Risikopatienten: Leben im toten Winkel

Nr. 19 –

Timo Felder (30) und Gilles Santi (10) leben mit schweren Muskelerkrankungen. Während der Pandemie fielen sie durchs Raster. Aber sie erkämpften sich ein bisschen Normalität zurück.

Seit Geburt lebt Timo Felder – hier mit Vreni Rogger, eine seiner fünfzehn AssistentInnen – mit der spinalen Muskelatrophie Typ II. Wenn er sich infizierte, müsste er wohl ins Spital – für ihn eine grauenvolle Vorstellung.

Freiheitsentzug? Eingeschränkte Rechte? Lockdown? Für Loretta Santi war der März 2020 vor allem eines: der Monat, in dem ihr damals neunjähriger Sohn Gilles die Fähigkeit, auch nur ein paar Schritte alleine zu gehen, vollständig verlor. «Daneben wurde zu diesem Zeitpunkt alles unwichtig», erzählt die 49-jährige ETH-Assistentin, «die Angst folgte erst später.» Bei Gilles wurde die Duchenne-Muskeldystrophie diagnostiziert, eine Erkrankung, die als unheilbar gilt.

Ein Jahr später. Es ist Mittag, Gilles braust mit seinem elektrischen Rollstuhl über die Strasse der Zürcher Seegemeinde zum Mehrfamilienhaus, in dem er mit seinen Eltern wohnt. Er wendet gekonnt auf der schmalen Stelle zwischen Auto und Rollstuhllift. Dieser befördert ihn auf die Höhe des Gartensitzplatzes, wo er selbstständig durch die Gartentüre an den Esstisch rollt: der Zugang zu seinem Zuhause – ein Hindernis, das der Zehnjährige nun alleine bewältigen kann.

Das letzte Jahr brachte der Familie aber weitere Erschwernisse, bei denen sie Unterstützung gebraucht hätten. Auf eine Impfung warten die Santis im Kanton Zürich zu diesem Zeitpunkt im April noch immer, sie stehen an, bis diese für weitere Bevölkerungsgruppen zugänglich wird. Die Angst, ihren Sohn zu gefährden, war im letzten Jahr dauernder Begleiter. Gilles trinkt unterdessen Rivella mithilfe eines Strohhalms, er beantwortet die Fragen von Vater und Mutter einsilbig. Die Englischprüfung allerdings, die er mit Bravour gemeistert hat, zeigt er gern. So normal das gemeinsame Mittagessen bei Santis heute wirkt, so turbulent war das letzte Jahr.

Aerosol, Alarm und Ängste

Auch im luzernischen Schüpfheim ist es Zeit fürs Mittagessen. Nach dem Klingeln werden Schritte hörbar. Es ist Vreni Rogger, die die Türe öffnet. Die 69-Jährige arbeitet als Assistentin für den dreissigjährigen Timo Felder. Seit Geburt lebt Felder mit der spinalen Muskelatrophie Typ II; er ist rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen. Felder erscheint im Türrahmen seines Büros. Er sitzt in einem wuchtigen elektrischen Rollstuhl, seine Glieder wirken kurz, der rechte Arm fehlt. Mit seiner Unterlippe bedient er einen Joystick, mit dem er auf das mobile Fahrgerät sowie auf sein Handy und den Computer zugreifen kann. Er freut sich über Besuch, das Leben war eintönig im letzten Jahr. Gesprächig und eloquent lässt er in sein Leben blicken.

Der Alarm eines Weckers unterbricht Felder. Zeit zum Lüften! Eine Sicherheitsmassnahme, die hier pandemiebedingt zum festen Tagesablauf gehört. Dann fordert das Essen Zeit und Geduld. Versiert zerkleinert seine Assistentin das Saltimbocca in feine Stücke. Aufmerksam kaut Felder die Bissen, schluckt konzentriert. Gleichzeitig zu sprechen, ist schwierig. «Aufgrund der schwachen Muskulatur fällt mir das Atmen schwer, ich kann auch nicht alleine abhusten», erklärt Felder. Das ist es auch, was ihn während der Pandemie besonders gefährdet macht.

