Coronatagebuch: Eigentlich ein leichter Tag

Nr. 12 –

Unsere Autorin ist Risikopatientin und hat sich seit fast zwei Wochen aufs Land zurückgezogen. Ein Auszug aus ihrem Tagebuch.

Michèle Meyer: «Zum Glück werde ich sauer. Das hilft.»

Freitag, 13. März. Seit genau einer Woche bin ich auf dem Land; im Schutzraum. In der Isolation. Im Grunde. Zu Hause. Im Wald. Ich übertreibe. Noch gehen meine Töchter ein und aus, noch kommt meine Liebste vorbei. Sieben Tage Rückzug als Risikopatientin, vieles ist wie immer und alles ist anders. Das meiste ist Kopfkino. Heute war ich kurz unterwegs. Im ÖV, versteht sich. Ich hatte auf den Termin bei der orthopädischen Abteilung im Kantonsspital schon länger gewartet; wollte den nicht verschieben.

Um die Mittagszeit sitze ich auf einer Zweierbank im Bus. Das Timing schien gut. 9 Uhr ist machbar, dachte ich. Wartezeit und Rückweg hab ich nicht bedacht. Et voilà. Ich schaue leicht angestrengt aus dem Fenster. Ich komm mir einmal mehr blöd vor, stelle trotzdem sicherheitshalber die Tasche auf den Platz neben mir. Die Tage ertappe ich mich öfter, wie ich mich vor mir selber rechtfertige. Bis einer hustet. Gedanken jagen mich. Zum Glück hustet er so penetrant, dass ich sauer werde. Das hilft.

Bubendorf Steingasse, der hustende Mensch steigt aus. Mein Puls wird ruhig. Ich verkneife mir ein kleines Gelächter. Später am Tag lausche ich den Mitteilungen des Bundes. Den OP-Termin kann ich gedanklich schon mal streichen. Mitte April ist viel zu früh. Das Epidemiengesetz greift, ich bin froh. Meine Teenagerinnen werden nicht als Einzige der Schule fernbleiben müssen. Kein Sondersetting. Ich weiss noch immer nicht, ob meine Ängste übertrieben oder untertrieben sind. Gesundheitspolitik über Jahrzehnte hat mich gestählt. Ich kann Fakten von Vorurteilen, Sorge von Panik unterscheiden. Dachte ich. Aber dann ist da eine beeinträchtigte Lunge, ein Herz, das nicht so tut, wie es sollte, und eine ganze Reihe Komorbiditäten rund um die HIV-Infektion, die mich ins Schleudern bringen. Ich will leben. Lieben. Noch verdammt lange.

Samstag, 14.  März. Eigentlich ein leichter Tag. Die verkündeten Massnahmen beruhigen. Mich zumindest. Und sie verlangsamen. Das Leben. In den Vorgärten spielen Kinder. Ich bin froh.

Vorhin beim Einkaufen sehe ich leere Regale, Menschen mit unzähligen Sixpacks Wasser ohne Kohlensäure. Junge Menschen. Paare und Familien. Ich unterstelle ihnen so gut wie null Risiko, aber einen Bauchnabel wie das Zentrum der Welt. In meinem Wagen das Essen fürs Wochenende. Punkt. Beim Wägelidepot überrennt mich fast eine junge Frau, mit mindestens vierzig Wasserflaschen beladen. «Das Leitungswasser wurde noch nicht abgestellt», sag ich frech und verlasse für heute diese verrückte Welt.

Trotzdem: Heute ist ein leichter Tag. Wäre ein leichter Tag. Hätte ich nicht plötzlich Halsschmerzen, das Gefühl von Fieber. Ich würde es mir nie verzeihen, denke ich. Versuche Angst und Wut zu verstecken. Tränen verraten mich – und mein besorgter Blick zu dir. Du hältst mich fest. Später spielen wir Carambole, lachen. So viel Leben muss sein. Angelo Branduardi trällert: «Sono io la morte e porto corona, io son’ di tutti voi signora e padrona, e così sono crudele, così forte sono e dura …»

Wir spielen uns um Kopf und Kragen.

35,6 Grad Celsius.

