SRF-Chefin Nathalie Wappler: Angreifen kann sie

Nr. 9 –

Seit zwei Jahren ist Nathalie Wappler SRF-Direktorin. Schlagzeilen macht sie vor allem wegen Sparmassnahmen. Annäherung an eine Frau, die nur ein Ziel hat: das Schweizer Radio und Fernsehen vor der Bedeutungslosigkeit zu bewahren.

«Das Ziel ist ihr wichtiger als der Mensch»: Nathalie Wappler im Studio Leutschenbach. Foto: Gaëtan Bally, Keystone

Das Geld für ihre erste Stereoanlage verdiente Nathalie Wappler mit dem Sortieren von Pflastersteinen. Ihre Eltern waren Schweizer Kleinunternehmer, die mit Steinen aus der Türkei handelten. Da musste sie schon auch mal einspringen, wenn eine Schiffsladung durcheinanderkam. Ausserdem habe sie viele Meter Randsteine an Autobahnen vermessen müssen, um Rechnungen stellen zu können, blickt Wappler lächelnd zurück. «Gut daran fand ich, dass es eine sehr irdische Arbeit war.»

Seit genau zwei Jahren sortiert die 53-jährige Ostschweizerin nun das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) neu. Sie dreht jeden Stein um. Manchen verschiebt sie, andere zerschlägt sie oder sortiert sie gleich ganz aus. Wappler ist die Frau, die Millionenbeiträge einspart, Dutzende Kündigungen ausspricht und Digitalangebote umsetzt. Sie ist die Medienmanagerin, die von ihrem Vorgänger Ruedi Matter eine schwierige Erbschaft übernommen hat: den halbfertigen Newsroom, die Diskussion um das Berner Radiostudio, die erst vage angeschobene Digitalisierung. «Es ist ein Haus mit vielen Baustellen, die sicher nicht einfach sind. Ich erlebe auch manche Überraschungen», räumt Wappler ein. Sie habe Matters Hypotheken unterschätzt, so berichten JournalistInnen, die einst bei SRF angestellt waren oder es immer noch sind. Alle wollen nicht namentlich genannt werden. Mit Wappler hat die WOZ im Dezember und im Februar zwei Gespräche geführt – wegen der Coronapandemie online.

Die Baustellen

Wappler war im März 2019 mit dem Auftrag angetreten, ein Reform- und Sparprogramm durchzusetzen. Wenn sie von der Umstrukturierung, von ihren Visionen, Erfolgen und Schwierigkeiten spricht, redet sie ruhig und konzentriert. Sie nimmt sich Zeit, um über Fragen nachzudenken und Antworten abzuwägen. Das kann als Klugheit ausgelegt werden oder als Vorsicht.

Das vergangene Jahr war eines der aussergewöhnlichsten, die das Unternehmen durchlebt hat – und das nicht nur wegen Covid-19. Die immensen Werbeeinbrüche, die Sparrunden, die Verzögerungen bei der vollständigen Inbetriebnahme des Newsrooms, die Abgänge prominenter SRF-Gesichter, der Brandbrief von MitarbeiterInnen aus der TV-Inlandredaktion wegen eines schlechten Arbeitsklimas, die Proteste wegen gestrichener Sendungen. Doch Wappler liess sich nicht beirren. «Wir sind auf einem guten Weg, denn wir sind in Bewegung, und es entstehen neue Formen der Zusammenarbeit», sagt sie. «Wir sind mitten im Tun», so ihre Bilanz nach den zwei Jahren. Oder anders gesagt: Wappler zieht die Strukturreform trotz aller Kritik durch.

Zu Beginn ihres Mandats handelte sie den Kompromiss aus, dass nicht das gesamte Berner Radiostudio nach Zürich umziehen muss, sondern nur ein Teil. Damals galt sie im Betrieb noch als Hoffnungsträgerin, die den erforderlichen Umbau zwar vorantreiben würde – doch möglichst nicht in den eigenen warmen Stuben. Nicht wenige sehen sie jetzt anders. 211 Stellen sollen bis 2022 abgebaut werden. Dafür würden 110 neue Stellen im digitalen Bereich geschaffen werden: dazu gehören die Weiterentwicklung der News-App, Storytelling-Desks, neue Inhalte für soziale Netzwerke, Sportlivestreams im Netz. Alles in allem aber müssen rund 68 Millionen Franken eingespart werden.

