Anarchokapitalismus: «Wahrhaft souverän wird demnach sein, wer keine Steuern mehr zahlt»

Nr. 6 –

Die Demokratie überwinden und steinreich werden dabei: Eine Investmentbibel von 1997 ist abermals zum Bestseller geworden – dank des rechtslibertären Paypal-Gründers Peter Thiel.

Der Traum der «kognitiven Elite»: Autonome Ministaaten für Superreiche mitten im Meer. Visualisierung: Bart Roeffen, The Seasteading Institute

Prophezeiungen wirken oft verblüffender, nachdem sie sich bewahrheitet haben. Die Idee etwa, dass wir schon bald mit einer neuen, digitalen Form von Geld handeln werden, bestehend aus anonymen, aber eindeutig verifizierbaren Codesequenzen, völlig unbehelligt von staatlicher Geldpolitik? Im Februar 1997, zwölf Jahre vor der Einführung der Kryptowährung Bitcoin, klang das noch wie Science-Fiction. Oder dass wir dereinst nach Belieben unseren eigenen Newsfeed zusammenstellen können, der uns mit genau den Nachrichten versorgt, die wir empfangen wollen, ganz egal, ob sie nun wahr sind oder nicht: Klingt wie eine präzise Vorwegnahme unserer algorithmisch beeinflussten Mediennutzung in den Echokammern von Fake News und Verschwörungsglauben.

Diese Vorhersagen sind keine literarischen Fantasien, sie stammen aus einem etwas obskuren Wirtschaftsbestseller von 1997. Das Buch heisst «The Sovereign Individual» und liefert auch abseits solcher Prognosen einen Generalschlüssel zum politischen Verständnis unserer Zeit. Und zwar, weil es – kleine Spoilerwarnung – nicht bloss das Ende der Demokratie beschwört, sondern vor allem auch zeigt, wie man daraus Profit schlagen kann.

In gewissen Kreisen hat «The Sovereign Individual» inzwischen das Zeug zum Kultbuch, seit Peter Thiel, Mitgründer von Paypal und rechtslibertärer Vordenker im Silicon Valley, es zum wichtigsten Buch erklärte, das er je gelesen habe. 2014 war das, im Wirtschaftsmagazin «Forbes». Etwas mehr als fünf Jahre später, im Januar 2020, ist es dann erstmals als Hörbuch erschienen, kurz darauf auch als E-Book. Beide digitalen Neuausgaben sind mit einem sehr knappen Vorwort von Peter Thiel versehen. Bei Amazon steht das E-Book seither ununterbrochen unter den Top Ten bei den englischsprachigen Wirtschaftssachbüchern. Was ist das für ein Buch, das von einem britischen Finanzportal als eine Kreuzung aus «Mad Max» und Ayn Rands «Atlas Shrugged» umschrieben wurde?

Blut auf den Strassen

Der eine der beiden Autoren, James Dale Davidson, ist ein Investor und Anlageberater. Davidson hatte 1969 einst die National Taxpayers Union gegründet, die US-Version dessen, was in der Schweiz der «Bund der Steuerzahler» ist – mit vergleichbarer politischer Stossrichtung. Den klingenderen Namen jedoch hat sein britischer Ko-Autor, der Journalist und Politiker William Rees-Mogg (1928–2012). Als Chefredaktor prägte Rees-Mogg von 1967 bis 1981 die konservative «Times», später sass er 24 Jahre lang bis zu seinem Tod als parteiloser Lord im britischen Oberhaus. Wenn sein Name heute wieder sehr geläufig ist, liegt das aber weniger an ihm selber als an seinem Sohn, einem schwerreichen Vermögensverwalter, der das politische Erbe des Vaters nun verschärft weiterführt: Jacob Rees-Mogg, ultrarechter Tory und Brexit-Einpeitscher im Unterhaus, Gegner von Abtreibung und gleichgeschlechtlicher Ehe – und seit 2019 einer der engsten Mitstreiter im Kabinett von Premierminister Boris Johnson.

Vor «The Sovereign Individual» hatten Davidson und Rees-Mogg der Ältere schon zwei andere Bücher zusammen geschrieben. Wobei der Titel ihres ersten Buchs von 1987 ihr Programm bereits unverhohlen auf den Punkt brachte: «Blood in the Streets. Investment Profits in a World Gone Mad». Zehn Jahre später, in «The Sovereign Individual», ist ihr strategisches Ziel immer noch das gleiche – nur dass es ihnen jetzt nicht mehr darum geht, wie man in Zeiten blutiger Unruhen Profit machen kann, sondern darum, wie man die Umbrüche der digitalen Revolution möglichst gewinnträchtig meistert. «The future is disorder», heisst es im Motto, ein Zitat aus Tom Stoppards Theaterstück «Arkadien». Die Zukunft also wird Chaos bringen – aber die beiden Autoren nehmen uns an der Hand und zeigen uns, wie wir uns in diesem Chaos souverän bereichern können.

