Bulgarien: Von Büffeln und Ringern

Nr. 12 –

Oligarchen und mafiöse Strukturen prägen das Land. Wer sich gegen die korrupten Zustände wehrt, lebt gefährlich. Aber nicht alle lassen sich einschüchtern. Zu Besuch bei Bulgariens tapferer (und bewaffneter) Opposition.

  • «Wir dachten, wenn die Diktatur fällt, scheint am nächsten Tag die Sonne»: Ein illegales Vorhaben in Burgas löste 2020 die grossen Proteste in der Hauptstadt Sofia aus.
  • «Alles zerstören. Plattmachen»: Der Palast des Oligarchen Ahmed Dogan am Schwarzen Meer nahe von Burgas.
  • «In manchen Ländern kommt die Mafia von unten, hier wird sie von ganz oben organisiert»: Der investigative Journalist Assen Jordanow in seinem Büro in Burgas.
  • Das Giftige Trio: Arman Babikian (rechts) organisiert mit Werislaw Mirkolew und Nikolai Hadijenow die Proteste.
  • Ein neues Bulgarien bauen? «Schwierig. Worauf denn bauen?» Strasse in der Stadt Kasanlak.

Das alte Lotsenboot rattert hinaus aufs Meer. Assen Jordanow macht eine schneidende Handbewegung in Richtung Ufer. «Alles zerstören», sagt er. «Plattmachen.» Der Journalist trägt eine schwarze Jeansjacke von Dolce und Gabbana. Darunter zeichnet sich eine Pistole ab. Auch ein Messer steckt an seinem Hosenbund.

Kein anderes Land hätte wohl einen Typen wie Jordanow hervorbringen können, vielleicht auch keine andere Stadt als diese: Burgas am Schwarzen Meer, grösster Hafen des Landes, Drehpunkt zwischen Osten und Westen. Am Ufer ist das ehemalige Fischerdorf Tschengene Skele aufgetaucht. Schachtelartige Häuser, manche auf Stelzen, die meisten illegal erstellt. Hier lebten sie alle, sagt Jordanow. «Politiker, Magistraten, ehemalige Regierungsleute, Businessmänner, Gangster.»

Das Boot fährt an einem Marinestützpunkt vorbei, der auch von der Nato genutzt wird, kurz darauf an der grössten Raffinerie Europas, betrieben vom russischen Ölgiganten Lukoil. Ahmed Dogans Palast taucht in unmittelbarer Nähe zu den letzten weissen Öltanks auf. Er ist von monströser Hässlichkeit: Türmchen in Disneyland-Ästhetik, die Parkanlage dominiert ein riesiger Pavillon mit neoklassizistischen Säulen und einer silbernen Kuppel. Ins Meer ragt der mächtige Quai von Dogans Privathafen. Dogan, während des Realsozialismus ein Agent der bulgarischen Staatssicherheit, gilt als einflussreichster Oligarch im ärmsten Land Europas.

Sein Anwesen steht für die Vollendung der bulgarischen Transformation, für die endgültige Machtergreifung der Halbwelt. Auf dem Küstenstreifen neben Dogans Anwesen nahmen letzten Sommer die grössten Proteste im Bulgarien der nachkommunistischen Ära ihren Anfang.

Martial Arts und Fratzen

Die bulgarische Mafia ist ein undurchdringliches Geflecht aus alter kommunistischer Elite, neureichen Oligarchen und klassischen Kriminellen. Jordanow sagt auf dem Boot: «In manchen Ländern kommt die Mafia von unten, hier wird sie von ganz oben organisiert.» Wie in anderen postkommunistischen Ländern sicherten sich in Bulgarien die Männer der Nomenklatura, der Partei und der Staatssicherheit in der Wendezeit ihre wirtschaftliche Macht und ihre Privilegien. Sie schöpften staatliche Gelder ab, die in undurchsichtige Firmenkonstrukte flossen, und bewirtschafteten die bereits bestehenden Schmugglerkanäle. «Amphetamin, Heroin, Waffen», sagt Assen Jordanow, während sich das Boot wieder von Dogans Anwesen entfernt. Ihre Geschäfte schützte die alte Elite mit einer Privatarmee. Rekrutiert wurden Sportler aus den kommunistischen Kadern – vornehmlich Ringer –, aber auch Gefängnisinsassen und andere Kriminelle. «Mutris» nennen sie die BulgarInnen, Fratzen. Überall im Land tauchten nach der Wende die stiernackigen Männer auf. Sie gründeten Sicherheits- und Versicherungsfirmen, erpressten Schutzgeld, kaperten Wirtschaftszweige wie den Tourismus. Und sind inzwischen selbst zu Oligarchen aufgestiegen.

