Basler Politdynastien: Die Kinder einer entrückten Partei

Nr. 12 –

Obwohl sie vor allem aus Folklore und Distinktion besteht, schafft es die Liberal-Demokratische Partei in Basel, der FDP den Rang abzulaufen. Ein Doppelporträt der jüngsten ParlamentarierInnen aus bestens vernetzten LDP-Familien.

«In anderen Parteien kommen Junge früher nach vorne»: Michael Hug (33) und Annina von Falkenstein (25) politisieren für die Liberal-Demokratische Partei.

Mit «Mehr jugendliche Unvernunft im Grossen Rat» warb die 25-jährige Annina von Falkenstein im Wahlkampf. Dabei kann man sich jemand Vernünftigeres als die neue LDP-Grossrätin kaum vorstellen. In ihrer Ausbildung zur Hotelière strebte sie noch «nichts Geringeres als Exzellenz an», wie es in einem SRF-Beitrag heisst.

Von Falkenstein ist Veganerin und lebt in einer WG. Sie ist aber auch die nächste Generation der dominanten bürgerlichen Familie in Basel: Die Familie Eymann-von Falkenstein stellt eine LDP-Regierungsrätin, einen LDP-Nationalrat, die LDP-Parteipräsidentin. Annina von Falkenstein repräsentiert im neuen Grossen Rat eben die «jugendliche Unvernunft».

In Basel-Stadt ist die stärkste bürgerliche Partei eine, die es sonst nirgends mehr gibt: die Liberal-Demokratische Partei. Vor 116 Jahren benannten sich die Basler (Liberal-)Konservativen in Liberaldemokraten um. Damals warnten die Basler Freisinnigen vor der «angeblich liberalen Partei», die noch immer aus den «alten reaktionären Konservativen» bestehe. Diese Liberalen mit dem gemäss «Historischem Lexikon» «eher elitären als populären» Ruf hatten einst auch Hochburgen in Neuenburg und Genf. Dort fusionierte die Partei Mitte der nuller Jahre mit der FDP. Weil sie in Basel auf ihrer Unabhängigkeit beharrte, wechselte das damalige LDP-Jungtalent Baschi Dürr zur FDP. Bei den Wahlen Ende 2020 wurde Dürr ausgerechnet von einer LDP-Kandidatin abgelöst – seine Position hat nun Stephanie Eymann inne.

Wenig prägnante Positionen

Bis heute gilt die LDP vielen als Vertretung des Basler «Daigs». Es tummeln sich Burckhardts, Staehelins und weitere «Daig»-Familien auf ihren Wahllisten; auch in der neuen Grossratsfraktion sitzt mit Lukas Faesch ein älterer Herr, dessen Familie seit 1409 das Basler Bürgerrecht hat und das Reichenmotto «Me hets, aber me zaigts nid» lebt. Doch parteiprägend sind jüngere Dynastien. Von Falkenstein ist zwar ein Adelsgeschlecht, aber kein baslerisches – doch der Name zieht im Kanton. Annina von Falkenstein wurde von ihrer Wahl überrascht. Weil momentan ihr Job und eine Weiterbildung zur HR-Fachfrau im Vordergrund stünden, wollte sie in eine Kommission mit eher wenigen Sitzungen.

Beim Spaziergang mit der WOZ entschuldigt sich von Falkenstein mehrfach dafür, dass ihre Positionen in fast allen Themen noch nicht prägnant seien. Sie wolle weder ihrer Familie noch der Parteilinie nachplappern und sich Zeit lassen. Beispiel AusländerInnenstimmrecht: In Basel-Stadt hat das Parlament letztes Jahr dem Stimmrecht für alle Niedergelassenen mit oder ohne Schweizer Pass zugestimmt. «Tendenziell bin ich dagegen. Weil man sich einbürgern lassen kann.» Doch je nach Herkunftsland sei ja eine Doppelbürgerschaft unmöglich. Auch für von Falkenstein «ein nachvollziehbarer Hinderungsgrund». «Zudem würden beim Einbürgerungstest wohl manche durchfallen, die den Schweizer Pass seit Geburt haben. Das sind ja eigentlich unfaire Grundvoraussetzungen. Darum verstehe ich das Anliegen.» Also ist sie nun doch dafür? Nach Ringen mit sich selbst kommt von Falkenstein zum Schluss: «Ich bin nicht dafür, könnte aber sehr gut damit leben, weil ich die Beweggründe verstehe.» Im Interview mit «Bajour» Anfang Jahr war von Falkensteins Position zum AusländerInnenstimmrecht noch so eindeutig wie kurz: «Nein.»

