Alexander J. Seiler (1928–2018): Früchte seiner Arbeit

Nr. 48 –

Abschied von einem trotzigen Selbstdenker: Letzte Woche ist der Filmemacher und Publizist Alexander J. Seiler gestorben. Ein Freund und Weggefährte erinnert sich.

Zeitlebens hat er gerungen mit den Widersprüchen zwischen seiner bildungsbürgerlichen Herkunft und den linken Zielen, für die er glühte: Xandi Seiler. Foto: Florian Bachmann

Mit Alexander J. Seilers Tod verliert die kulturelle und geistige Schweiz eine wichtige Stimme. Tatkräftig und mit scharfem Verstand hat er zur Entstehung und zum Aufblühen des Jungen Schweizer Films beigetragen. Und er hat Einfluss genommen auf die Filmpolitik und die Strukturen des Filmschaffens: als führende Kraft im Verband der Filmgestalter und im Verein für ein Schweizerisches Filmzentrum, als Mitglied des Autorenkollektivs Nemo-Film und als Publizist zu filmpolitischen Themen, so auch für die WOZ.

Ich kenne Seiler seit dieser Zeit. Bevor ich 1972 für das Schweizerische Filmzentrum, aus dem später die Promotionsagentur Swiss Films wurde, als erster vollzeitlicher Sekretär gewählt wurde, wollte er mich näher kennenlernen und lud mich zu sich nach Hause ein. Wir verstanden uns rasch, hier half unser gutbürgerlicher Hintergrund ebenso wie unsere Begeisterung für das, was im Schweizer Film damals am Entstehen war.

Hinzu kam unsere Freude an klassischer Musik: Er war zutiefst geprägt von der Freundschaft seiner Familie mit bedeutenden MusikerInnen wie Pablo Casals und durch seine Heirat mit der Konzertpianistin June Kovach. Xandi, wie er im Freundeskreis hiess, war es auch, der seinen Freund Peter Frey, der damals mit Laure Wyss das «Tages-Anzeiger-Magazin» gegründet hatte (in dem auch Xandi regelmässig publizierte), als Präsidenten des Vereins für ein Schweizerisches Filmzentrum gewinnen konnte.

Der Paukenschlag

1972 entstand auch ein Film, für den June Kovach verantwortlich zeichnet, den es aber in dieser Form ohne Xandi Seiler nicht gegeben hätte und der fortsetzte, was dieser im Jahr davor mit «Unser Lehrer» thematisiert hatte: «Wer einmal lügt oder Victor und die Erziehung», eine kritische Auseinandersetzung mit dem Umgang mit sogenannt schwierigen Jugendlichen. Der Paukenschlag, mit dem Seiler auf sich aufmerksam machte, war allerdings ein anderer: «Siamo italiani» von 1964, ein Manifest gegen die xenophoben Vorstösse von James Schwarzenbach und dessen Anhängerschaft. Dieser Film machte ihn zum Pionier eines neuen, politischen Dokumentarfilms in der Schweiz, der nach 1968 zu einer erstaunlichen, bis heute andauernden Blüte fand.

Seiler hat es sich diesbezüglich nie leicht gemacht und immer gerungen mit den Widersprüchen zwischen seiner bildungsbürgerlichen Herkunft und den engagiert linken Zielen, für die er glühte. Das schuf auch Distanz zu den meist um ein Jahrzehnt jüngeren FilmemacherInnen des Neuen Schweizer Films und machte ihn in den politischen Kreisen, in denen er verkehrte, auch zum Fremden. Und dennoch wurde der «trotzige Selbstdenker», wie ihn Peter Bichsel, sein Ko-Autor bei «Unser Lehrer», einmal so treffend genannt hat, ein wichtiger und verlässlicher Freund von vielen von uns – grosszügig im Loben und hilfsbereit, aber auch streng und manchmal schroff. Wenn jemand seine Prinzipien oder Überzeugungen verletzte, konnte er auch mal Freundschaften aufkündigen.

Der mit 147 Minuten längste von Seilers Filmen ist nicht zufällig derjenige, der das Spannungsfeld von Herkunft und politischer Utopie zum Thema hat: In «Die Früchte der Arbeit» von 1977 verwebt er kunstvoll seine eigene Familiengeschichte mit der Geschichte der Arbeiterbewegung in der Schweiz. Seiler selbst hielt den Film für sein wichtigstes Werk. Bis heute ragen weitere Dokumentarfilme aus seinem Œuvre heraus – allen voran «Ludwig Hohl. Ein Film in Fragmenten» (1982), sein asketisches Porträt des Schriftstellers in seinem Genfer Kellerlokal, sowie «Palaver, Palaver. Eine Schweizer Herbstchronik 1989» (1990). In diesem zeichnete er die politischen Spannungen rund um die offizielle «Diamantfeier» der Schweizer Armee und der von der Jugend getragenen Armeeabschaffungsinitiative in doppelter Spiegelung nach: als dokumentarische Chronik und als Verfilmung von Max Frischs Theaterstück «Jonas und sein Veteran» in der Inszenierung von Benno Besson.

Das letzte Jahrzehnt seines Lebens war geprägt durch das Zustandekommen von drei Werken: einem Buch, einem letzten Film und einer Werkausgabe auf acht DVDs mit seinen wichtigsten zwölf Filmen. In «Daneben geschrieben» (2008) vereinigte Seiler, unterstützt von Georg Radanowicz, auf 300 Seiten Reportagen, Aufsätze und Vorträge aus fast fünfzig Jahren publizistischer Tätigkeit – beeindruckend in der Fülle seiner Themen wie in der Genauigkeit und Schönheit seiner Sprache. Der Film «Geysir und Goliath» (2010) ist eine seinem Alter abgerungene Hommage an den Bildhauer Karl Geiser.

Leiden an den Ansprüchen

Wichtiger als die Gewissheit, dass seine Filme und Texte über seinen Tod hinaus präsent sein würden, und als der Schweizer Filmpreis für sein Lebenswerk 2014 war ihm die Geborgenheit bei seiner Lebensgefährtin Katharina Bürgi. Sie war, zusammen mit treuen WeggefährtInnen, der Spitex, seinen beiden Töchtern, seinem Schwiegersohn und seinem Enkel, dem seine besondere Liebe galt, dafür verantwortlich, dass seine letzten Lebensjahre gute waren.

Waren es auch glückliche Jahre? Xandi war nie jemand, den man als glücklich bezeichnet hätte, er litt zeitlebens an eigenen und fremden Ansprüchen an ihn und an sein Umfeld, er litt an den Widersprüchen und Verlogenheiten der Welt, an falschen Tönen und falschen Kompromissen. Doch jetzt, am Schluss, schien trotz aller körperlichen Einschränkungen und Schmerzen etwas Mildes durchzuscheinen, das man mit Glück umschreiben könnte.

David Streiff, geboren 1945, war von 1981 bis 1991 Direktor des Filmfestivals in Locarno und von 1994 bis 2005 Direktor des Bundesamts für Kultur.