Jordanow wäre selbst fast ein Mutri geworden. Während des Realsozialismus habe er im Martial-Arts-Nationalteam gekämpft und die Antiterroreinheiten der Grenzpolizei trainiert, sagt er auf dem Weg vom Hafen zu seinem Büro. «Nach der Wende hatte ich kurz eine Sicherheitsfirma, aber das war der falsche Weg.» Es ist nicht seine einzige irrwitzige Geschichte. Fünf Jahre lang will Jordanow mit Wasserbüffeln in der Wildnis gelebt haben, nachdem er herausgefunden habe, dass seine Frau als Spitzel auf ihn angesetzt worden sei. Deshalb auch der Name seines Blogs: «Bivol» (Büffel).

Maria Cappone, Delegierte bei den EU-Beitrittsverhandlungen; Konstantin Bachiiski, Lokalpolitiker­; Losan Panow, oberster Bundesrichter (v.l.n.r)

Jordanow hat sich mit seinen investigativen Recherchen dem Kampf gegen die bulgarische Mafia verschrieben. 2010 gewann er den Leipziger Medienpreis, der an JournalistInnen verliehen wird, die sich mit besonderer Risikobereitschaft für die Pressefreiheit einsetzen. Die Mafia, erzählt er bei einem ersten Treffen in einer Hotellobby in Sofia, habe seinem Land in den letzten Jahren zunehmend die Luft abgeschnürt. Mit dem EU-Beitritt sei alles nur schlimmer geworden. «Es ist ein Paradox. Der Beitritt sollte dem Land demokratischen Fortschritt bringen, doch er hat das Gegenteil bewirkt.» Danach hätten die bulgarischen Politiker die Motivation verloren, «sich als reformwillige Demokraten zu präsentieren». Und die Fördermittel aus den Struktur- und Investitionsfonds der EU, die nach dem Beitritt ins Land flossen, hätten die Macht der Oligarchie zementiert: «Die kriminellen Netzwerke mussten sich nicht mehr durch illegale Machenschaften finanzieren, sie verlegten sich auf die viel lukrativere Veruntreuung von EU-Geldern.» Mit den Fondsmitteln wuchs der Einfluss der Oligarchie. Ahmed Dogan, der nach der Wende die als besonders korruptionsanfällig geltende Partei der türkischen Minderheit «Bewegung für Recht und Freiheiten» (DPS) gründete und bis vor ein paar Jahren im Parlament sass, sagte einst über sich: Er sei der Mann, der die Portionen verteile.

In Jordanows Büro hängen zahlreiche Rahmen mit Diplomen und Preisen, aber auch wunderliche Dinge sind dabei wie eine «Ehrenbürgerschaft der City of Mobile». Der Journalist rührt gedankenversunken in seinem Kaffee, sein Blick ist weich geworden. «So viele Ehrungen», sagt er, «aber wir sind pleite.» Seit Bulgarien der EU beigetreten ist, ist das Land bei der Pressfreiheit abgerutscht: von Rang 35 auf der Rangliste von Reporter ohne Grenzen auf zuletzt Rang 111, hinter Länder wie Uganda oder die Ukraine. In der EU liegt das Land damit abgeschlagen auf dem letzten Platz.

Der bulgarische Medienmarkt wird von einem Mann kontrolliert: Deljan Peewski. Der DPS-Abgeordnete und Dogan-Vertraute mit berüchtigten Kontakten in die Schattenwelt besitzt inzwischen achtzig Prozent der Zeitungen, dazu verschiedene Fernsehstationen und Onlinemedien. Mit welchem Geld er diese wohl gekauft habe, fragt Jordanow rhetorisch. Seit er, lange vor den Protesten, Dogans Anwesen ins Visier nahm – die dubiosen Finanzierungsquellen, die fehlenden Bewilligungen –, ist der Druck auf ihn und seine heutige Frau noch grösser geworden. Jordanow sagt: «Sie pressen uns aus.» Seiner Frau, die ein Kommunikationsbüro betreibt, würden alle KundInnen abspringen, «weil sie unter Druck gesetzt werden».