Schon zu Beginn kündigte Wappler an: «SRF wird in zwei Jahren ein anderes Unternehmen sein.» Das waren keine Worthülsen. Zügig füllte sie die ihr zugedachte Rolle der Sparerin und Umbauerin aus, die den Gesteinsblock zerhaut und neu ordnet. «Wenn sie spricht, dann nicken wir alle, um anschliessend zu verstehen, dass sie unsere Stellen kündigt», sagt eine SRF-Angestellte. «Das Ziel ist ihr wichtiger als der Mensch, und ihr Ziel ist es, dass das SRF nicht bedeutungslos wird», sagt ein anderer Kollege. «Wir müssen heute schwierige Entscheidungen treffen, um morgen noch relevant zu sein. Aber das gehört zu meiner unternehmerischen Verantwortung», findet hingegen Wappler.

Sie sagt wohlklingende Sätze wie: «Es ist wichtig, eure Fragen beantworten zu können.» Oder: «Für mich ist Führen eine dienende Funktion», womit sie an den Satz der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel – «Ich will Deutschland dienen» – erinnert. Ob die Formulierung «dienen» nicht ein wenig unglaubwürdig sei? «So brutal es klingt, aus meiner Perspektive ist das eine dienende Funktion», antwortet sie. Dienen habe auch mit Demut zu tun, mit «dienendem Mut» – und so, wie sie das sagt, hört es sich nicht nach gekünsteltem Understatement an, aber irgendwie schon etwas nach PR-Prosa.

Die Unverblümte

Viel ist von MitarbeiterInnenpartizipation die Rede. Davon, wie Wappler in Vor-Corona-Zeiten die Beschäftigten zu Spaziergängen einlud. Sie wollte erfahren, was die Leute bewegt – und das kam gut an. Denn die vorherige Direktion habe sich nur schon mit dem Grüssen schwergetan, heisst es von SRF-Leuten. Wappler hingegen zeige sich weniger hierarchisch. Sie gebe allen eine Chance. Doch wenn jemand aus ihrer Sicht in der Position nicht tauge, sei sie gnadenlos, so mehrere ihrer KollegInnen. «Ich bin ehrlich. Ich halte nichts davon, etwas verblümt zu formulieren», entgegnet sie. «Sie hört zu, solange es ihr Projekt nicht gefährdet», heisst es. Und wenn es Gespräche gebe, seien diese oftmals nur reine Infoveranstaltungen. «Wenn ich im Umkehrschluss frage, ob wir das nicht machen sollen, dann heisst es: ‹Doch, wir müssen in die Transformation›», sagt Wappler. Ein bisschen klingt es wie in einer Scheindemokratie, wo Abstimmungen inszeniert werden, bei denen der Sieger vorher schon feststeht.

Als sich im Dezember 466 SRF-Angestellte in einem Schreiben eine «ehrliche Kommunikation» wünschten, räumte die Mediensprecherin ein, dass diese nicht immer ideal gelaufen sei – ein Kommunikationsproblem. So heisst das oft, wenn die Regierung etwas anderes will als die Bevölkerung. Aber wenn Wappler ganz ruhig auf Kritik reagiert, dann scheint alles beherrschbar.

Auch das Problem mit dem Newsroom, dessen verzögerte Inbetriebnahme 400 000 Franken monatlich kostet, redet sie schön. Es werde kein zusätzliches Geld investiert. «Was es finanziell am Ende bedeutet, wissen wir erst, wenn das Projekt abgeschlossen ist», sagt sie. Ob die Komplexität des Unterfangens nicht bei der Planung schon hätte ersichtlich sein können? «Da müssen Sie meinen Vorgänger fragen.»

Die Aufsteigerin

Den Umgang mit Zahlen hat sie von ihrer Mutter gelernt, die brachte ihr die doppelte Buchführung bei. «Das war die Basis für mein unternehmerisches Denken: Wenn man Verantwortung hat, dann trägt man diese auch.» Weglaufen sei keine Option. Befreundet ist sie mit dem ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck, bei dessen Talkshow sie einst mitarbeitete. Sie verehrt Carolin Emcke, die linksliberale Publizistin. Ihre Vorbilder sind Elisabeth Selbert und Friederike Nadig. Die zwei Sozialdemokratinnen setzten 1948 gegen erheblichen Widerstand durch, dass der Satz «Männer und Frauen sind gleichberechtigt» ins deutsche Grundgesetz aufgenommen wurde. Den Roman «Abbitte» von Ian McEwan hat sie mehrmals gelesen, weil es dem Autor gelinge, durch kleine Änderungen Wenden einzuleiten. Als Hobbypianistin mag sie Beethovens Violinkonzert.

