenden Schrecken einjagt, verstärkt diese Ängste und beeinflusst die Strategien der Fremdenpolizei. «Der Generalstreik vom vergangenen Jahr lag uns allen noch in den Knochen. Unruheherde bestanden vielerorts noch im Ausland» – so beschreibt Heinrich Rothmund, Chef der Fremdenpolizei, die Gefühlslage, die ihn dazu führt, die Bewilligungspraxis für Einreisen selber in die Hand zu nehmen und nicht mehr den Schweizer Konsulaten im Ausland zu überlassen. Jene hätten dazu beigetragen, dass «Ausländer, die direkt auf den Umsturz hin arbeiten, in grosser Zahl zu uns einreisten».

Der Fremdenpolizei zu Gevatter steht die Angst vor dem Chaos und das Bedürfnis, die gefährdet geglaubte Ordnung und innere Sicherheit zu bewahren. Beim Geburtsakt stehen die künftige Aufgabe und die bevorzugten Objekte ihrer Aufmerksamkeit schon fest. Kein Wunder, malt Ernst Delaquis, damals Chef der eidgenössischen Polizeiabteilung, drei Jahre nach dem Generalstreik ähnliche Schreckensszenarien: «Die politischen Umwälzungen veranlassen eine wachsende Zahl von Menschen, ihre Heimat zu verlassen; der ganze Osten Europas gerät ins Schwanken; dem westwärts Wandernden erscheint die Friedensinsel Schweiz als Ziel der Wünsche. Der Schriftenlose, der ungarische Räterepublikaner, der wirtschaftlich entwurzelte, der Valutaspekulant und Schieber, der russische Emigrant und der revolutionäre Eisenbahner, sie alle kommen über unsere Grenze. Je unerwünschter sie sind, mit umso grösserer Hartnäckigkeit verteidigen sie ihr sogenanntes Recht, bei uns zu bleiben.»

Der Polizeichef evoziert mit seiner Aufzählung der Unerwünschten, die angeblich massenhaft in die Schweiz einzuströmen drohen, erneut das Chaos. Dieses abzuwenden, ist die grosse Aufgabe der Fremdenpolizei. Zu den Objekten, die sie von Anbeginn an besonders beargwöhnt, gehören die (vermeintlichen) Bolschewisten und die Juden. In der Vorstellung, der drohende Umsturz sei das Werk der Juden, finden solche Ängste ihre antisemitische Verdichtung: Prototyp des «gefährlichen Elements» ist der jüdische Bolschewist.

Entsprechend ist die Praxis, welche die Fremdenpolizei entwickelt: Sie weist seit ihrem Bestehen angeblich politisch oder wirtschaftlich unerwünschte Ausländer ab. Die Gewerkschaften und Sozialisten werfen ihr deswegen mehrfach Willkür und Missbrauch vor und kritisieren die behördliche Angst, hinter jedem ausländischen Arbeiter eine potenzielle Bedrohung der inneren Sicherheit zu sehen. Gleichzeitig beginnt die Fremdenpolizei eine systematische Bekämpfung der «Verjudung», eine Politik, an der sie bis in die fünfziger Jahre festhält.

Die eidgenössische Fremdenpolizei operiert nicht im luftleeren Raum. Parallel zu ihrer Entstehung entfaltet sich landesweit der Diskurs der Überfremdung, der dieser neu gegründeten Institution die gesellschaftliche Anerkennung, den politischen Rückhalt und ein attraktives ideologisches Kleid verschafft. Der Diskurs ist Ausdruck und Lösungsversuch einer tief verunsicherten Gesellschaft. Im Konzept der «Überfremdung» findet sie eine Erklärung für die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krisenerscheinungen der Schweiz und für die Verwerfungen der Moderne überhaupt. Mit der realen Situation hat der Diskurs wenig zu tun. In ihm ist «der» Fremde nämlich eine blosse Vorstellung, eine mentale Konstruktion und an keine konkreten Personen, Orte und Zeiten gebunden. Das Bürgertum sieht im Fremden den Revolutionär, die Sozialisten sehen in ihm den Lohndrücker oder kapitalistischen Ausbeuter, die Patrioten den «vaterlandslosen Gesellen», die Fürsorger den Sozialfall, die Konservativen den «zersetzenden Liberalen». Der imaginäre Fremde nimmt alles in sich auf, er bietet bequeme Scheinlösungen für die unterschiedlichsten Konflikte; genau dies macht das Konzept so verführerisch.

Die Vaterländischen kommen

Der Diskurs der Überfremdung ist älter als der Generalstreik, erhält aber im verunsicherten Bürgertum durch die Ereignisse von 1918 entscheidenden Auftrieb. Indem 1926 das Stimmvolk der bisher nur notrechtlich abgestützten Tätigkeit der Fremdenpolizei die verfassungsrechtlichen Grundlagen gibt, findet der Diskurs einen vorläufigen Höhepunkt.

Zu den eifrigsten Befürwortern der fremdenpolizeilichen Ordnungspolitik gehört der «Schweizerische Vaterländische Verband» (SVV), der sich als Dachorganisation der Bürgerwehren versteht. Jene sind in den Tagen des Generalstreiks von bürgerlichen Kreisen aufgestellt und von Armee, Behörden sowie bürgerlicher Prominenz kräftig unterstützt worden, sodass sie schnell über Waffen und beträchtliche Mannschaftsbestände verfügen. Da Gründungspräsident Eugen Bircher zutiefst überzeugt ist, mit dem Generalstreik hätten die Bolschewiki die Revolution versucht, baut er in Zusammenarbeit mit dem Politischen Departement und dem Generalstab der Armee einen Nachrichtendienst auf, um die «umstürzlerischen Elemente» rechtzeitig zu neutralisieren.