Der eifrige Herr Bachiiski

Vor dem Gemälde einer Frau mit lüsternem Blick sitzt Lokalpolitiker Konstantin Bachiiski von der Europäischen Mittelklassepartei. Er leitet ein IT-Unternehmen in einem Plattenbau am Rand der Altstadt von Burgas. Ausgerechnet Bachiiski, dessen eifriges Erzählen an die Freude eines strebsamen Schülers erinnert, steht – nimmt man es genau – am Anfang der bulgarischen Protestbewegung.

Alles begann an einem Tag im letzten April. Damals verteilte der Bürgermeister von Burgas, Dimitar Nikolow von der Regierungspartei GERB, den Gemeindeabgeordneten ein hundertseitiges Dokument; beim Geschäft ging es um ein Abwassersystem für das Fischerdorf Tschengene Skele, traktandiert war es für den nächsten Tag. «Sehr ungewöhnlich», sagt Bachiiski, «normalerweise erhält man alle Traktanden drei Wochen im Voraus.» Bachiiski sagt, er habe sich die ganze Nacht durch den trockenen Text gequält. Und sei irgendwann auf den versteckten Antrag gestossen, Gemeindestrassen, die zu Ahmed Dogans Anwesen führen, zu privatisieren. Ein illegales Vorhaben: In Bulgarien müssen die Strände der Schwarzmeerküste per Gesetz öffentlich zugänglich sein.

Im Rat machte Bachiiski auf das Vorhaben aufmerksam, die Mehrheit lehnte darauf die Vorlage ab. «In der Ratspause ging der Bürgermeister zu jedem einzelnen Parlamentsmitglied und machte Druck», sagt Bachiiski. «Das hatte ich so in meinen zehn Jahren als Gemeinderat noch nicht erlebt.» Danach liess der Bürgermeister die Abstimmung wiederholen, das Parlament von Burgas winkte die Vorlage durch.

Bachiiski reichte bei der Regionalverwaltung Beschwerde über den Entscheid ein. Was sich danach abspielte, schildert er mit der Ironie des Ungläubigen: «Nur der Papst ist nicht bei mir aufgekreuzt.» Nach der Beschwerde habe es nur ein paar Stunden gedauert bis zum ersten Anruf. Den Mann am Apparat beschreibt der Politiker als «einen der Männer zwischen Business und Politik». Er habe ihn gewarnt: «Was legst du dich mit diesen Leuten an? Das ist unklug, denen gehört das ganze Land.» So sei das immer weitergegangen, sagt Bachiiski. «Ein Anruf folgte auf den anderen, ein schräges Meeting aufs nächste.»

Die Drohungen verschärften sich, als der unnachgiebige Bachiiski eine Klage beim übergeordneten Gericht vorbereitete. «Jemand fragte mich: ‹Willst du verhaftet werden?› Da wusste ich, jetzt brauchst du Öffentlichkeit.» Im Gemeinderat habe dann einer aus der Oppositionspartei «Ja, Bulgarien!» vorgeschlagen, das bekannte Parteimitglied Christo Iwanow einzuspannen. «Ich habe drei Wochen auf seinen Anruf gewartet. Dann sah ich im Internet sein Video. Sie sind ohne mich zu Dogans Anwesen gefahren. Nicht gerade Fairplay. Aber das Gute war: Nach der Aktion liess der Druck auf mich nach.»

Das Video zeigt, wie Iwanow Anfang Juli 2020 mit einem Motorboot am Strand neben Dogans Palast anlandet, eine Bulgarienfahne zwischen Steine steckt und von Männern des Nationalen Sicherheitsdiensts – die gar nicht im Dienst eines Exabgeordneten stehen dürften – aufs Meer zurückgedrängt wird. Wenige Tage später pilgerten DemonstrantInnen über Land und Wasser zu Dogans Anwesen.

