Klaus Bittermann: «Ich habe offenbar ein Faible für Alkoholiker, Melancholiker»

Nr. 48 –

Seit er vor vierzig Jahren die Edition Tiamat gegründet hat, verknüpft er sich aus seinem Erdgeschossbüro in Berlin-Kreuzberg mit der Welt. Der Verleger Klaus Bittermann über den Teufel, das Glück in Blasen, kriegsversehrte Väter und das uneitle Einzelkämpfertum.

«Früher hatte man als kleiner Verlag den Vorteil, beweglicher zu sein und schneller reagieren zu können. Das hat sich geändert»: Klaus Bittermann, Gründer der Edition Tiamat.

WOZ: Herr Bittermann, Sie sind Verleger, Autor und vielleicht so etwas wie der letzte Gentleman der Buchbranche. Wissen Sie noch, wann Sie Ihre letzte Zigarette geraucht haben?
Klaus Bittermann: Vor zehn Jahren vielleicht. Die asthmatischen Hustenanfälle hörten nicht mehr auf. Ich dachte, ich würde ersticken, habe probiert weiterzurauchen. Aber da war nichts zu machen.

Gibt es einen Ersatz?
Nein. Einfach ohne. Wobei ich mir ein Leben ohne Zigarette genauso wenig vorstellen konnte wie ein Leben ohne Fussball. Der Mensch hat ja auch einen Bewegungsdrang, Fussballspielen hat mir immer wahnsinnig Spass gemacht. Beim Schreiben zum Beispiel ist es vergleichsweise selten, dass sich ein Gefühl von Zufriedenheit einstellt.

Sie machen den Eindruck, als sei es für Sie als Verleger der Idealzustand, den Tag im Café zu beginnen, so wie heute. Mit Zeitungen als Nachrichten- und Inspirationsquelle. Umgeben von Bekannten und Unbekannten. Der erste Kaffee, eine Zufallsbekanntschaft. So stelle ich mir bei Ihnen das vor, was in grossen Verlagshäusern die Morgenkonferenz ist.
So ungefähr ist es auch. Was damit zu tun hat, dass ich immer schon Leute faszinierend fand, die sich dem Nichtstun hingegeben haben. Wie die französischen Situationisten, die im Hotel wohnten und vom Leben auf der Strasse angezogen wurden. Oder wie Ernest Hemingway, der die Hälfte seiner Pariser Jahre im Café verbracht hat. Das Café steht heute wie damals für einen bestimmten Begriff von Öffentlichkeit. Halb auf der Strasse, halb für sich. Ein Bestsellerautor von heute dagegen arbeitet von acht Uhr morgens bis vierzehn Uhr und liefert jeden Tag ein Pensum von sieben Seiten. Das ist für mich absurd. Ohne Inspiration und Musse.

Welche Zeit ist im Rückblick die glücklichere für Sie: die vor oder die nach der Verlagsgründung?
Tja, mit dem Glück ist das so eine Sache. Die achtziger und neunziger Jahre waren sicher aufregend. Trotzdem würde ich sagen, dass ich jetzt mehr bei mir selber bin als jemals zuvor …

