Einbürgerungen: «Es wird ein grosser Kampf um die Köpfe und Herzen»

Nr. 10 –

Lisa Mazzone und Paul Rechsteiner lancieren im Ständerat eine Einbürgerungsoffensive: Alle Menschen, die in der Schweiz geboren werden, sollen das Bürgerrecht automatisch oder vereinfacht erhalten.

Gegen den Ausschluss eines Viertels der Bevölkerung von der politischen Mitbestimmung: Die StänderätInnen Paul Rechsteiner und Lisa Mazzone vor dem Passbüro in Zürich.

WOZ: Lisa Mazzone, Paul Rechsteiner, Sie möchten den Zugang zum Schweizer Bürgerrecht erleichtern. Warum gerade jetzt?
Paul Rechsteiner: Die Schweiz ist über die letzten Jahrzehnte zu einem der wichtigsten Einwanderungsländer in Europa geworden. Der wirtschaftliche Erfolg ist unmittelbar mit der Einwanderung verknüpft. Gesellschaftlich ist die Integration stark fortgeschritten, politisch ist sie jedoch weit zurückgeblieben. Inzwischen ist es so, dass ein Viertel der Bevölkerung von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen ist und in der Gefahr lebt, ihr Aufenthaltsrecht zu verlieren. Diese Entrechtung ist eine dramatische Entwicklung, die uns beide zusammengebracht hat.

Lisa Mazzone: Das Schlüsselwort für mich lautet «Anerkennung». Ohne die Arbeit, ohne den sozialen und kulturellen Beitrag der Migrantinnen und Migranten wäre die heutige Schweiz nicht denkbar. Aber die wichtige Rolle, die all diese Menschen spielen, bildet sich nicht in der Staatsangehörigkeit ab. Und die Lücke in der Repräsentation wird immer grösser. Ich sehe die Folgen in der eigenen Familie, die aus Italien eingewandert ist.

Sind alle Ihre Verwandten eingebürgert?
Mazzone: Im Gegenteil, die Mehrheit meiner Familie besitzt bis heute kein Stimm- und Wahlrecht. Für mich ist diese Trennlinie in der Familie speziell, weil ich stark in der Politik engagiert bin. Meine Grosseltern kamen in den Siebzigern in die Schweiz, als hier über die sogenannte Überfremdungsinitiative von James Schwarzenbach abgestimmt wurde. Die Stimmung war schwierig, da ist etwas in ihnen zerbrochen. Aber auch meine Tanten und sogar meine Cousinen, die alle ihre soziale Identität in der Schweiz haben, sind nicht eingebürgert.

Weshalb nicht?
Mazzone: Weil das Verfahren zu kompliziert ist, weil es zu lange dauert. Vor allem aber: Sie wurden hier geboren und fühlen sich zugehörig. Sie wollten sich keiner Prüfung unterziehen. Die Anerkennung der Staatsangehörigkeit muss ein Recht sein, kein Privileg.

Paul Rechsteiner, Sie arbeiten als Anwalt. Wie erleben Sie das Einbürgerungsverfahren?
Rechsteiner: Die Schikanen sind immer noch unvorstellbar. Gerade habe ich den Fall einer jungen Frau erlebt, die hier aufgewachsen ist, die Lehre gemacht hat, als Logistikerin arbeitet. Und dennoch wurde ihr die Integration abgesprochen, weil sie nicht auf Anhieb definieren konnte, was Gewaltentrennung bedeutet. Wie viele Schweizer können das schon?

Wenn man an das Gezerre um das Covid-19-Gesetz denkt, scheint sich nicht einmal der Nationalrat in dieser Frage immer ganz sicher zu sein …
Rechsteiner: Die Hürden bei der Einbürgerung sind jedenfalls extrem hoch geworden. Hinzu kommt, dass die jungen Menschen ohne Bürgerrecht wegen der Ausschaffungsinitiative immer stärker prekarisiert werden: Sie müssen ständig damit rechnen, ausgewiesen zu werden, wenn sie straffällig werden. Und das kann ja passieren, wegen Drogenproblemen etwa. Vor zwanzig Jahren war das undenkbar, heute sind wir in unserem Büro ständig damit konfrontiert.

Warum tut sich die Politik so schwer bei diesem Thema, und das seit mehr als einem Jahrhundert? Mit den «Schweizermachern» handelt ja selbst die nationale Komödie von der Einbürgerung.
Mazzone: Die Erinnerung an die Einführung des Frauenstimmrechts hat in diesem Frühjahr gezeigt, dass es in unserem System institutionelle Gründe gibt, die eine Ausweitung der Rechte erschweren, der Föderalismus etwa. Letztlich ist es aber immer eine Frage, wie viel Platz man den «Schweizermachern» um die SVP lässt. Bis vor einigen Jahren hat man ihnen sehr viel Raum gelassen.

Rechsteiner: Die SVPisierung hat in der Tat zu einer Verengung und Verschlechterung geführt: Seit dem neuen Bürgerrechtsgesetz 2017 nehmen die Einbürgerungen sogar ab. Das ist hoch bedenklich. Doch seit der Ablehnung der Durchsetzungsinitiative, die dank einer grossen Kampagne aus der Bevölkerung erreicht wurde, neigt sich der Zyklus der SVP dem Ende zu. Es drängt sich förmlich auf, wieder in die Offensive zu gehen.