Als Generalstaatsanwalt Iwan Geschew auf den Plan trat – bekannterweise ein treuer Vasall der Oligarchie –, schwappten die Proteste in die Hauptstadt Sofia über. Geschew liess die Büros von Staatspräsident Rumen Radew von der oppositionellen sozialistischen Partei untersuchen, weil dieser eine Untersuchung der Ereignisse in Burgas gefordert hatte. Das war, in einem ohnehin schon von Skandalen geprägten Sommer, der Tropfen zu viel. Der eifrige Herr Bachiiski sagt: Die ganze Geschichte bilde die bulgarische Misere im Kleinformat ab. «Sie ist ein Modell dafür, wie das ganze Land funktioniert.»

Der Premier und die Goldbarren

Von den Protesten zeugt im Februar nur noch ein leeres Zelt vor dem Parlamentsgebäude in Sofia. Einen der Anführer der Bewegung findet man in einem gelben Jugendstilbau, der seine besten Zeiten längst hinter sich hat: Kabel hängen lose von der Fassade herunter, das Treppenhaus riecht nach feucht-bröckelndem Putz. Am Konferenztisch seiner Polit-PR-Firma erinnert sich Arman Babikian an vergangene Hoffnungen. «Ronald Reagan sagte damals: ‹Reisst die Mauer nieder!› Wir waren naiv. Wir dachten, wenn die Diktatur fällt, scheint am nächsten Tag die Sonne.»

Babikian ist Teil des sogenannten Giftigen Trios – drei grauhaarige Männer, die zu den Gesichtern des Protests geworden sind. «Warum wir?», fragt er. «Vielleicht das schlechte Gewissen. Wir haben damals etwas nicht zu Ende gebracht.»

Als junger Mann arbeitete Arman Babikian für den von der CIA ins Leben gerufenen Radiosender Free Europe, der im Osten das freiheitlich-kapitalistische Glück propagierte. Heute hängt der Mann wie sein ganzes Land fest. «Ich bin Antikommunist», sagt er, «und das bleibt so. Hätten wir wie in Deutschland Aufarbeitung geleistet, wäre es etwas anderes. So sind wir am gleichen Ort wie vor dreissig Jahren, nur haben wir die freie Welt nicht mehr im Rücken.»

Die bulgarischen Proteste speisen sich auch dreissig Jahre nach der kapitalistischen Wende aus deren unerfüllten Versprechungen. Lakonisch sagt Babikian, ein erschöpfter Mann mit grauem Gesicht und schalkhaften, weit auseinanderliegenden Augen: «Prosperität, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit.» Die Realität seines Landes ist eine schlechte Karikatur dieses Versprechens – vor Augen führten das letzten Sommer an die Öffentlichkeit gelangte Bilder aus dem Schlafzimmer von Premier Boiko Borissow. Sie zeigen den Premier schlafend im Bett, auf dem Nachtkästchen eine Pistole, in der Schublade bündelweise 500-Euro-Scheine und Goldbarren. Borissow behauptete, eine ehemalige Geliebte habe das Foto arrangiert, um ihn zu kompromittieren.

Dem Premier werden enge Verbindungen zu Dogan und dem organisierten Verbrechen nachgesagt. Während des Realsozialismus langjähriger Mitarbeiter im Innenministerium, soll sich Borissow in den Neunzigern an verschiedenen zwielichtigen Geschäften beteiligt haben. Hauptsächlich fokussierte er auf das Sicherheitsbusiness: Nach der Wende gründete er die Sicherheitsfirma Ippon, die etwa den ehemaligen Diktator Todor Schiwkow bewachte. Seine politische Karriere begann, als ihn der damalige Premier Simeon Sakskoburggotski 2001 vom Bodyguard zum Staatssekretär im Innenministerium beförderte. 2006 gründete der damalige Bürgermeister der Hauptstadt Sofia die rechtsliberale Partei GERB (Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens).