… während die Geschichten wichtiger Autoren des Verlags, vom Ende her betrachtet, traurig wirken: Eike Geisel stirbt mit 52 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls, Christian Schultz-Gerstein erstickt mit 41 an seinem Erbrochenen, Wolfgang Pohrt verbringt die letzten Jahre in einem Pflegeheim, Wiglaf Droste starb erst kürzlich mit 57 Jahren an den Folgen einer Leberzirrhose. Dann wäre da noch der Essayist Mark Fisher, der unter Depressionen litt und sich umgebracht hat, ebenso wie Hunter S. Thompson, der sich eine Kugel in den Kopf, und Guy Debord, der sich ins Herz geschossen hat. Männer also, die scharf, radikal, brillant schreiben konnten – und vorzeitig abgetreten sind, am Ende waren, nicht mehr konnten.
Da kann man natürlich ins Grübeln kommen. Auf der Buchmesse neulich habe ich einen Autor getroffen, der gemeint hat: «Bin ich froh, dass ich bei dir nichts veröffentlicht habe – dann wär ich jetzt wahrscheinlich schon tot!» (Lacht.) Also, ich habe offenbar ein Faible für Alkoholiker, Melancholiker, von mir aus auch für Depressive. Für Leute also, die mit ihrem Leben nicht zurechtkommen. Nicht alles gut finden, die am Leben und unter den Verhältnissen leiden. Für die eben nicht alles rund läuft. Und egal, was die dann genau machen, Theorie, Satire, Reise- oder Kochbücher – auf dieses Besondere kam es mir an.

Ihr verlegerisches Programm ist von Beginn an stark von politischen Diskursen bestimmt, die das klassische Links-Mitte-rechts-Schema unterwandern. Gab es etwas in Ihrem Leben, das Sie politisiert hat?
Ein einschneidendes Erlebnis war die Osterdemonstration in Nürnberg. Das war 1968, da war ich sechzehn. Es handelte sich um eine friedliche Zusammenkunft von ein paar Hundert Leuten im Zentrum. Dann hat die Polizei eingegriffen. Mit Schlagstöcken. Ohne erkennbaren Grund. Das war vielleicht eine Art Initiation. In der Zeit bekam ich eine Ausgabe der kommunistischen «UZ» in die Hände, «Unsere Zeit» hiess die. Die hat mein Vater bei mir entdeckt und sie in einem Wutanfall zerrissen. Ich hab sie aus dem Papierkorb genommen und die Seiten einzeln wieder zusammengeklebt. Das war die erste politische Lektüre. Einer aus dem damaligen Freundeskreis hat kurz darauf für mich die Fischer-Kompaktausgabe der Werke von Marx und Engels geklaut mit dem Hinweis, das sei wichtig für meine Bildung.

Und dann haben Sie der Gesellschaft den Kampf angesagt?
Es war eher umgekehrt. In Nürnberg, wo ich damals wohnte, muss ich für die Polizei eine unglaublich gefährliche Person gewesen sein, ohne dass ich dafür viel tun musste. Zivilbeamte haben sogar eine Ladenwohnung angemietet, um zu gucken, wer bei mir ein und aus ging. Mir wurde das erst klar, als ein Freund zu mir sagte: «Sag mal, du wirst ständig von der Polizei verfolgt, weisst du das eigentlich?» Da er den Polizeifunk abhörte und davon Aufnahmen machte, hat er mir eine Kassette gegeben. Die gibt es leider nicht mehr, das wäre ein nettes Dokument. Da unterhalten sich die, mit Klarnamen: «Jetzt fährt der Bittermann die Strasse entlang. Und jetzt fährt er dahin und dorthin und zu dem und dem …» (Lacht.)

Klingt wie eine Romanszene.
Es war bizarr. Nicht umsonst gab es in Nürnberg die höchste Polizeidichte in der ganzen Republik. Man ging sehr rigide mit widerspenstigen Jugendlichen um, die fasziniert waren von den Häuserkämpfen in Berlin, Amsterdam, London und Zürich. 1981 gabs sogar eine Massenverhaftung. Eine Hundertschaft Polizei umzingelte das kommunale Jugendzentrum KOMM wegen ein paar Schaufensterscheiben, die zu Bruch gegangen waren. 141 Jugendliche wurden verhaftet. Ich hätte genauso darunter sein können. Und da wurde mir klar, dass ich hier nicht länger bleiben will. Als ich dann nach Berlin zog, hat sich zum Glück erst einmal niemand mehr besonders für mich interessiert.