Aus denselben Gründen gilt auch Gilles Santi als Risikoperson. Das wurde ziemlich schnell klar, als im Frühling das Telefon klingelte und sich die behandelnde Ärztin bei Loretta Santi und ihrem Mann meldete. Ihr Anliegen: Eine Patientenverfügung soll sicherheitshalber geschrieben und ergänzend dazu auf Bildern festgehalten werden, was der Zehnjährige noch selbst tun kann. «Das war ein absoluter Schock», sagt Loretta Santi, «ich hatte Panik.» Gilles hätte im Fall einer Triage schlechte Karten, das hatte die Schweizerische Akademie der Wissenschaften in ihren im November 2020 veröffentlichten Richtlinien festgelegt. In Fällen, in denen nur noch ein Intensivbett frei gewesen wäre, hätte eine Fragilitätsskala eingesetzt werden sollen. Die Abhängigkeit von der Hilfe Dritter galt als Auswahlkriterium, um intensivmedizinische Betreuung zu bekommen. Dagegen wehrten sich die Behindertenorganisationen in der Folge erfolgreich.

Es blieb nicht der einzige schwierige Moment. Die Tatsache, dass Gilles genau zu Beginn der Pandemie nicht mehr selbstständig gehen konnte, verschärfte die damalige Ausnahmesituation zusätzlich. Die Grossmutter, die Gilles bis anhin betreut hatte, konnte plötzlich nicht mehr alle pflegerischen Aufgaben übernehmen. «Da wir Tür an Tür wohnen, konnte unser Sohn zu uns ins Homeoffice kommen, wenn er zum Beispiel zur Toilette musste», erzählt die Mutter. Der Lockdown war für sie und ihren Mann in diesem Moment deshalb Fluch und Segen zugleich. «Einerseits mussten wir seine Betreuung komplett umorganisieren und wären eigentlich auf zusätzliche Hilfe angewiesen gewesen. Andererseits wollten wir das Ansteckungsrisiko durch möglichst wenig Kontakte so klein wie möglich halten.»

Timo Felder warf der Beginn des Ausnahmezustands zurück in seine Vergangenheit. Fremdbestimmung begleitete ihn durch die Schulzeit im Heim und später, im jungen Erwachsenenleben, durch das stationäre betreute Wohnen. Freiheiten erlangte er erst, als er sich quasi selbstständig machte. Felder wurde zum Arbeitgeber in eigener Sache und stellte eine Reihe von AssistentInnen an, die ihn in seinem Alltag unterstützen. Der Lockdown? Ein Rückschritt, begleitet von der Angst um sein Leben. Auch er versuchte im Rahmen seiner Möglichkeiten, das Ansteckungsrisiko klein zu halten. «Ich organisierte einen privaten Mini-Lockdown.» Die Assistentin mit dem grössten Arbeitspensum zog bei ihm ein, die Familie, die im selben Haus wohnt, half mit. Die selbst organisierte Quarantäne funktionierte während acht Wochen. Danach musste Felder abbrechen: Die Belastung für alle wurde zu gross.

Also bot Timo Felder die restlichen vierzehn AssistentInnen, die in einer Teilzeitanstellung für ihn arbeiten, wieder auf. «Damit setze ich mich immer einem Ansteckungsrisiko aus», sagt er, «das gilt auch für die Assistentinnen und Assistenten.» Da diese keiner Gesundheitseinrichtung angeschlossen sind, rutschen sie in der Impfstrategie des Bundes weit nach hinten. Sich zu infizieren, würde für Felder womöglich eine Einweisung ins Spital nötig machen. Für ihn eine grauenvolle Vorstellung, nachdem er dort aufgrund des herrschenden Zeitdrucks sehr schlechte Erfahrungen gemacht hat. «Ohne die Unterstützung meiner Angehörigen wäre eine Einweisung furchtbar.» Umso essenzieller ist es für ihn, Hygienemassnahmen gewissenhaft umzusetzen. «Mein Leben wird geführt wie ein KMU», sagt er und lacht. Er musste sich als Arbeitgeber beweisen. Da seine Angestellten in der Regel keinen fachlichen Hintergrund aus dem Gesundheitswesen mitbringen, musste er die Hygienemassnahmen auf eigene Faust einführen. Das dringend notwendige Schutzmaterial beschaffte er selbst. «Das habe ich aus allen möglichen Apotheken in meinem Umkreis zusammengeklaubt», sagt er. Die Kosten dafür trägt er selber.