Zehntausende Menschen gingen in Bulgarien im Sommer während Wochen jeden Abend auf die Strasse. Viele von ihnen jung und der Perspektivlosigkeit müde. Arman Babikian gegenüber sitzt sein 27-jähriger Sohn Hago Babikian. Wie ein grosser Teil seiner jungen Landsleute hat er im Ausland studiert. In geschliffenem Englisch sagt er: Es brauche sehr viel, bis sich in Bulgarien Wut auf der Strasse entlade. Die wirtschaftliche Misere, die Angst. «Vielen fehlt die Kraft zum Protestieren.» Diesen Sommer aber sei die Geduld der Menschen plötzlich zu Ende gewesen. Die oberste Forderung der Protestbewegung, die bis in den Oktober hinein anhielt, lautete: Rücktritt von Boiko Borissow und seinem Kabinett, ihr Slogan: «Mutri, verschwindet!»

Vier Monate später ist Borissow immer noch an der Macht. Hago Babikian sagt nüchtern, dass die Proteste schon Erfolge gebracht hätten. «Der grösste ist, dass die EU jetzt hinschaut.» Bisher hatte die EU Bulgarien jährlich für den Fortschritt in Sachen Demokratie gelobt. Im Oktober verabschiedete das Europäische Parlament eine Resolution, die in Bulgarien «eine erhebliche Verschlechterung der Achtung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Grundrechte» feststellt, «einschliesslich der Unabhängigkeit der Justiz, der Gewaltenteilung, der Bekämpfung der Korruption und der Medienfreiheit».

Blühende Landschaften

In der Protestzentrale von Arman Babikian betreibt auch Maria Cappone ein Büro. Die rundliche, energisch gestikulierende Frau ist Betreiberin einer Messebaufirma, 2008 gründete sie die kleine Vereinigte Volkspartei. Wenn die Politikerin über ihr Land spricht, klingen die blühenden Landschaften an, die CDU-Kanzler Helmut Kohl dem Osten nach der Wende versprach. «So eine schöne Natur», sagt sie. «So schöne Kinder. Und kein öffentliches Leben. Nicht zu glauben.»

Von 2005 bis 2007 war Cappone Präsidentin der bulgarischen Delegation, die im Europäischen Parlament den EU-Beitritt ihres Landes auf den Weg brachte – für die inzwischen untergegangene Demokratische Partei. Sie sagt: Damals habe sie alles unternommen für einen möglichst raschen Beitritt. «Wir wollten einen Termin.» Damit sei sie aber in einem Dilemma gewesen. «Wir waren froh, dass wir trotz aller Kritik ein Datum bekamen. Da kann man nicht zu laut strenge Richtlinien für das Land fordern. Aber die hätte es gebraucht.» Das EU-Monitoring, sagt Cappone, habe ihrem Land schon so viele Stufen an Fortschritt attestiert, «wir müssten auf der Treppe inzwischen ganz oben sein». In Wirklichkeit habe sich nichts geändert. «Bulgarien ist eine weiche Diktatur.»

Cappones Partei ist an den neoliberalen Rändern der Mitte anzusiedeln. Ideologien redet sie weg. Die Mafia kenne schliesslich auch keine, sagt sie. «Sogar in der Grünen Partei gibt es Mafiosi.» Also müsse sich auch die Opposition entlang einer einzigen Trennlinie formieren. «Es gibt nur diese eine Grenze», sagt die Politikerin. «Entweder ein Politiker lässt sich von der Oligarchie kaufen oder nicht.»

Arman Babikian war einst in der Reformbewegung Ekoglasnost aktiv. Erst viel später habe er gemerkt: «Sie haben uns überwacht und gesteuert.» Auch die alten demokratischen Kräfte, etwa die Sozialdemokratie, wurden in Bulgarien nach der Wende durch Überwachung und Spaltung marginalisiert. Heute sei alles beim Alten, sagt Babikian. Wieder würden Telefone abgehört, einem Mitstreiter habe man das Auto angezündet. «Sie haben keine neuen Tricks, keinen Intellekt.»