Nach ihrem geisteswissenschaftlichen Studium arbeitete Wappler unter anderem in Deutschland bei 3sat und beim ZDF, 2005 begann ihre Zeit bei SRF. Hier wurde sie 2011 zur Kulturchefin ernannt, bis sie 2016 als Programmdirektorin zum MDR in Halle wechselte, wo sie Radio, Fernsehen und Internet zusammenführen sollte. Auch wenn Wappler das Gegenteil sagt, so ist bekannt, dass ihr der Rückhalt von ganz oben fehlte. Während Wappler frischen Wind in den verstaubten Sender brachte und ihre Aufgabe mit Verve anging, wurde sie ausgebremst, vorgesehene Kooperationen wurden behindert. Die unter JournalistInnen üblichen Machtspielchen halt. Es habe Mauern gegeben, räumt Wappler ein. Dass sie von aussen kam und keine Hausmacht hatte, machte alles noch komplizierter. Der Ruf zurück in die Schweiz war deshalb nicht nur eine Aufstiegsmöglichkeit, sondern auch eine Ausstiegschance.

Der Einstieg verlief holprig. Noch nie zuvor hat Wappler ein solch grosses Unternehmen geführt und muss dieses gleich unter Hochspannung verändern. «Wir müssen ein Programm machen, das informiert, aber nicht polarisiert. Wir müssen keinen Meinungsjournalismus machen», sagte sie in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag». Daraufhin warfen ihr KritikerInnen vor, den SRF-Journalismus weichspülen zu wollen. Doch fragt man die Menschen, die mit ihr zusammenarbeiteten oder immer noch zusammenarbeiten, entsteht ein anderes Bild: Wappler sei falsch verstanden worden, sie habe sich ungeschickt ausgedrückt, vielmehr wolle sie, dass Meinungen mit fundierten Fakten untermauert würden, so der einheitliche Tenor.

Die Zukunft

Unklar ist, welche Form die Steine haben werden, wenn Wappler deren Schliff vollendet hat, und was nach der Aussortierung noch übrig bleibt. Bis 2024 soll die Hälfte des Budgets in digitale Angebote fliessen – «SRF 2024» heisst das Projekt. Aber selbst ein Jahr nach dem Verkünden der Strategie ist vielen MitarbeiterInnen noch immer nicht wirklich klar, was genau das bedeuten soll. Gestrichen wurden langjährige Fernsehformate wie «Eco», Eventshows wie die «Swiss Music Awards» oder Radiosendungen wie «52 beste Bücher». Wie genau diese Formate online ersetzt werden und ein neues Publikum gewonnen werden soll, bleibt unklar. «Wir möchten die unter 45-Jährigen besser erreichen, da sind wir gerade dabei, Formate auszuarbeiten», sagt Wappler.

Die Onlineformate wie «True Talk» oder «Unzipped» seien auf einem Niveau, wie es schon die privaten Medien bieten würden, heisst es von SRF-MitarbeiterInnen. Tatsächlich ist die Digitalstrategie bisher lauwarm. Das Format «Steiner & Tingler», das Onlinegegenstück zum «Literaturclub», wurde zuletzt durchschnittlich etwa 3000-mal aufgerufen. Hingegen hatte «52 beste Bücher» durchschnittlich 14 000 ZuhörerInnen. Immerhin, das Youtube-Philosophieformat «Bleisch & Bossart» schafft bis zu 20 000 Klicks.

Letztlich muss sich Wappler auch profilieren, denn sie ist nicht nur die oberste SRF-Frau, sondern auch stellvertretende Direktorin der Muttergesellschaft SRG. Ihr Chef, Generaldirektor Gilles Marchand, steht unter Druck: In der Westschweiz sollen Männer in Leitungspositionen gegenüber MitarbeiterInnen ihre Macht missbraucht haben. Und Marchand soll seit längerer Zeit davon gewusst haben – aber nicht eingeschritten sein. Während der Westschweizer als medial scheuer und weniger gewandt gilt, ist Wappler die freundliche Macherin. Umgänglich sei sie, das wiederholen selbst ihre KritikerInnen immer wieder. Nicht ausgeschlossen, dass Nathalie Wappler eines Tages Marchand beerben wird.