Moria und die Schweiz: Wie Keller-Sutter die Türen schloss

Nr. 11 –

Nach dem Brand im griechischen Flüchtlingslager Moria tat die Schweiz nur das Minimum. Dokumente zeigen auf, wie die zuständige Bundesrätin Karin Keller-Sutter geschickt alle Bemühungen für mehr Schweizer Hilfe ins Leere laufen liess.

SEM-Chef Mario Gattiker und Bundesrätin Karin Keller-Sutter an einer Pressekonferenz. Foto: Peter Schneider, Keystone

Am Morgen nach dem Brand im griechischen Flüchtlingslager Moria liefen am 9. September im Bundeshaus West die Drähte heiss. Über 12 000 MigrantInnen, darunter 4000 Kinder und Jugendliche, waren auf einen Schlag obdachlos geworden, ohne eine gesicherte Versorgung mit dem Lebensnotwendigen. Die StrategInnen des Justiz- und Polizeidepartements brüteten nun darüber, welche Position die Schweiz vertreten sollte. Würde man Hilfe anbieten? Wenn ja, welche?

Kurz vor 10 Uhr hatte Daniel Bach, Medienchef des Staatssekretariats für Migration (SEM), die Leitlinien verschriftlicht. Fazit: bloss nicht vorpreschen. «Hier mal ein erster Entwurf», schrieb Bach an Mario Gattiker, den Leiter des SEM. Wortreich sind in seiner «Sprachregelung zum Brand Moria» sämtliche unterstützenden Aktivitäten der Schweiz in Moria der letzten Jahre auf den Franken genau aufgelistet, dann folgt eine Passage zu den politischen Konsequenzen des verheerenden Brandes. In fett gedruckter Schrift steht dort: «Eine Aufnahme von Migrantinnen und Migranten aus Moria steht aktuell nicht zur Diskussion.»

Zerredet und ausgebremst

In den kommenden Tagen werden das Departement und seine Vorsteherin Karin Keller-Sutter (FDP) von diesem Satz graduell abrücken. Wenn auch nur auf internationalen Druck hin. Sämtliche Bemühungen, Menschen, die dort seit Jahren unter widrigsten Bedingungen auf einen Asylentscheid warten, in den Schweizer Asylprozess zu bringen, blocken Keller-Sutter und ihre Leute ab. Initiativen werden ausgebremst, Hilfsangebote abgelehnt oder zerredet. Das geht aus einem Satz von Dokumenten hervor, den die WOZ gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz erhalten hat.

Dass sich die Schweiz überhaupt bewegte, liegt an der deutschen Ratspräsidentschaft der EU im letzten Jahr. Kurz nach dem Brand spricht das deutsche Innenministerium in Bern vor. Deutschland drängt die Schweiz, sich einer «Kooperation der Willigen» anzuschliessen und wenigstens auf sich allein gestellte Jugendliche und Kinder aus den ägäischen Elendslagern zu evakuieren. Die griechische Regierung hatte sich zuvor überreden lassen, 400 unbegleitete Minderjährige (UMA) von Lesbos aufs Festland zu bringen. Bezahlt hat den Transfer die EU-Kommission. Keller-Sutter ist nur zu einer kleinen Geste bereit. Sie sagt zu, 20 UMA zu übernehmen. Eine weitere Aufforderung zur viel beschworenen europäischen Solidarität in der Flüchtlingskrise, dieses Mal vom deutschen Innenminister Horst Seehofer und von EU-Innenkommissarin Ylva Johansson verschickt, findet in Bern kein Gehör. Das Schreiben beinhaltet die dringliche Bitte, auch Familien und anerkannte Flüchtlinge zu übernehmen. Deutschland, Luxemburg und die Niederlande sagen zu, die Schweiz nicht.

Dabei wäre es für Keller-Sutter nicht besonders kompliziert gewesen, einen Hilfsakt innenpolitisch zu erklären. In der Schweiz demonstrierten nach dem Brand Tausende für die Evakuation der Geflüchteten. Die acht grössten Städte, der Kanton Graubünden und zahlreiche kleinere Gemeinden hatten sich bereit erklärt, zusätzliche, im Elend gestrandete Flüchtlinge aufzunehmen. Keller-Sutter allein erhielt über tausend Briefe und Postkarten mit der Forderung nach schneller Hilfe. Achtzehn Organisationen schrieben ihr, fünf Petitionen wurden eingereicht. Vergeblich: KKS blieb hart.

