Notizen einer Risikopatientin: Zum Glück scheint gerade die Sonne

Nr. 45 –

Was heisst das, wenn man sich coronabedingt monatelang in Selbstisolation begibt? Wie hält man das aus? Und was bleibt einem an Hoffnung und Zuversicht?

Michèle Meyer, Clown

Herbst also. Irgendwie eine Ganzjahreszeit in diesem 2020. In meinem Kopf trällert Bettina Wegner: «Es wird so sein wie im November, sei es auch Mai, sei es September. Das wird ein Sturm sein ohnegleichen, wird jeden Punkt der Welt erreichen.» Nur, es wird weder «den Schmutz wegfegen, noch die Ketten». Stattdessen werden die Risse und Gräben tiefer. Freundschaften vergehen, Bissigkeiten sind an der Tagesordnung. Und je nach Tagesform ist Solidarität grossgeschrieben – oder sie hat sich längst selbst vergessen.

Ich merke es bei mir selber: Ich lasse die Schlagzeilen liegen, zunehmend fürchte ich den Blick über den Tellerrand. Das Geschirr ist zerschlagen, die Welt mir fremd geworden. Nur manchmal packt mich noch heiliger Zorn. Dann bin ich froh.

Natürlich, da war ein Sommer. Und ich hab das Draussensein genossen. Unterwegs mit dir. Auf den Spuren schöner Kindheitserinnerungen haben wir Pässe und Täler durchquert. Fast, als wäre nichts. Kein Virus. Aber ganz täuschen konnte ich mich und uns nicht. Nicht mal mit der weltbesten Bündner Nusstorte und auch nicht mit der Farbenpracht der Lupinen im Val Fex.


Bis Ende März habe ich Angst und Trauer akribisch notiert; versucht, das Coronatagebuch weiterzuführen, mich festzuhalten an Strukturen, Rhythmen, wiederkehrenden Wochentagen. Nur, irgendwann – ich wünschte, ich erinnerte mich, wann und warum – begann sich vieles zu vermischen. Gerade weil sich der Unterschied zum Vorjahr täglich wie eine Riesin durch meine kleine Welt zwängt, raubt mir das Eintönige die Sprache. Ich vermisse so vieles. Und vor allem: viele. Wie wundervoll bunt und klar, wie klangvoll und warm 2019 doch war: der feministische Streik, die ganzen Vorbereitungen. Wie vielversprechend der Aufbruch in eine Welt, die Leben und Lieben versprach.

Gut. Das war. Was ist, ist: Ich bin noch immer zu Hause. Und nahezu ver-rückt. Die Verlustangst hat die Bronchien mit Nebel eingedeckt, das kindliche Asthma ist zurück. Noch rauche ich nicht. So weit kommt es nicht. Aber: Die Verunsicherung trifft mich abgrundtief. Existenziell. Ich zweifle immer und sofort, wenn es sich anbietet, an mir und am Leben. Der IV-Gutachterarzt hat mal gefragt: «Warum haben Sie Todesangst?» Ja, warum wohl? Weil der Tod omnipräsent ist, immer wieder grinsend im Nacken sitzt. Kaum habe ich ihn ausgetrickst, taucht er völlig unerwartet am anderen Ende auf. Er ist ein Arschloch, dem auch mit wachsender Diagnosensammlung nicht beizukommen ist. Mit Corona sowieso nicht.

Ganze fünf Mal bin ich seit März raus, einmal in eine Galerie. Umwerfend. Konzeptkunst vom Feinsten. Politisch. Ver-innerlicht – und obendrauf ein Abend mit der Liebsten unter Menschen. Das war notwendig. Zweimal besuchte ich Parteiveranstaltungen, einmal eine Mitgliederversammlung. Ich habe es genossen und hinter meiner Maske über mich selbst gelächelt. Wie einfach ich manchmal doch ticke: Ein bisschen mitgestalten, ein bisschen mitwirken – und schon bin ich versöhnter mit mir und der Welt.

Warten auf Symptome. Oder besser: auf Entwarnung. Das ist nicht dasselbe wie Warten auf ein Wiedersehen, auf bessere Zeiten. Aufs Nicht-mehr-Warten. Die Widersprüche könnten nicht grösser sein. Die Liebe wächst. Und ich träume von einer Zukunft, von der ich nicht weiss, ob sie wirklich so viel Ähnlichkeiten mit der Vergangenheit haben kann, wie ich es mir manchmal wünschte. Und träume vom ersten grossen Fest, zu dem ich einladen möchte, rauschend, lachend, liebend – und etwas übertrieben.


Die Realität sieht anders aus: Noch immer findet keine IV-Integrationsmassnahme statt. Ich gebe keine Workshops. Nicht hier, nicht in Deutschland, nicht in meiner Community. Zehn Tage Quarantäne wären das Letzte, was ich brauchen könnte. Und so sitze ich weiterhin da und warte.

Das letzte Register heisst Zaster. Doch der kommt nicht. Das Bilderbuchprojekt stagniert. Kein Verlag, der anbeisst. Das Clowntraining: unmöglich. Und auch die «Regionale» – die Dreiländerausstellung 2020 – will nichts von meinem Kunstprojekt «Hungertuch» wissen. Obschon dieses Thema ja fast schon visionär war, als ich vor zwei Jahren daran zu arbeiten begann. Egal. Ich bekomme keinen Fuss in die Tür, weder vor noch mit Corona. Was für ein Trost.

Zum Glück scheint gerade die Sonne. Der kobaltblaue Himmel im Baumgeäst flieht. Ich wünsche mir Umarmungen, Liebesgeflüster, Flugwörter, Gelächter. Tanzen bis zum Umfallen. Und wenn es geht: einen komplett anderen Film.

Michèle Meyer (55) ist Clown aus dem Baselbiet. Als Aidsaktivistin kämpft sie seit über 25 Jahren gegen die Diskriminierung von Menschen mit dem HI-Virus. Seit Anfang März befindet sie sich in der «freiwilligen Isolation». Lesen Sie dazu auch den Text aus ihrem Coronatagebuch in diesem Frühling (WOZ Nr. 12/2020 ).