Wie kam es zur Verlagsgründung?
Das waren Leute aus Köln, Hamburg, Nürnberg, Berlin und München, die sich unabhängig von der Politszene ihre eigenen Gedanken machten. Es war unglaublich wichtig, dass es andere gab, die einem den Horizont geöffnet haben. Von alleine kommst du da ja nicht drauf. Das war schon in Kulmbach so, wo ich herkam: Wenn es diese Blase nicht gegeben hätte, keine Ahnung, was aus mir geworden wäre. Wahrscheinlich auch ein Angestellter wie mein Vater. Wir haben also überlegt: Was können wir gesellschaftlich bewegen? Was können wir machen? Da ist natürlich das Übliche herausgekommen. Ein Zeitschriftenprojekt. Ein Verlagsprojekt. Ein Filmprojekt. Ich hatte mich dem Verlagsprojekt angeschlossen. Das war 1979. Nach einem Jahr stand ich allein da. Und habe das einfach weitergeführt. Bis heute.

Wie würden Sie Ihre Herkunft beschreiben?
Ich komme aus sehr kleinbürgerlichen Verhältnissen. Das heisst, ich habe nichts von zu Hause mitbekommen und musste mir alles selbst aneignen. Mein Vater hatte keine sonderlichen Überzeugungen. Ausser dass er autoritär strukturiert war, wie jeder damals. Dafür habe ich ihn gehasst. Er ist auf dem Land aufgewachsen, mit zwei Brüdern. Alle drei sind eingezogen worden. Einer ist gefallen. Einer kam ohne Bein zurück. Der andere, mein Vater, ohne Arm, und als die Wunde verheilt war, war der Krieg aus. Er bekam, als Kriegsversehrter, vom Staat eine lebenslange Stelle beim Arbeitsamt zugewiesen. Mit den Nazis hatten meine Eltern nichts im Sinn, meine Mutter, die noch viel jünger war, sowieso nicht. Gleichzeitig sind sie davon ausgegangen, dass alles so sein muss, wie es nun mal ist. Später, als ich den Kriegsdienst verweigert habe, hat mir mein Vater eine Bescheinigung ausgestellt, dass er im Krieg verwundet wurde und deshalb nicht will, dass ich zur Bundeswehr gehe. Das war überraschend. Es hat mich sehr gerührt.

Hatten Ihre Eltern Verständnis für Ihre verlegerischen Ambitionen?
Bei Verlagsgründung war ich 27. Dass ich davon leben konnte, fing erst Mitte der Achtziger an. Ich habe meinen Eltern dann immer wieder mal Bücher geschickt, vor allem, wenn ich selbst welche geschrieben hatte. Meine Mutter hat zwar immer gesagt, sie habe das gelesen, aber ich bezweifle das. (Lacht.) Als es dann ein grosses Jubiläum gab und Roger Willemsen eine Laudatio auf mich gehalten hat, sind sie nach Berlin gekommen. Da habe ich zum ersten Mal wahrgenommen, dass sie das schon irgendwie beeindruckt und sie stolz darauf waren, was ihr Sohn da treibt.

Wie denken Sie darüber, Deutscher zu sein?
Es gibt diesen bayerischen Dichter, der mal gesagt hat: «Heimat ist da, wo man sich aufhängt.» Franz Dobler hat das mal geschrieben, und der hat es, glaube ich, von Herbert Achternbusch. Das finde ich grossartig. Dass ich Deutscher bin, ist eine biografische Zufälligkeit. Ich bin hier geboren. Ich spreche die Sprache. Das ist okay. Aber ich kann keine Identität oder nationale Gefühle davon ableiten. Und ich glaube auch, sobald man sich auf diese Begrifflichkeiten einlässt, hat man schon verloren. Nationale Identität lässt sich nicht ins Positive wenden. Sie ist nicht zu retten.