Am 4. April finden in Bulgarien Parlamentswahlen statt. Die Umfragen prognostizieren einen klaren Wahlsieg von Borissows GERB-Partei, doch ist das grösste Umfrageinstitut nicht unabhängig. Hago Babikian sagt, die Protestbewegung sei nicht einfach versiegt, «wegen Corona konnten wir irgendwann nicht mehr auf die Strasse». Im Hintergrund habe sich der Aufstand fortgesetzt: Weil die Bewegung Wahlmanipulation befürchte, schicke sie freiwillige BeobachterInnen in die besonders maroden und deshalb für Stimmenkauf anfälligen Gebiete. Auch werde die Oppositionsbewegung so viele offizielle StimmenzählerInnen wie möglich stellen.

Arman Babikian sagt, Borissow sei doch «eine politische Leiche». Doch auch wenn Borissow, der seit 2017 in einer Koalition mit der rechtsextremen und russlandfreundlichen Allianz Vereinigte Patrioten regiert, bei den Wahlen die Mehrheit verlieren sollte: Ein neues Bulgarien zu bauen, werde schwierig: «Worauf denn bauen?» Für den Kampf gegen die Korruption brauche es zudem viel mehr als einen Regierungswechsel, «etwa ein entschiedenes Vorgehen der Finanzpolizei gegen das organisierte Verbrechen». Vor allem aber fordert die Bewegung eine Reform des Justizsystems.

Lammköpfe für den Bundesrichter

Losan Panow empfängt in den Räumen des Justizpalasts: hellbrauner Täfer, gelbe Ledersessel, ein Kronleuchter aus den sechziger Jahren. Der oberste Bundesrichter an Bulgariens Kassationsgericht hat etwas Vogelhaftes, er wirkt müde. Die Sache mit den Lammköpfen passierte an einem Vormittag Ende April 2017. Panow sagt: «Es erinnerte mich an ‹The Godfather›, die Szene mit dem Pferdekopf im Bett.» Sechs Männer empfingen Panow an jenem Tag vor dem Justizpalast. Sie waren maskiert. Jeder von ihnen hielt einen abgeschlagenen Lammkopf in der Hand. «Dass das eine Drohung an mich war, war sofort klar», sagt Panow. Vor dem Auftritt der Männer hatte der oberste Justizrat getagt, und Panow hatte Fragen gestellt zu öffentlich gewordenen Drohungen des Generalstaatsanwalts gegenüber einem Geschäftsmann und Medienbesitzer.

Losan Panow hat sich von der Macht abgewandt: Er kritisiert öffentlich die Kaperung der Justiz durch die Oligarchie. Seither wird der oberste Bundesrichter, der sich nach dem Dogan-Skandal auch mit den Protestierenden solidarisch zeigte, drangsaliert. «Die Maschine, die Maschine», sagt er.

Das bulgarische Justizsystem funktioniert noch immer nach dem Sowjetmodell: Die ganze Macht liegt bei Generalstaatsanwalt Iwan Geschew, der eigenmächtig die Verfahren der ihm untergebenen StaatsanwältInnen einstellen kann. Dazu kommt, dass der oberste Justizrat, der über Dinge wie die Gerichtsbudgets, Stellennominierungen oder Disziplinarisches bestimmt, überwiegend politisch besetzt ist. «Und wenn der Rat abhängig ist, beeinflusst das natürlich die Justiz.» Er fährt fort: «Geschew bestimmt, wer verfolgt wird und wer nicht. Er ist ein Schutzschirm für seine Freunde und das Gegenteil für seine Feinde.» Was in seinem Land abgehe, sei Aussenstehenden nur schwer zu vermitteln. «Wenn in anderen Systemen ein Kontrollmechanismus versagt, greift ein anderer. Hier tun alle, was nötig ist, um den Status quo zu erhalten.»

In Bulgarien versanden die Untersuchungen grosser Korruptionsfälle fast immer nach Jahren des formalistischen Hinauszögerns im Sand. Seit Panow die Korruption öffentlich kritisiert, ist sein Alltag kaum mehr erträglich. «Statt in die Arbeit fliesst meine ganze Energie ins Abwehren und Verteidigen.» Panow sagt, das repressive System funktioniere immer gleich. «Es wurde nicht für mich erfunden.» Erst stellten die Medien rufschädigende Beschuldigungen in den Raum. «Wenn sich diese als falsch erweisen, wird einfach nicht mehr berichtet, das ist der Trick.» Medienmogul Peewski sei eine zentrale Machtfigur in Bulgarien, sagt der Richter. «Borissow hat ihn eingeschleust, um politisch zu überleben.» Die von der Oligarchie gekaperten Medien gäben dem Premier Macht und umgekehrt. «So funktioniert das.»