Darüber sprechen will sie nicht, wiederholte Interviewanfragen der WOZ liefen ins Leere. Ein einziges Mal äusserte sie sich in den Medien zu Moria und zur Forderung der Städte, das war zwei Tage nach dem Feuer im Schweizer Fernsehen. Das Interview wurde umfassend vorbereitet. Ihr Stab hatte ihr die wichtigsten Wortmeldungen zusammengestellt, von Glarner bis Glättli. Danach erhielt Keller-Sutter ein Papier mit den Kernbotschaften, die sie im Gespräch platzieren sollte. Die wichtigsten: Es müsse Hilfe vor Ort geleistet werden, die EU habe den Lead – und eine direkte Aufnahme von MigrantInnen durch die Städte sei rechtlich nicht möglich. Keller-Sutter gab die Botschaften fleissig wieder, betonte vor allem die Priorität der humanitären Soforthilfe. Zelte, Decken, Medikamente werde man nun liefern. Dabei hatte am selben Tag das Aussendepartement die neusten Infos aus Athen übermittelt: «Es scheint bereits genügend Zelte vor Ort zu haben.»

Ein bemerkenswertes politisches Manöver ist die Botschaft, wonach die Städte rechtlich gesehen keine Flüchtlinge direkt übernehmen könnten. Denn eine direkte Aufnahme wurde gar nie gefordert. «Dass wir nicht autonom handeln können, wissen wir, sonst hätten wir schon längst einen Flug gechartert und müssten gar nicht mit dem Bund reden», sagte Raphael Golta, Sozialvorsteher der Stadt Zürich, der WOZ verärgert. Golta sprach von 800 Menschen, die problemlos in Zürich untergebracht werden könnten. Der Berner Stadtpräsident Alec von Graffenried stellte für die gesamte Schweiz die Zahl 500 in den Raum. Und die grünliberale St. Galler Sozialdirektorin Sonja Lüthi klagte: «Es reicht definitiv nicht, in der jetzigen Notlage zwanzig Kinder aufzunehmen.»

Im Bundeshaus West, im Stab von Karin Keller-Sutter, stieg daraufhin die Nervosität. Man musste die Debatte rasch unter Kontrolle bringen und den Handlungsdruck von der Bundesrätin nehmen. Der Plan war, in einer Aussprache mit den aufmüpfigen Städten die Lage zu befrieden und ihre Forderungen still zu entsorgen.

Zuvor aber sollte ein anderes Treffen dem Departement bessere Karten in die Hand geben: Am 16. September, gut eine Woche nach der Katastrophe in Moria, lud Keller-Sutter in den Salon 2 des ehemaligen Luxushotels Bernerhof. Anwesend waren neben Keller-Sutter die Spitzen kantonsübergreifender Verbände, des Gemeinde- sowie des Städteverbands. Letzterer wird praktischerweise vom Solothurner Nationalrat und Parteikollegen Kurt Fluri angeführt. Was an der Sitzung besprochen wurde, ist nicht bekannt, ein Protokoll wurde nicht erstellt. Was sich sagen lässt: Eine ergebnisoffene Debatte war nie das Ziel der Veranstaltung. Die Abschlusserklärung, die im Wesentlichen Keller-Sutters Position wiedergibt, war schon vor dem Treffen verfasst worden. Das sorgte im Nachgang für grosse Irritation: Der Städteverband verschickte nach interner Konsultation einen Protestbrief an den Bund, in dem er sich von der angeblich gemeinsamen Erklärung distanzierte.

Mit dem Segen der Gemeinden, Kantone und Städte – oder jedenfalls deren VertreterInnen – im Gepäck wurden eine Woche nach dem Treffen im «Bernerhof» nun direkt die hilfswilligen Städte eingeladen. Dieses Mal ging es nicht mehr in den mondänen «Bernerhof», man traf sich im Staatssekretariat für Migration, Sitzungszimmer 81. Die Bundesrätin liess sich entschuldigen, den Lead hatte SEM-Chef Mario Gattiker. Es war bereits das zweite Treffen in dieser Konstellation: Die Städte hatten sich schon vor dem Brand zur Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria bereit gezeigt. Schon kurz vor dem Lockdown im Frühling war man zusammengekommen. Seither passiert war: nichts.

Gattiker, der bald in Pension geht, legte ein neues Argument fürs Nichtstun vor. Zwar sei die Situation auf den griechischen Inseln ein «humanitäres Desaster», allerdings sei sie nicht vergleichbar mit der Lage in Syrien oder Libyen. Aus diesen beiden Staaten nimmt die Schweiz im Rahmen internationaler Resettlement-Programme jährlich ein paar Hundert Flüchtlinge auf. Für eine Verbesserung der Lage in Lesbos, dozierte Gattiker, seien nun primär die EU und Griechenland zuständig.