Der Soziologe Wolfgang Pohrt, der letztes Jahr starb, hat sich mit genau diesen Fragen beschäftigt. Sie arbeiten momentan an einer Biografie über ihn und geben seit letztem Jahr eine elfbändige Werkausgabe heraus, den blauen Bänden der Marx-Engels-Werke nachempfunden. Was bedeutet Ihnen Pohrt?
Wolfgang Pohrt war für mich ganz wichtig. Von niemandem habe ich mehr gelernt als von ihm, vor allem theoretisch, die Art der Kritik, des Denkens, der Argumentation. Ich hatte vor der Verlagszeit in Erlangen Politologie, Soziologie und Philosophie studiert. Sass in Kant-Vorlesungen. Wenn man einen Klassiker wie Hegel las, war das wie aus der Zeit gefallen. Selbst bei Adorno war das noch ein bisschen so. Ganz anders Pohrt. Der hatte die grosse Gabe, sein theoretisches Wissen auf die aktuellen Diskussionen anzuwenden. Gleichzeitig habe ich durch ihn sehr viele Leute kennengelernt, das Verlagsnetz hat sich rhizomartig ausgebreitet.

Eines der wichtigen Themen für Pohrt war der Nationalismus, den er in der Friedensbewegung wie später auch bei den Grünen sah. Ausserdem hat er mit grösster Lust Begriffe dekonstruiert und konnte mit radikal einfachen Feststellungen verblüffen wie etwa: «Der Mensch hat keine Wurzeln, sondern Füsse.»
Sein Lieblingssatz ging so: «Sie sagen mir, was Sie denken, und ich sage Ihnen, warum es falsch ist.» Und das war nicht bloss ein Spruch. Als einer der Köpfe der kritischen intellektuellen Szene hat er es immer wieder geschafft, ein ganzes Auditorium gegen sich aufzubringen. Was er anstrebte, war eine grundsätzliche politische Auseinandersetzung, auf sich selbst nahm er dabei keine Rücksicht. Dabei hat er ein ganz untypisches Leben geführt. Er hat seine Jugendfreundin, eine Balletttänzerin, geheiratet und war mit ihr sein ganzes Leben zusammen. Es war eine traditionelle Ehe, während sonst in der Szene alternative Lebensformen ausprobiert und offene Dreierbeziehungen diskutiert wurden.

Anders als Sie ist Pohrt ohne Vater aufgewachsen. Ja, und das ist nicht unerheblich. Ich lese gerade Stuart Jeffries’ Buch «Grand Hotel Abgrund». Die meisten aus der Protestbewegung und eben auch aus der Frankfurter Schule kamen aus grossbürgerlichem Hause. Der Vater von Horkheimer zum Beispiel war Unternehmer. Jeffries führt aus, dass die Opposition zur Gesellschaft stark von der Auseinandersetzung mit den Vätern beeinflusst war. Pohrt hatte dieses Motiv nicht. Er musste sich nicht von dem abgrenzen, was ein Vater will, sondern aus sich selbst Kraft schöpfen. Sich selbst erfinden. Sein Glück war, dass es die Protestbewegung gab, in deren Sog er geriet.
War er als Autor Ihres Verlags auch ein Freund?
Schwer zu sagen. Er wohnte in Stuttgart, ich in Berlin. Da begegnete man sich nicht allzu oft. Wir waren jedenfalls immer in Kontakt. Und wir waren immer ehrlich zueinander. Wenn er den Eindruck hatte, ich drifte jetzt ab und mache fragwürdige Bücher, hat er mir das auch gesagt. Ich habe ja auch satirische Autoren verlegt, Bücher über Fussball oder das «Who’s who peinlicher Personen». Das war für ihn das Letzte.

Anfang der Neunziger wurde Pohrt zum Chefkommentator der linken Zeitschrift «konkret».
Journalistisch hat er immer noch brillant argumentiert. Die Leichtigkeit der Anfangsjahre aber war verflogen. Er wurde zunehmend desillusioniert. Es folgte ein Rückzug auf Raten. 2004, als noch einmal ein Buch von ihm erschien, war auch das Jahr, in dem seine Frau starb. Von da an zog er sich völlig zurück. Er schickte mir sogar sein Testament, und ich hatte Angst, er würde sich umbringen. Jeden Morgen und jeden Nachmittag ging er zu ihrem Grab.