So korrupt wie der Klerus

Ihre Methode nennen sie ganz bescheiden «Megapolitik». Wenn sie erstens die Weltgeschichte seit dem Mittelalter resümieren und daraus zweitens ihre Prognosen für die digitale Zukunft ableiten, tun sie das also auf der Basis von «objektiven megapolitischen Faktoren», wie sie das nennen. So gelangen die Autoren etwa zur erstaunlichen Erkenntnis, dass der demokratische Wohlfahrtsstaat im späten 20. Jahrhundert genauso senil, korrupt und verfettet sei wie die katholische Kirche am Ende des 15. Jahrhunderts. Das digitale Zeitalter, so prophezeien sie, werde diese altersschwachen Strukturen zum längst fälligen Einsturz bringen und dabei nicht nur die heutigen Nationalstaaten grösstenteils obsolet machen, sondern die Politik per se. Demokratie, Nationalstaat, Politik: Für Davidson und Rees-Mogg sind das alles Anachronismen, denen die neue «Cyberökonomie» den Boden entziehen werde.

Zwischendurch klingt das fast schon nach einer progressiven Utopie, wenn die Autoren sich diese neue digitale Wirtschaft ausmalen. Alter, Geschlecht oder ethnische Zugehörigkeit würden dann keine Rolle mehr spielen, weil wir in der Cyberökonomie alle unsichtbar seien: «Die Hässlichen, Dicken, Alten und Behinderten werden zu gleichen Bedingungen mit den Jungen und Schönen konkurrieren, in der absolut farbenblinden Anonymität im neuen Grenzgebiet des Cyberspace.» Aber das sind kleinere Pannen, die den Autoren unterlaufen, punktuelle Fremdkörper inmitten ihrer marktradikalen Parolen. Denn was die beiden so interessant finden am digitalen Zeitalter, ist letztlich etwas ganz anderes: «Der Cyberspace ist die ultimative Offshore-Gerichtsbarkeit. Eine Ökonomie ohne Steuern. Bermuda in the sky with diamonds.»

Die verstrahlte LSD-Hymne der Beatles, fix umgemodelt zum Slogan für Steueroasen? Hier klingt dieses Buch viel kurioser und origineller, als es ist. «The Sovereign Individual» hat durchaus seine erhellenden Seiten, doch über weite Strecken ist das ein absolut nervtötendes Buch. Es kommt daher mit der grossen Geste der Gelehrsamkeit, bleibt aber extrem beschränkt in seiner ideologischen Perspektive – und es hat mehr als einen Sprung in der Platte.

Milchkuh mit Flügeln

Gleich im Absatz nach dem Bermuda-Slogan folgt ein Bild, so schief, dass es fast wieder lustig ist: «Der Staat hat sich daran gewöhnt, die Steuerpflichtigen so zu behandeln wie ein Bauer, der seine Kühe auf einer Wiese hält, um sie zu melken. Bald werden die Kühe Flügel haben.» Damit wären wir beim eigentlichen Kern, der durch das ganze Buch hindurch gebetsmühlenartig wiederholt wird: Steuerflucht als Lebensmaxime, die digitale Revolution machts möglich.

Ein weiterer Vorteil dieser ganzen Cyberökonomie: Streiks und andere Arbeitskämpfe werden unweigerlich ins Leere laufen, wie das die Autoren mit unverhohlener Schadenfreude schildern. Wenn zum Beispiel unzufriedene Arbeitskräfte irgendwo in Indien auf die Idee kämen, die Firmenzentrale auf den Bermudas zu bestreiken, «würden sie bei ihrer Ankunft dort womöglich gar kein physisches Büro vorfinden»! Die Niedertracht dieses Buches ist manchmal wirklich atemberaubend.

Den grössten «megapolitischen» Faktor der Geschichte orten die Autoren übrigens in der Gewalt, also in Krieg und Verbrechen. Der Staat ist demnach ein Gebilde, dessen einzige Funktion darin besteht, Gewalt und Verbrechen zu «organisieren» und in Schach zu halten. Gegen Bezahlung sorgt der Staat für Recht und Ordnung, Steuern sind insofern reines Schutzgeld, um die Geschäfte der vermögenden Klasse zu gewährleisten. Dass Staaten auch andere Aufgaben erfüllen, so elementare Leistungen wie Schulen, Altersrenten oder medizinische Grundversorgung? Das kommt den Autoren gerade mal an einer Stelle in den Sinn – nämlich dort, wo der Wohlfahrtsstaat in ihrer Prognose bereits derart ausgeblutet ist, dass er solche Leistungen nicht mehr garantieren kann, weil die unternehmerische Elite ihr Kapital eben in die steuerfreie Cyberökonomie abgezogen hat.