Es gibt eine Kluft zwischen der Lebenswelt der LDP und der Realität der meisten Menschen in Basel. Die LDP macht Politik für eine wohlsituierte Klientel, die unter Stadtleben Fasnacht, Zünfte, vermögende Stiftungen und den Gewerbeverband versteht. Aber ob die Partei überhaupt eine Linie hat, der von Falkenstein nachplappern könnte, ist selbst unter Bürgerlichen umstritten. Kürzlich schrieb ein Mitte-Politiker, die LDP sei «einzig im Besitz ihres Selbsterhaltungstriebs, aber ohne politisches Programm». Die LDP stelle «vor allem Köpfe in den Vordergrund», heisst es beim Basler FDP-Präsidenten auf Anfrage. Das Verhältnis zwischen den Parteien sei «freundschaftlich angespannt» – wegen der Konkurrenz um dieselben WählerInnen. Während die FDP bei den Grossratswahlen im Herbst auf 8,4 Prozent absackte, holte die LDP 14,1 Prozent der Stimmen. Seit vier kantonalen Wahlgängen gewinnt die LDP; für die FDP war es das schlechteste Ergebnis aller Zeiten.

Die LDP-Köpfe sind in Fasnachtscliquen, Stiftungsräten und im Gewerbe hervorragend vernetzt. Ein Vorteil der LDP ist, dass sie zwar formell Mitglied der FDP Schweiz ist, aber auf Parteileben und Delegiertenversammlungen der ungeliebten Mutterpartei verzichtet. Da sie nicht mit der FDP verbunden wird, muss sie im urbanen Basel auch keine rechtsfreisinnigen Provokationen ausbaden. Anders als Teile der FDP Schweiz greift die LDP auch nicht dauernd bürgerliche Errungenschaften im Fahrwasser der SVP an. Als Bildungsdirektor trat Annina von Falkensteins Vater Christoph Eymann dem Baselbieter Sparwahn bei der Universität ebenso entschieden entgegen, wie er heute als Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe alle Attacken auf die Sozialhilfe von GLP bis SVP abwehrt.

Frauenstreik sei Dank

Gefestigtere Haltungen hat von Falkenstein in Gleichstellungsfragen. Anders als «viele ältere Leute in meiner Partei» ist Annina von Falkenstein für einen «länger dauernden» Elternurlaub. «Da habe ich wirklich ‹strong feelings›, weil Kinder für Frauen noch immer Karrierekiller sein können.» Ob es aber auch Quoten und weitere Massnahmen gegen Lohndiskriminierung brauche? Auch hier laviert von Falkenstein: «Dem Arbeitgeber sollte am Herzen liegen, dass es den Arbeitnehmerinnenen gut geht.» Das tue es aber in vielen Fällen nicht, das sei ihr auch bewusst. «Je länger, desto mehr zweifle ich, ob die geltenden Gesetze reichen.» Sie sei dankbar für die «grosse Dynamik in der Gleichstellungspolitik, die der Frauenstreik 2019 – auch unter bürgerlichen Frauen – auslöste».

Sie selbst nahm am Frauenstreik nicht teil, habe aber die Zehntausende Frauen vom Fenster im Berner Fünfsternehotel aus beobachtet, wo sie heute stellvertretende Personalchefin ist. Die Hotellerie ist von Falkensteins Traumbereich; 75 000 Franken kostete ihre Ausbildung an der elitären École hôtelière de Lausanne. Gerade weil sie «relativ privilegiert» aufgewachsen sei – in einer Familie, die ihr diese Hochschule ermöglichen konnte –, mache sie sich viele Gedanken über Ungleichheit.

Für einen gesetzlichen Mindestlohn ist sie trotzdem nicht. Es brauche vielmehr Gesamtarbeitsverträge (GAV) in allen Tieflohnbranchen. «Wenn nun ein gesetzlicher Mindestlohn droht, sollte das die Arbeitgeberverbände anstacheln, sich auf Verträge zu einigen, die die Arbeitnehmer fair entlöhnen und schützen.» Falls sich nichts ändere, werde sie in ein paar Jahren vielleicht für eine GAV-Pflicht in Tieflohnbranchen eintreten. Als Liberale sei sie klar für «nur so viele Gesetze wie nötig», sagt von Falkenstein. Aber trotzdem müssten so manche Dinge geregelt sein. «Das kenne ich vom Beruf; ‹Eigenverantwortung› ist manchmal bloss ein Schlagwort.»

Wie aus dem Ancien Régime

«Unser Credo lautet: mehr Eigenverantwortung, weniger Staat. Das leben wir stärker als die FDP», positionierte hingegen Parteipräsidentin Patricia von Falkenstein die LDP einmal in der «bz Basel». Es wird erwartet, dass die Mutter von Annina von Falkenstein bald für Vater Eymann in den Nationalrat nachrückt. Ihren Grossratssitz hat sie kurz vor den Wahlen im Herbst abgegeben. Geerbt hat ihn die Nachwuchshoffnung einer anderen alteingesessenen LDP-Familie: der 33-jährige Michael Hug. Schon in Hugs Eltern- und Grosselterngeneration gab es VertreterInnen der LDP im Grossen Rat. Was Habitus, Manieren und karitatives Engagement angeht, wirkt er wie aus dem Ancien Régime importiert.