Auf die Vorwürfe in den Medien, sagt Panow, folgten die Inspektionen durch behördliche Institutionen. Oft werde über die Steuerbehörde Druck ausgeübt. «Im Justizrat gibt es zudem ein Inspektorat für ethische Verfehlungen. In meinem zweiten Amtsjahr habe ich einmal gezählt. Damals hatte es schon 83 Inspektionen meines Büros durch verschiedene staatliche Institutionen gegeben.» Auch Panows Frau, eine Wirtschaftsjournalistin, erlebt immer wieder Repressionen. Zuletzt sei plötzlich ihr Konto gesperrt worden, «just als die Fotos aus Borissows Schlafzimmer zum Skandal wurden». Panow sagt, es sei nicht leicht, über die Zustände zu reden. «Die Lammköpfe waren sehr frustrierend.» Selbst wenn er die Fotos davon KollegInnen aus Afrika oder Asien zeige, sagten diese: «Repression kennen wir ja, aber so etwas …».

Die Entwicklungen in Bulgarien haben Panows Glauben an die EU erschüttert. «Werte?», fragt er. Die wirtschaftlichen Interessen bestimmten doch alles. «Das zeigt sich auch daran, wie sich die EU gegenüber Russland verhält.» Im Gegensatz zu den Regierungen anderer osteuropäischer Staaten wie Ungarn oder Polen ging Boiko Borissow nie auf Konfrontationskurs mit der EU. Richter Panow sagt, Borissow sei ein Ja-Sager. «Wenn Merkel für dieses oder jenes ein paar Stimmen in der EU-Kommission braucht, sagt er Ja. Wenn die USA hier irgendwelche Militärbasen bauen wollen, sagt er Ja. Genauso gegenüber Russland. Borissow ist für alle sehr angenehm. Nur nicht für die eigene Bevölkerung.»

Vier Männer mit Messern

Panow sagt, er vermisse echte Leader. «Reagan, Thatcher, Kohl, Mitterrand.» Korruption wittert er bis ganz oben: «Sie fragen mich, ob ein Teil der EU-Gelder zurück in die Kommission nach Brüssel fliesst? Ich weiss es nicht, aber die Protektion Boiko Borissows ist verdächtig.» Assen Jordanow, der Journalist aus Burgas, teilt Panows Verdächtigungen. In der Hotellobby erzählt er, er habe zwei Recherchen zu veruntreuten EU-Geldern dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (Olaf) zukommen lassen. Die Reaktion von Olaf? «Keine.» Zwei Mordversuche hat Jordanow bereits überlebt. Das zweite Mal griffen ihn vier Männer mit Messern an, der Journalist und Karatemeister überlebte mit einer Bauchwunde. Seither ist er nur noch bewaffnet unterwegs – und zynisch: Nein, er sehe überhaupt keine Chance auf politische Veränderungen. «Aber ich bleibe hier, weil sie mich loswerden wollen.»

Ganz anders IT-Unternehmer und Lokalpolitiker Konstantin Bachiiski. Fröhlich sagt er zum Abschied: Es sei der richtige Moment für Veränderungen, «es gibt gerade viel Energie dafür». Seinen peniblen Kampf gegen die Gesetzesverstösse des Oligarchen hat er im Schatten der landesweiten Proteste weitergeführt: Als Dogan eine Mauer um sein Grundstück aufstellte, rückte Bachiiski mit einem Messgerät an, «um zu beweisen, dass sie auf öffentlichem Grund gebaut wurde». Das Gemeindeparlament von Burgas hat derweil seinen Entscheid zu den Zugangsstrassen rückgängig gemacht.

Doch der Streit wird vor Gericht weitergehen. Die groteskeste Wendung im Fall: Dogans Leute behaupteten irgendwann, der Küstenabschnitt sei gar kein Strand, sondern Agrarland. Bachiiski: «Sie haben tatsächlich Grasbüschel herangekarrt und diese in den Sand gepflanzt.»

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