Kommen wir auf Ihre Vorstösse zu sprechen, die Sie diese Woche eingereicht haben. Frau Mazzone, Sie fordern in Ihrer Motion eine erleichterte Einbürgerung für die zweite Generation. Was würde das konkret bringen?
Mazzone: Alle Kinder von AusländerInnen, die in der Schweiz geboren werden, erhielten damit einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung. Sie müssten zwar weiterhin einen Antrag stellen, das Verfahren wäre aber deutlich einfacher und auch finanziell weniger teuer. Die erleichterte Einbürgerung ist auf Bundesebene geregelt, damit gäbe es beim Entscheid keine Willkür zwischen Kantonen und Gemeinden. Wir kennen dieses Verfahren schon bei Ehegatten und leider etwas eingeschränkter für die dritte Generation. Da hat es sich sehr bewährt.

Herr Rechsteiner, Sie schlagen einen Systemwechsel zum «ius soli» vor: Alle Kinder, die hier geboren werden, sollen automatisch eingebürgert werden. Warum?
Rechsteiner: Weil damit alle Probleme auf einmal gelöst werden. Wer hier geboren ist, in die Schule geht und sein Leben verbringt, ist faktisch Teil der Schweizer Gesellschaft. Das wird mit der automatischen Erteilung der Staatsbürgerschaft anerkannt. Mit allen Rechten und Pflichten, ohne spätere Ausgrenzung. Das hat einen menschenrechtlichen Aspekt: Alle, die hier geboren sind, werden vor einer Ausweisung geschützt. Und es hat einen staatspolitischen Effekt: Die politische Mitbestimmung steigt. Dieser Systemwechsel würde eine echte gesellschaftliche Modernisierung bringen. Die Schweiz könnte zu einem neuen Selbstverständnis gelangen.

Warum reichen Sie zwei unterschiedliche Forderungen ein? Das ist doch ein Widerspruch.
Mazzone: Nein, die beiden Vorstösse ergänzen sich. Wenn man ein Ziel hat, muss man es klar benennen. Gleichzeitig muss man die praktischen Schritte dorthin aufzeigen.

Rechsteiner: Die beiden Vorstösse, der eine konkreter, der andere etwas visionärer, signalisieren auch: Es geht uns nicht um ein Detail, sondern um die Menschenrechte und die Demokratie.

Mazzone: Gleichzeitig nehmen wir eine unterbrochene Spur wieder auf. Die erleichterte Einbürgerung für die zweite Generation wurde von Bundesrat und Parlament schon dreimal beschlossen, in den achtziger, den neunziger und den nuller Jahren. Sie scheiterte erst in der Volksabstimmung – einmal nur am Ständemehr. Es war für mich als Jüngere überraschend festzustellen, dass das Parlament schon viel weiter war als heute.

Rechsteiner: Es wird interessant sein, wie der Bundesrat auf die Vorstösse reagiert. Es wäre ein Rückfall in finstere Zeiten, wenn er nicht mindestens Lisa Mazzones Vorschlag aufnimmt.

Befürchten Sie nicht, dass Sie spätestens in einer Volksabstimmung scheitern?
Rechsteiner: Wir nehmen jetzt zuerst einmal unsere institutionelle Verantwortung als Mitglieder des Ständerats wahr, um die Forderung zu stellen. Wichtig ist uns, dass es kein parteipolitisches Projekt ist, sondern dass es um eine Grundsatzfrage geht. Sicher, es wird ein grosser Kampf um die Köpfe und Herzen, doch bin ich zuversichtlich, dass wir auch eine Mehrheit der Bevölkerung gewinnen können. Unsere Gesellschaft wandelt sich gerade stark. Und ob Wirtschaftsverbände oder Sportvereine: Viele haben ein Interesse an einer erleichterten Einbürgerung.

Mazzone: Es wird schnell gehen, bis die Diskussion beginnt. Bei einer Motion aus dem Ständerat muss der Bundesrat in der Regel bis zur nächsten Session antworten. Etwas Wind aus der Bevölkerung können wir sicher brauchen.

Sie beide kommen ganz aus dem Osten und ganz aus dem Westen der Schweiz. Wie unterschiedlich nimmt man das Thema eigentlich in Genf und St. Gallen wahr?
Mazzone: Ich bin immer wieder überrascht, was ich aus St. Gallen höre. In Genf ist die Praxis sehr liberal. Aber es nützt uns auch nichts, in unserer heilen Genfer Welt zu leben. Wenn wir einen Fortschritt erreichen wollen, brauchen wir auch die Stimmen aus St. Gallen.

Rechsteiner: Auch die Ostschweiz ist nicht homogen, die urbanen Gebiete stimmen anders als die ländlichen. Unsere Ost-West-Achse kann durchaus eine Wirkung entfalten.

Die Grüne Lisa Mazzone (33) sitzt für den Kanton Genf im Ständerat, ihr SP-Kollege Paul Rechsteiner (68) für den Kanton St. Gallen.