Michael Hug ist Jurist bei der Schweizerischen Bankiervereinigung, in einer Zunft, in Stiftungsräten, bei der Studentenverbindung Zofingia und schon seit sieben Jahren Kopräsident der Freiwilligen Denkmalpflege Basel-Stadt. Der Jungspund unter den Schweizer DenkmalpflegerInnen sagt, die LDP-WählerInnenschaft sei Jüngeren gegenüber kritisch. «In anderen Parteien kommen Junge früher nach vorne.» Tatsächlich hat es gedauert, bis Hug ins Parlament gewählt wurde. Bereits sein halbes Leben ist er politisch aktiv. Die Parteimitgliedschaft erhielt Hug als Geschenk zum 16. Geburtstag. Trotzdem habe er sich – obwohl er sich in einem Porträt auf der Lokalplattform «onlinereports» so zitieren liess – nicht erst durch den «jeweiligen Status in den Parteigremien» politisiert.

«Ich hatte einfach nie den AKW-Moment, wie ihn manche Grüne erleben», sagt Hug. Aber natürlich habe es Anliegen gegeben, die ihn sehr bewegten, etwa die Kantonsfusion mit dem Baselbiet oder die Initiative für eine Topverdienersteuer. Dass Letztere 2019 eine Mehrheit fand, hat ihn «sehr» überrascht. «Ich bin nicht libertär, die Steuern sollten nicht so niedrig wie möglich sein», sagt Hug. Diese Juso-Initiative, die zu einer moderaten Steuererhöhung für Einkommen über 200 000 Franken jährlich führt, habe jedoch das soziale Miteinander infrage gestellt. Die LDP betreibt dagegen nonchalant Klassenpolitik von oben. So fordert sie etwa – entgegen vielen Abstimmungsmehrheiten – mehr Wohnraum für Reiche.

«Ein Megatrend unserer Gesellschaft ist der Wandel der Arbeitswelt», sagte Hug zur Debatte zum gesetzlichen Mindestlohn, «Teilzeit-, Mini- und vor allem Multijobs werden sich mehr und mehr etablieren.» Auch GewerkschafterInnen argumentieren so. Doch Hug sieht in den prekären Arbeitsverhältnissen kein Problem – im Gegenteil: «Warum soll es denn schlecht sein, wenn solche Jobs zunehmen? Es wird doch niemand gezwungen, bei Uber zu arbeiten, bloss weil es Uber gibt», sagt er. Es sei eine Möglichkeit zum «Zusatzverdienst», die durch Mindestlöhne unrentabel würde. Und so mancher fahre schliesslich aus Spass für Uber.

Neu-Grossrat Hug sagt, die Probleme, die ihn seit Jahren am stärksten umtrieben, seien die «immer weniger belebte» Innenstadt und das darbende Gewerbe. Als positives Beispiel für ein lebendiges Zentrum nennt er die an Basel grenzende Kleinstadt Lörrach. Eine seiner ersten Interpellationen widmete sich der Frage, wie die Basler Messehalle im Coronaherbst als Proberaum für Fasnachtscliquen genutzt werden könnte.

Hug gibt an, das Konservativste an ihm sei, wie sehr er auf «Anstand und Respekt» Wert lege: «Wer laute Musik in der Öffentlichkeit hört oder mit zerrissenem T-Shirt ins Theater geht, sendet eine gewisse Botschaft, mit der ich Mühe habe.» Fast allen Basler Liberalen liegt Populismus bereits wegen fehlender Umgangsformen fern. Im Stadtkanton gebe es «durch alle politischen Lager eine grosse Nähe zu Bildung, Kunst und Museen», findet Michael Hug. Wenn man auf der Strasse frage, welcher Architekt hinter den markanten Bauten stehe, würden es die Leute wissen. «Ich wüsste nicht, in welcher Stadt das sonst so ist», sagt Hug. Er strahlt.

Oft tut die dominante bürgerliche Partei mit den prägenden Familien schlicht niemandem weh. Sie ist zu vernarrt in ihr nostalgisches Bild der Stadt, um wirklich Politik zu machen. Kürzlich scheiterte eine LDP-Initiative für mehr Überwachungskameras im Sammelstadium. Ein LDP-Grossrat reichte in zehn Jahren ganze zwei Vorstösse und zwei Anfragen ein; ein anderer krönte seine politische Karriere vor dem Abtritt während der Pandemie mit der Forderung nach einem Weltrekord-Tiramisu mit 80 000 Eiern auf dem Platz vor dem Rathaus.

Manchmal wirken die LiberaldemokratInnen im Parlamentsbetrieb so entrückt wie diejenigen, die in Basel trotz Corona Fasnacht feierten.