Kleine Aufmunterung

Danach geschah an der Sitzung Erstaunliches. Vom zuvor öffentlich postulierten humanitären Handlungswillen war nicht viel Konkretes übrig geblieben. Diesen Eindruck hinterlässt jedenfalls das vorliegende Protokoll. Nicolas Galladé, Sozialdirektor aus Winterthur (SP), bemäkelte, der Bundesrat müsse seine Positionen klarer kommunizieren, «damit die Städte diese weiterkommunizieren können». Berns grüne Sozialdirektorin Franziska Teuscher forderte zwar, der Bund solle den Städten aufzeigen, wie sich diese vermehrt engagieren könnten. Sie klagte aber auch: Die Flüchtlingspolitik werde emotional diskutiert und die Stadt Bern mit den Emotionen der Bevölkerung konfrontiert. Diese sei nicht genügend informiert, was der Bund schon alles unternehme. Bloss Zürichs Golta beharrte darauf, dass verschiedene Städte zusätzliche Aufnahmeprogramme wünschten und dafür Plätze zur Verfügung stellen würden. Galladé sagt heute: «Wir können als Städte den Bund nicht übersteuern. Aber unsere Bereitschaft, mehr zu tun, die ist seit langem deponiert.» Teuscher distanziert sich vom Protokoll, sie habe dieses nie autorisiert. «Ich habe dem SEM immer klar gesagt, dass die Berner Bevölkerung mehr Flüchtlinge aufnehmen will und ich das mit Nachdruck unterstütze.»

Ganz ergebnislos reisten die PolitikerInnen indes nicht ab. Gattiker hatte sich eine kleine Aufmunterung ausgedacht. Er kündigte eine Studie an, in der «komplementäre legale Zugangswege für Flüchtlinge und Vertriebene» untersucht würden. Die Studie, so Gattiker, könne «Ansätze für neue Ideen», unter anderem für die Zusammenarbeit mit den Städten, bieten. Versprochen wurde sie aufs erste Quartal 2021, nun heisst es aus dem EJPD, es dürfte bis in die zweite Jahreshälfte dauern. Was die Studie nun aufzeigen will, hätte der Bundesrat längst tun müssen. Schon vor zwei Jahren nämlich, im Mai 2019, hatte die Landesregierung nach intensivem Drängen der Städte im neuen Resettlement-Konzept festgehalten, sie werde die Erarbeitung neuer Gesetzesgrundlagen prüfen.

Fünf Jahre EU-Türkei-Deal

Am 18. März 2016 schlossen die EU und die Türkei ein folgenreiches Abkommen, um nach dem Flüchtlingssommer 2015 die Reise nach Europa über die Ägäis deutlich zu erschweren. Geflüchtete sollten fortan in Hotspots auf den griechischen Inseln ein Asylgesuch stellen. Gegen Milliardenzahlungen verpflichtete sich die Türkei, diese bei einer Ablehnung zurückzunehmen. Auch wurde die Aufnahme syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge geregelt.

In den Flüchtlingscamps auf Inseln wie Lesbos, Samos oder Chios stieg darauf die Zahl der BewohnerInnen stark an. Wegen der Untätigkeit von Behörden und Politik leben dort bis heute Zehntausende unter unmenschlichen Bedingungen.

Zum Symbol für das Scheitern des Pakts wurde das Camp Moria auf Lesbos. Im September des letzten Jahres ging es bei einem Grossbrand in Flammen auf. Die Schweizer Regierung stellte darauf lediglich die Aufnahme von zwanzig Minderjährigen in Aussicht.

Nachtrag vom 1. Dezember 2022 : Schon wieder von KKS ausgetrickst

Seit Jahren schon äussern verschiedene Schweizer Städte den Wunsch, mehr Geflüchtete aufzunehmen. Und seit Jahren schon lassen Bund und Justizministerin Karin Keller-Sutter diese Bemühungen ins Leere laufen. Das jüngste Kapitel der Tragödie: Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hatte auf Drängen der Städte hin eine Studie versprochen, um neue Möglichkeiten auszuloten. Man werde Massnahmen prüfen, «um die notwendigen Rechtsgrundlagen zur Unterstützung komplementärer Zugangswege schaffen zu können», hielt das SEM in einem Schreiben an den Städteverband fest.

Nun liegt die Studie vor – und das Resultat versetzt den Städteverband in helle Aufregung. Denn das SEM hatte, wie sich jetzt zeigt, kurzerhand die Fragestellung geändert. Untersucht wurden in der Studie nicht wie angekündigt neue gesetzliche Möglichkeiten und Zugangswege, sondern bloss die bestehenden. «Die Analyse des SEM bestätigt, was bereits bekannt war», stellt der Verband konsterniert fest. Nämlich dass «eine Verlagerung der derzeit beim Bund angesiedelten Kompetenzen bei der Aufnahme von Flüchtlingsgruppen möglich wäre, aber weitreichende gesetzliche und finanzielle Anpassungen erfordern würde». Welche das sind? Das wurde leider nicht untersucht. Der misstrauische Städteverband hatte sich zwar ausbedungen, in einer Begleitgruppe die Entwicklungen der Studie zu überwachen – doch die Gruppe wurde gleich nach ihrer Initiierung wieder in Tiefschlaf versetzt.

Deutliche Kritik an der Analyse des SEM übt auch das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Die Studie liefere eine «zu positive Darstellung» bestehender Zugangswege zu Asyl. Mängel bei den humanitären Visa und der Familienzusammenführung würden nicht dargestellt, Lösungswege keine aufgezeigt. Und auch die Diskussion um neue Gesetze, damit Städte sich engagieren können, hält das UNHCR für vorgeschoben. Die Argumentation sei schlicht «nicht einleuchtend».