Zu den Bewunderern von Pohrt gehören die Schauspielerin Sophie Rois genauso wie einer der letzten amtierenden Grossintellektuellen, Hans Magnus Enzensberger.
Seine Fangemeinde war immer relativ klein. Seine Bewunderer wussten, dass Pohrt ein Solitär war. Am Ende, als Pohrt gar nichts mehr veröffentlichte, war es Enzensberger, der mich fragte, was mit Pohrt los sei, er habe schon länger nichts mehr von ihm gelesen. Ob er Probleme habe, vielleicht finanzielle Unterstützung benötige? Dank ihm war es dann möglich, eine Vorleserin zu bezahlen, um den Heimaufenthalt für ihn erträglicher zu gestalten.

Bei Pohrt stösst man auf eine andere wichtige Autorin Ihres Programms, auf Hannah Arendt und ihren Satz: «Man muss mit sich selber zusammenleben, was immer man auch gemacht hat.» Sie sind, was immer Sie gemacht haben, dem Einzelgängertum verpflichtet geblieben, auch jetzt noch, im Zeitalter der Communitys.
Das hat einen gewissen Vorteil: Wenn etwas schiefläuft, hab ich nur mit mir zu tun.

Sie haben eine Vorliebe für Anzüge und Hemden. Eine gewisse modische Korrektheit?
Damit habe ich mich von einer bestimmten linken Szene abzusetzen versucht. Schon Pohrt hat sich gerne über den alternativen Schlabberlook lustig gemacht. Diese Nachlässigkeit, mit der jemand zeigt, der eigenen Person keine sonderliche Bedeutung beizumessen.

Sind Bestseller für einen unabhängigen Verlag noch möglich?
Möglich schon, aber nicht planbar. Ich hab in meinem Leben zwei Bestseller gemacht. Der eine war der Roman «Harold» von einem Autor namens Einzlkind, ein Debüt übrigens, das ich unbedingt machen wollte, allein schon, weil ich mich selbst so dabei amüsiert hatte. Der andere, das war die Autobiografie von Harry Rowohlt.

Wäre es nicht konsequent, auch im Sinne von Autoren wie Pohrt oder Geisel, wenn Sie, nach vierzig Jahren kritischem Diskurs in der Edition Tiamat, ein Buch verlegen würden, das die AfD dekonstruiert?
Früher hatte man als kleiner Verlag den Vorteil, beweglicher zu sein und schneller reagieren zu können. Das hat sich geändert. Wenn ein neues Phänomen aufkommt, ist zwei Wochen später der Titel eines Grossverlags auf dem Markt. Mit einem Buch über die AfD wäre ich wahrscheinlich der Zwanzigste gewesen. Dazu kommt, dass man sich im Prinzip nur wiederholen kann. Ich habe selbst einen Artikel mit dem Titel «Mit Nazis reden» geschrieben und habe schon beim Schreiben gedacht: Ich wiederhole mich selber. Ich wiederhole Pohrt. Ich wiederhole Droste. Es gibt dazu nichts Neues. Es gibt eine Haltung dazu, und die ist entscheidend. Nicht dieses «Aufeinanderzugehen» oder dieses «Brückenschlagen» aus dem Wörterbuch der Schaumsprache – die die Neuen Rechten nur salonfähig macht.

Die Hauptreihe Ihres Verlags heisst «Critica Diabolis». Wie ist das nun mit dem Teufel – ist er eher gut oder eher böse?
Also, ich würde sagen, wenn wir uns jemals im Jenseits treffen sollten, dann bestimmt bei ihm zu Hause.