Mit Abstand, desinfizierten Händen und Mund-Nasen-Schutz, so sieht Timo Felder die Menschen um sich herum nun seit einem Jahr. Er selbst kann keinen Mund-Nasen-Schutz tragen. Würde seine Atmung schwer, könnte er ihn nicht selbst ausziehen. Hinaus geht er selten: «Es könnte schnell heissen: Da kommt der mit dem Rollstuhl und trägt nicht mal eine Maske!»

Weniger Isolation, mehr Risiko?

Das Leben draussen wollten Santis ihrem Sohn nicht vorenthalten. Als die Schule im Sommer wieder öffnete, schickten sie ihn hin. «Gilles ist zwar ein Kind mit Duchenne, in erster Linie ist er aber ein Junge, der seine Kollegen und Kolleginnen sehen möchte», sagt Loretta Santi zu diesem Entscheid, der nicht ohne Bedenken fiel. Sie glaubt, dass die Isolation ihrem Sohn psychisch mehr geschadet als zur Meidung des Ansteckungsrisikos beigetragen habe. «Es war ein Abwägen.» Die Sorge war nicht unbegründet: Kurz darauf steckte er sich in der Schule an.

«Das Wissen um den Kontakt mit einer positiv getesteten Person war wie eine tickende Bombe.» Als bei Gilles Covid-19 ausbrach, war klar, dass seine Mutter sich mit ihm zusammen isolieren würde. Sie selbst hatte nach kurzer Zeit ebenfalls ein positives Testergebnis. «Ich hatte zum Glück keine starken Symptome», sagt sie. Vielleicht hat die Angst um ihren Sohn auch die Erinnerung an das eigene Empfinden gedämpft. «In einer Nacht hatte ich aufgrund seiner starken Krankheitssymptome furchtbare Panik; danach ging es zum Glück schnell wieder aufwärts.» Eine andere Option als die gemeinsame Isolation habe es damals nicht gegeben, höchstens eine Einlieferung ins Spital. Und dann? «Dann hätte Gilles allein in seinem Zimmer gelegen. Nein, ich blieb lieber bei ihm.»

Wie Felder mit einer auferlegten Quarantäne umgegangen wäre, ist ihm bis heute ein Rätsel. «Ich kann ja als Arbeitgeber nicht einfach meine Angestellten mitnehmen», sagt er dazu. Zwischen ihm und seinen AssistentInnen besteht ein Arbeitsverhältnis, ausserdem gehören sie nicht zum Haushalt. «Wie Quarantäne und Isolation für Menschen mit Behinderung mit Assistenzbedarf geht, weiss nicht einmal das Contact Tracing», kritisiert die Organisation Agile.ch. Mit seinem Lebensmodell ist Felder beim Bundesamt für Gesundheit in eine Nische gerutscht.

«Was bleibt mir schon übrig?»

In eine Nische gedrängt fühlt sich auch Loretta Santi. «Für Gilles ist eine Impfung aufgrund seines Alters keine Option», sagt sie, «mir würde es aber in der Betreuung viel Sicherheit zurückgeben.» Das Mittagessen ist aufgegessen, Gilles macht sich wieder bereit für die Schule. Santi achtet darauf, dass er seine Schutzmaske mit nur einem Handgriff über Mund und Nase ziehen kann. Sie blickt ihm nach, wie er zurück ins Schulleben rauscht. Das Gefühl, das eigene Kind zu gefährden, bedrückt sie.

Timo Felder musste bis Ende März warten, bis er als Risikoperson die erste Impfung erhielt. Die erste Dosis verursachte ihm Armschmerzen und ein Schwächegefühl, der Gedanke beschäftigte ihn, dass die Impfung Auswirkungen auf das Fortschreiten seiner Krankheit haben könnte. «Doch was bleibt mir schon anderes übrig?» Er möchte nicht immer isoliert in seinen vier Wänden leben. Kurz hält er inne. Ein surrender Ton durchschneidet die Stille, es ist die Nackenstütze, die seinen Kopf in eine entspannte Position bringt. Fast unbemerkt hat Timo Felder den Joystick vor seinem Mund bedient. Wieder klingelt der Wecker, einmal mehr soll die Konzentration der Aerosole verringert werden. Felders Augen wandern zum Fenster. Für ihn ist es Zeit, das Leben wieder ausserhalb seines eigenen Wohnzimmers weiterzuleben.