Und dies völlig zu Recht natürlich, wenn es nach den beiden Autoren geht, die den Staat immer wieder ungeniert mit dem organisierten Verbrechen gleichsetzen. Denn unsere heutigen Wohlfahrtsstaaten liefern nicht nur – noch so ein Mantra in diesem Buch – ganz schlechte Qualität angesichts der horrenden Steuern, die sie für ihre Leistungen eintreiben. So skrupellos, wie der Staat von den Vermögenden immer noch höhere Steuern erpresst, ist er auch längst selber zum Verbrecher geworden. Ausser natürlich in der Schweiz, die im Buch zwei kurze Auftritte als Steuerparadies hat: Hier nämlich dürfen sich Steuerflüchtlinge auf dem «wohl ehrlichsten Polizei- und Rechtssystem der Welt» ausruhen.

Zurück zum Ritterorden

In der Welt von Davidson und Rees-Mogg kommt man sich tatsächlich vor wie in «Atlas Shrugged» von Ayn Rand: Wenn die vermögende Klasse in ihr digitales Utopia abwandert, dann aus purer Notwehr, weil sie vom Gouvernantenstaat derart ausgebeutet wird. Einzige Bedenken der Autoren: dass es dieser ungebundenen neuen Superklasse an einer strammen Moral mangeln könnte. Aber auch das werde die Meritokratie des freien Cybermarkts mit der Zeit irgendwie regeln.

Die altersschwachen Nationalstaaten werden also kollabieren, weil das smarte Grosskapital in den Cyberspace flüchtet. Und an deren Stelle, so die Prognose, treten viel kleinere Netzwerke: autonome Stadtstaaten wie einst die Republik Venedig oder elitäre Verbünde nach dem Vorbild mittelalterlicher Ritterorden, ohne festes Territorium. Dafür, dass die Autoren so grossspurig eine Zukunft der Cyberökonomie beschwören, ist ihre Vision also ganz schön vergangenheitsselig. Aber man sieht hier auch, wie sehr die Ideen aus «The Sovereign Individual» bei einem wie Peter Thiel fortwirken, dem dieses Buch offensichtlich prima als Lebenscoach und unternehmerischer Ratgeber diente. Er habe es, so verriet er damals in «Forbes», seinerzeit kurz vor der Gründung von Paypal gelesen. Klar, dass Thiel sich angesprochen fühlen musste, wenn im Buch eine «kognitive Elite» beschworen wird, die «zunehmend ausserhalb politischer Grenzen» operieren und deshalb am meisten von der Digitalisierung profitieren werde.

Peter Thiel verspricht sich bekanntlich auch viel von der Idee, autonome Ministaaten für Superreiche mitten im Meer zu errichten, eine Art Venedig 2.0 ausserhalb staatlicher Hoheitsgebiete. 2018 machte er Schlagzeilen, als er das anarchokapitalistische Seasteading Institute, das ein entsprechendes Projekt in der Südsee entwickelt, mit Startkapital versorgte. «Das Staatswesen ändert sich gerade auf einer sehr grundsätzlichen Ebene», erklärte Thiel damals, womit er mal eben eine der Grundthesen aus «The Sovereign Individual» nachbetete.

Damit verbunden ist die zunehmende Kommerzialisierung staatlicher Souveränität, wie sie im Buch skizziert wird. Wahrhaft souverän wird demnach sein, wer keine Steuern mehr zahlt – jedenfalls nicht dort, wo man zufällig gerade seinen physischen Sitz hat. Das «souveräne Individuum», wie es im Titel beschworen wird, sucht sich in Zukunft also selber aus, wo es für welchen Schutz durch Polizei und Militär bezahlen will – und sei es auf einer privaten Inselplattform im Meer. (Privatschulen für die Kinder wird es dort sicher auch geben, und Gesundheit muss man sich halt leisten können.)

Der nationalistische Backlash

Wer bei alledem auf der Strecke bleibt? Das ist für die Autoren völlig klar. Einerseits sind das die ungelernten Arbeitskräfte, die es versäumt haben, sich für die Digitalisierung fit zu machen – aber die seien am Ende des industriellen Zeitalters ohnehin überbezahlt gewesen für das, was sie tatsächlich geleistet hätten. Zum andern wird aber auch der breite Mittelstand leiden, der sich viel zu gemütlich in seinen vermeintlich sicheren Jobs eingerichtet habe und deshalb nicht gerüstet sei für die digitale Umwälzung.