Sonntag, 15. März, frühmorgens. Eben träumte ich. Von renitenten Fasnachtsbesessenen, die Wochen verspätet die Mittlere Brücke in Basel besetzen; von geöffneten Clubs. Ich liege wach. Grüble. Es ist halb sechs Uhr morgens. Die Kirchenglocken läuten. Ich kuschle mich nochmals an deinen Rücken. Alles wird gut. Und wenn ich es mir einbilden muss. Als ich wieder erwache, ist mein Kehlkopf definitiv entzündet. Egal. Es fühlt sich nach Urlaub an. Nur surrealer. Die Sonne scheint. Draussen pilgern die Wandernden in Scharen vorbei. Das Hündli jagt Zitronenfalter, und ein Regenbogen verzaubert den Wasserfall im Wald. Die Regierung hat die Notlage im Kanton beschlossen. Tag 9 meines Rückzuges: Meine Texte sind obsolet. Wir sind jetzt fast alle im selben Boot. Und auch wenn «Social Distancing» Pflicht wird, Solidarität hat Rückenwind. Aber wenn du morgen nach Hause fährst, kann es sein, dass wir uns lange nicht mehr sehen. Du dort.

Ich hier. Die Leichtigkeit, das langsame Leben, die Zärtlichkeit des Moments sind flüchtig. Ich mach mir Sorgen. Die Teenies sind noch nicht zu Hause.

Noch ist es Montag, 16.  März. Ich bin seit zehn Tagen zu Hause, öfters in Erklärungsnot. Ein Sonnentag, der schwer lastet. Du bist nach Hause gefahren. Zwischendurch brennen die Emotionen mit mir durch. Ich bin nicht so cool. Dafür aber froh, sind die Pubertillas nach Hause gekommen. Gewohnt aufmüpfig. Homeschooling ist scheisse. Isolation sowieso. Ich verdrücke schon wieder Tränen. Es mag mich. Auch das Gelächter; der künstliche Husten. Wo ist bloss mein Humor geblieben? Nach zwei Stunden Warten die Gewissheit: Lockdown in der ganzen Schweiz. Wenigstens das.

Per Whatsapp, im Gespräch mit mir Lieben, zitiere ich Bundesrat Berset. Nerve. Nur: Wer braucht jetzt Heldinnen? Die Gesunden schaffen das auch ohne uns. Ich bitte euch. Ich war auf viel zu vielen Beerdigungen in jungen Jahren.

Die Einschränkungen im ÖV machen mir Sorgen. Mein Leben ist weder urban noch motorisiert. Ich vermisse dich schon jetzt. Das Emmental ist viel zu weit weg. Ich trinke mir den Montag schön und lerne Selfcare.

Es wird Dienstag, 17. März. Ich sitze über Textfragmenten, angefangenen Wollsocken und Postkarten. Postkarten statt Umarmungen. Meine zwei zu Hause gestrandeten Töchter sind fünfzehn und fast achtzehn. Keine 24 Stunden nach dem Lockdown wären sie wohl gerne in der Schule, oder überall, nur nicht hier. Mir fehlt das Gegenüber. Du. Bin dünnhäutig und kitschig; weniger freiheitsliebend als andere. Erstaunlich.

Der Kehlkopf unverändert. Ich bete mir zwischendurch runter, was ich alles überlebt habe. Aber davon wird meine Laune nicht viel besser. Also schnappe ich mir Vanilleeis und giesse heisse Beeren darüber. Seelensüsses für Notfälle. Ich will nicht verstehen, dass ÄrztInnen Atteste nur für sieben oder vierzehn Tage ausstellen. Dass lohnbeziehende RisikopatientInnen ausgeliefert sind. Dem Goodwill statt der Verantwortung. Du sagst: «Welcome to the world.» Nicht meine Welt, denke ich. Später lockt die Sonne. Nach wenigen Metern über Feld und Wiese liege ich zwischen Himmelsschlüssel und Wiesenschaumkraut. Im Tümpel liegt ein toter Frosch. Leben und Tod sind nahe beieinander, im Frühling. Ich bin traurig und froh. Am Himmel kreist ein Milan.

Mir fällt ein Spruch ein; irgendwo an eine Wand gesprayt: «Rettet die Zärtlichkeit!» Das nehme ich mir für später vor. Nach dem Überleben und vor dem Ein-Clown-Stück, das ich mir noch überlege. Eines, das von gescheitertem Suizid handelt, oder von Kühlschrankgesprächen, zum Beispiel. Das wird lustig.

Bleibt gesund!

Michèle Meyer (54) ist Aidsaktivistin aus dem Baselbiet und Clown. Seit über 25 Jahren kämpft sie gegen die Diskriminierung von Menschen mit dem HI-Virus, seit Anfang März ist sie in der «freiwilligen Isolation».