Edition Tiamat : Tun, was man mag und muss

Der im Berliner Stadtteil Kreuzberg ansässige Verlag Edition Tiamat hebt sich von den zahlreichen anderen unabhängigen Verlagshäusern im deutschsprachigen Raum allein schon dadurch ab, dass er das Werk eines Einzelnen ist. Woanders werden Projekte besprochen, Konferenzen einberufen, Teamsitzungen abgehalten oder gar Communitys aufgebaut. Hier aber ist es, seit der Gründung vor vierzig Jahren, einfach Klaus Bittermann, der über eine Tastatur mit der Welt in Verbindung steht. Lange bevor das digitale Zeitalter begann. Die Haltung, die er dabei verkörpert, ist die eines engagierten Utopisten, der zum Weitermachen nicht unbedingt einen Businessplan braucht; eher einen Espresso und einen guten vorbeifliegenden Gedanken im richtigen Moment.

Das Wohnzimmerbüro des Einpersonenlangzeitexperiments befindet sich im Erdgeschoss, mit Blick auf die Strasse, und das grösste Verdienst von Bittermann, der, von einer eher lächerlichen Ausnahme abgesehen, nie einen Preis bekam, dürfte darin bestehen, das Leben auf der Strasse und den Reflexionsraum freien Denkens in einem verlegerischen Programm zusammenzubringen. Über 330 Titel sind bislang erschienen.

Die Übergänge seines Tuns sind dabei fliessend. Lesen und Auswählen, Redigieren, was andere geschrieben haben, und das eigene Schreiben von Krimis bis Alltagsskizzen, Papier bedrucken, Papier binden lassen und irgendwie dazu beitragen, dass die entstandenen Bücher ihren Weg in Buchhandlungen und von dort in die Regale der Republik finden; um schliesslich Denkfiguren infrage zu stellen, oder warum auch nicht gleich: ein ganzes System.

Bittermann ist ein Autor/Verleger. Etwas, was es sonst eigentlich nicht gibt. Doch das eine ist für ihn ohne das andere nicht zu haben. Allerdings ist er aber auch keiner, der am Schreibtisch festgewachsen ist und an den Tasten klebt. Nichtstun ist ihm heilig (zumindest als Idee). Müssiggang. Haltung. In Bewegung sein. Herumlaufen. Spazieren. Etwas tun, weil man es gerade tun mag und muss (und aus keinem anderen Grund). Und er weiss auch, dass Engagement ohne Genuss zwar möglich, aber sinnlos ist.

Von da aus ist es vermutlich gar nicht so weit zu einer Vorliebe für Melancholikerinnen, Randfiguren, Trinker, Drogensüchtige und Revolutionärinnen, die wiederum ganz nah bei den Satirikerinnen und Komikern stehen. Denn eines der Geheimnisse des Lebens (und Verlegens) besteht in dem, was Muhammad Ali einmal so formulierte: «Es gibt keine Witze. Der beste Witz von allen ist die Wahrheit.»

Und so findet sich im Programm der Edition eine auf den ersten Blick sonderbare Mischung von Autorinnen und Autoren: Hannah Arendt und Harry Rowohlt, Roger Willemsen und Lee Miller, Guy Debord und Hunter S. Thompson. Und allen voran der Ideologiekritiker Wolfgang Pohrt, der seit kurzem mit einer Werkausgabe gewürdigt wird. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Suchende sind, die sich mit schnellen Antworten nicht zufriedengeben. Und die kluge und radikale Fragen zu stellen wissen.

Wolfgang Farkas

Zuletzt erschienen:
Klaus Bittermann: «Einige meiner besten Freunde und Feinde». Edition Tiamat. Berlin 2019. 384 Seiten. 29 Franken.
Wolfgang Pohrt: «Werke Band 1. Theorie des Gebrauchswerts». Edition Tiamat. Berlin 2019. 592 Seiten. 44 Franken.