So schicken die Vaterländischen regelmässig Berichte nach Bern, die die behördliche Einschätzung der Lage beeinflussen. Im Mai 1920 schreiben der SVV-Präsident und sein Sekretär an Bundesrat Heinrich Häberlin, der eben das EJPD übernommen hat: «Es ist unserer höchsten Landesbehörde sicherlich so gut bekannt wie uns, dass die internationale bolschewistische Propaganda und Bewegung in allen Ländern Europas in ständigem Zunehmen begriffen ist.»3 Um beispielhaft darzulegen, «dass heute mehr denn je zweifelhafte ausländische Elemente, unbehelligt von den schweiz. Behörden, ihr Gastrecht missbrauchen», führen die Schreiber zwei Fälle an: «Einer der Haupthetzer im gegenwärtigen Bauarbeiterstreik ist der italienische Refraktär und Bolschewist Vuattolo, Bauarbeitersekretär in Zürich, der längere Zeit auf der Ausweisungsliste figuriert hat. Die Intervention der schweiz. Sozialdemokratischen Partei hat seine Ausweisung s. Zt. verhindert.» Als zweites Beispiel für die Unterwanderung haben die patriotischen Fahnder einen Mann ausgemacht, der «in intimem Verkehr» mit Redaktoren des Basler «Vorwärts» stehe und offenbar an einen Genossen Lenins erinnert: «In Basel hat sich seit einiger Zeit ein gewisser Sobelsohn niedergelassen. So heisst bekanntlich auch der jüdisch-russische bolschewistische Agitator Radek.» Und den Patrioten ist weit Schrecklicheres noch zu Ohren gekommen: Nach ihrer Ansicht haben die dubiosen Elemente bereits begonnen, das Bollwerk zu unterminieren, das doch zu ihrer Abwehr installiert worden ist. Sie hielten es, schreiben sie nämlich, für ihre «vaterländische Pflicht», dem Magistraten «das Misstrauen in die Integrität» der schweizerischen Fremdenpolizei selbst, «welches weite Kreise ergriffen hat, zu Kenntnis zu bringen». «Heute hört man besonders oft direkt den Vorwurf, Teile des jüngeren Personals der Fremdenpolizei seien bolschewistisch verseucht. Wir möchten aus verschiedenen Namen nur zwei herausgreifen: Bei der Fremdenpolizei ist angestellt ein gewisser Luick, jur., der als Subaltern-Offizier in einem Thurgauer Bataillon von einem Ordnungsdienst s. Zt. Dispensiert worden sein soll, da er bei Vorgesetzten und Kameraden als Kommunist galt.» Ferner sei bei der Fremdenpolizei auch der Antimilitarist Berlepsch tätig. «Der gleiche Berlepsch hat letzten November den Vortrag des Erziehungsapostels Wyneken in Bern eingeleitet, trotzdem er, dessen Hauptziel die Entfremdung der Jugend vom Elternhaus ist, als einer der gefährlichsten und besonders auf die Jugend einflussreichsten Propagandisten des Umsturzes angesehen werden muss.»

Die Erzpatrioten schliessen ihren Brief mit «Anregungen» für den Bundesrat, die nochmals die ganze Bandbreite ihrer paranoiden Ängste verdeutlichen: «1. Zur Beruhigung der Allgemeinheit eine gründliche Untersuchung über die Handhabung und ev. Sanierung der Fremdenpolizei zu veranstalten. 2. Alle ausländischen Kommunisten, die sich in der Schweiz aufenthalten, unverzüglich auszuweisen. 3. Jede kommunistische Versammlung auf dem Gebiete der Eidgenossenschaft zu verbieten und zu verhindern. 4. Jeden Schweizer, der in öffentlicher Rede zur Missachtung unserer Verfassung auffordert, wie das bei den diesjährigen 1. Maifeiern unter dem Schutze der Polizei an manchen Orten geschehen ist, sofort strafrechtlich zu verfolgen.»

Mehr als zwei Jahrzehnte später, im Oktober 1942, wird der SVV beim damaligen EJPD-Chef Eduard von Steiger vorsprechen, um mit jenem die Haltung gegenüber den jüdischen Flüchtlingen zu koordinieren. Nach dem vertraulichen Gespräch hetzt der Verband in einer breit angelegten Kampagne gegen die Zufluchtsuchenden und fordert die Schliessung der Grenzen. Indem er explizit an Lenin, Münzenberg und Radek erinnert sowie daran, dass die Emigranten damals den Umsturz und die «Errichtung einer Sowjetschweiz» vorbereitet hätten, beschwört er erneut eine bolschewistische Landesgefahr herauf, diesmal hervorgerufen durch die jüdischen Flüchtlinge. Die Kampagne stärkt der Fremdenpolizei entscheidend den Rücken.

1) Das EJPD an den Bundesrat, Verordnung betr. Grenzpolizei und Kontrolle der Ausländer, 12. November 1917, Schweizerisches Bundesarchiv (BAR), E 21, Bd. 16047.

2) Ausführlich zur fremdenpolizeilichen Bevölkerungspolitik: Stefan Mächler, «Kampf gegen das Chaos - die antisemitische Bevölkerungspolitik der eidgenössischen Fremdenpolizei und Polizeiabteilung 1917-1954», in: Aram Mattioli (Hg.), «Antisemitismus in der Schweiz 1948-1960», Zürich 1998, S. 357-421. Ich gebe hier nur bei denjenigen Zitaten die Fundorte an, die ich nicht schon in jenem Aufsatz nachgewiesen habe.

3) BAR 4001 (1), Bd. 27.