Dass die Arbeit im digitalen Zeitalter immer stärker über zeitlich befristete Projekte organisiert wird und weniger über Jobs, denen man ein Leben lang treu bleibt: Auch das haben Davidson und Rees-Mogg antizipiert (aus ganz anderer Warte, als das der Soziologe Richard Sennett im Jahr darauf in seinem Buch «Der flexible Mensch» beschreiben sollte). Dabei werde die Unzufriedenheit der Abgehängten vielerorts zu einem «hässlichen» nationalistischen Backlash und zu Ressentiments gegen die neue transnationale Elite führen. An dieser Stelle könnten die Autoren in ihrem nationalismuskritischen Furor fast schon sympathisch werden: «Staatsangehörigkeit ist obsolet.» Nur dass sie dabei gar nicht wirklich kosmopolitisch argumentieren. Sie wollen ja gerade nicht ein neues digitales Weltbürgertum ausrufen, sondern schlechterdings die Idee des Bürgers, der Bürgerin zu Grabe tragen, zusammen mit dem demokratischen Wohlfahrtsstaat.

«The Sovereign Individual» ist also ein antinationalistisches, aber eben auch antidemokratisches Pamphlet für das Ende jeglicher Politik. Doch mit Prognosen ist das so eine Sache. Für jede Vorhersage in dem Buch, die so oder ähnlich eingetroffen ist, findet man mindestens eine andere, die sich als voreilig oder gar falsch erwiesen hat. Die militanten technologiefeindlichen Gegenbewegungen zum Beispiel, die angeblich versuchen werden, die Ausbreitung von Computern und anderen digitalen Technologien gewaltsam zu unterbinden, lassen jedenfalls noch auf sich warten. Auch der «Cyberchirurg», der uns von den Bermudas aus über Fernsteuerung operiert, gehört noch längst nicht zum Alltag. Und selbst für das Ende der Vereinten Nationen, deren Liquidierung «bald nach der Jahrtausendwende» zu erwarten gewesen wäre, gibt es bislang keinerlei Anzeichen. Hingegen arbeitet die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) seit Jahren auf eine internationale Steuerreform hin, damit multinationale Konzerne wie Google ihre Gewinne nicht mehr so leicht unversteuert verschieben können. Wenn sich die Steuererosion in der digitalen Ökonomie auf diese Weise bremsen liesse, wären das auch trübe Aussichten für das «souveräne Individuum».

Peter Thiel wiederum hat eine originelle Erklärung dafür auf Lager, dass China seit 1997 zur wirtschaftlichen Supermacht aufsteigen konnte, obwohl das die Autoren von «The Sovereign Individual» damals gar nicht auf dem Schirm hatten. Man könnte meinen, so suggeriert er in seinem Vorwort, dass das Buch auch im Politbüro in Peking eifrig gelesen worden sei – das kommunistische China habe den Übergang ins digitale Zeitalter womöglich nur deshalb so souverän gemeistert.

Der gelehrigste Schüler

Es gibt aber noch eine andere Dimension, die den prophetischen Charakter eines Buchs wie «The Sovereign Individual» begünstigt. Denn wenn nur genug viele kapitalmächtige Leute wie eben Peter Thiel die darin enthaltenen Voraussagen als Handlungsanleitung verstehen, kann irgendwann jede Prophezeiung wahr werden. Auch der Erbe von Lord William Rees-Mogg hilft schliesslich den Prognosen seines Vaters auf politischem Weg kräftig nach: Als Verfechter eines harten Brexit schürt Jacob Rees-Mogg vordergründig den nationalistischen Backlash – gleichzeitig bewirtschaftet er mit seiner Vermögensverwaltung die Unsicherheit, die er politisch vorantreibt.

So erweist sich Jacob Rees-Mogg als überaus gelehriger Schüler seines Vaters selig. Im Sommer 2018 warnte seine Firma Somerset Capital in ihrem neuen Prospekt davor, dass der Brexit zu «beträchtlicher Unsicherheit» führen könne, und eröffnete zugleich einen Investmentfonds in Dublin. Auf sein politisches Doppelspiel angesprochen, erklärte Rees-Mogg damals gegenüber dem «Daily Telegraph», das Anlageangebot in Irland habe «nicht im Geringsten etwas mit dem Brexit zu tun».

Bei allem Geraune von «objektiven megapolitischen Faktoren», die angeblich dazu führen, dass das heutige Staatswesen kollabieren wird und mit ihm alle Politik, wie wir sie kennen: Was das Lieblingsbuch von Leuten wie Peter Thiel liefert, ist nicht wirklich eine Analyse. Es ist eine Anleitung. «The Sovereign Individual» zeigt, wie man im digitalen Zeitalter dem Staat möglichst effizient den Boden entziehen kann – und wie man letztlich gewinnträchtig auf das Ende der Demokratie spekuliert. «The future is disorder»? Was wie eine Drohung klingt, ist hier als kapitale Verheissung gemeint. Glücklich, wer daraus seinen Profit zu schlagen weiss.