Bulgarien: «Wir haben von Monopolen die Nase voll!»
Die hohen Strompreise haben zum Sturz der bulgarischen Regierung geführt, die Ursache liegt aber im korrupten Machtsystem, dessen PolitikerInnen auf ausländische Konzerne setzen.
Aleksandar Duntschew ist wieder auf die Strasse gegangen, zum 15. Mal in Folge. Am vergangenen Wochenende steckte die bulgarische Hauptstadt in einem grauen, kalten Nebel – «ein Wetter zum Teetrinken und Dösen in der warmen Wohnung», wie der junge Aktivist sagt. Doch in Sofia haben die Menschen dafür keine Zeit. Nach dem überraschenden Rücktritt der Regierung von Bojko Borissow am 21. Februar gehen die heftigen Proteste weiter. «Eine warme Wohnung ist für viele unbezahlbar geworden, und das ganz buchstäblich. Wir haben von Monopolen und Korruption die Nase voll», empört sich Duntschew, der sich seit längerem für den Umweltschutz und gegen umstrittene Bauprojekte engagiert und sich jetzt der neuen breiteren Bewegung angeschlossen hat.
«Wenn Baugenehmigungen illegal erteilt werden und zwielichtige Geschäftsleute Profite machen – etwa zulasten der Naturparks –, haben wir es im Grunde genommen mit dem gleichen Problem zu tun wie jetzt, wenn Energieunternehmen von ihrer Monopolstellung profitieren und der Staat das erlaubt», sagt er. «Es ist also nur logisch, dass ich mich auch jetzt engagiere.» Unmittelbarer Grund für die spontanen Unruhen, die vergangene Woche zum Rücktritt der Regierung geführt haben, sind die hohen Stromrechnungen, die weite Teile der Bevölkerung nicht mehr zahlen können.
Die Energieversorgung in Bulgarien erfolgt durch lediglich drei Unternehmen, die das Land unter sich aufgeteilt haben und in ihrer jeweiligen Region eine Monopolstellung geniessen – die österreichische Firma EVN und die beiden tschechischen Energiekonzerne Energo-Pro und CEZ. Zwei der drei Stromanbieter sind Privatunternehmen, einzig der Konzern CEZ ist zu siebzig Prozent in tschechischem Staatsbesitz. Wie in vielen anderen Fällen verlief die Privatisierung der bis in die neunziger Jahre öffentlichen Energieversorgung wenig transparent; die Privatisierungsverträge sind bis heute geheim. Dementsprechend wenig weiss die Öffentlichkeit über die Eingriffe der Regierung, wenn es darauf ankommt, die Stromunternehmen und die Strompreise zu kontrollieren. Die Menschen in den Strassen von Sofia sind der Meinung, dass die Konzerne ihre Bedingungen weitgehend diktieren können.
Ernüchterung nach EU-Beitritt
Unter dem Druck der weltweit steigenden Öl- und Gaspreise und der Einführung einer von der EU beschlossenen Umlage zur Unterstützung von erneuerbaren Energien sind zwar die Strompreise nicht nur in Bulgarien, sondern überall in der EU gestiegen. Doch die Steigerung war im kleinen balkanischen Land besonders hoch, sie betrug im letzten Jahr fast fünfzehn Prozent. Mit elf Rappen pro Kilowattstunde kostet Strom in Bulgarien knapp die Hälfte dessen, was ein durchschnittlicher Haushalt in der Schweiz zahlt – allerdings beträgt der durchschnittliche Monatslohn im ärmsten Land der EU umgerechnet nur knapp 450 Franken.
Nach dem EU-Beitritt 2007 erhofften sich viele der 7,4 Millionen BulgarInnen, bald einen westeuropäischen Lebensstandard zu erreichen. «Wir dachten, die Machenschaften der korrupten wirtschaftlichen und politischen Elite hätten damit ein Ende», sagt Aktivist Duntschew. Doch dieser Wandel blieb aus. Ab 2009 wurde das Land vom wirtschaftsliberalen Kabinett des Ministerpräsidenten Bojko Borissow regiert. Der Mann, ein ehemaliger Leibwächter mit Verstrickungen in den Milieus der Polizei und des organisierten Verbrechens, verkörpert ein Machtsystem, das inzwischen seine demokratische Legitimität verloren hat. Trotz der Wahlkampfversprechen des Vorsitzenden der Partei Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens (GERB; vgl. m Anschluss an diesen Text«Bulgariens Parteien») blieben Korruption und organisierte Kriminalität ein massives Problem.
Die jüngste Nominierung für die Leitung der Kontrollbehörde für Energie und Wasser musste zurückgezogen werden, weil die Kandidatin zwielichtige Geschäfte mit Zigaretten gemacht hatte. «Dies ist kein peinlicher Ausreisser, sondern fast die Norm in Bulgarien. Neu ist, dass der Skandal nicht einfach ignoriert wurde», sagt der Sofioter Politologe Martin Lessinski. Borissow wurde – im Gegensatz zu den heutigen Oppositionsparteien – von vielen BulgarInnen anfangs als bessere Alternative betrachtet, weil er einen Bruch mit der Vergangenheit und eine rasche Modernisierung des Lands mittels EU-Geldern versprach.
Tatsächlich bestand das zurückgetretene Kabinett zum Teil aus wirtschaftsliberalen TechnokratInnen, die im Westen studiert und gearbeitet haben. Finanzminister Simeon Djankow etwa, der früher bei der Weltbank in den USA tätig war, hat eine zentrale Rolle beim rigorosen Sparkurs der letzten Jahre gespielt. Eine Einheitssteuer von nur zehn Prozent auf alle Einkommen und Unternehmensprofite wurde eingeführt in der Hoffnung, den Standort Bulgarien für ausländische InvestorInnen attraktiver zu machen. Gleichzeitig hat die Regierung Löhne und Gehälter im öffentlichen Sektor gekürzt, Stellen und Sozialleistungen gestrichen. «Die Sparmassnahmen gingen weit über das hinaus, was man in Westeuropa für vorstellbar hält», stellt Politologe Lessinski fest. Djankows populistische Bemerkungen über die «Nichtstuer» im öffentlichen Dienst oder bei der Akademie der Wissenschaft haben denn auch zu einer starken Polarisierung geführt.
Kein Vertrauen in Parteien
Immer mehr BürgerInnen, auch in den kleineren, sonst verschlafenen Provinzstädten, zeigten in den letzten zwei Wochen ihren Unmut. Vergangenes Wochenende gingen insgesamt über 200 000 Menschen auf die Strasse. Auch Maria Zlatkowa war dabei. Die 55-jährige Lehrerin kommt aus Montana, einer Stadt im Nordwesten Bulgariens, die besonders stark unter Armut und Arbeitslosigkeit leidet. «Ich will nicht in einem Land leben, das Bildung und Gesundheit vernachlässigt und meine Kinder zur Auswanderung zwingt», sagt Zlatkowa. Ihre Tochter Antina studiert in Wien. Diese hält – wie fast eine Million ihrer Landsleute – eine baldige Rückkehr in die Heimat für wenig realistisch. «Trotz des EU-Beitritts, der eine sehr gute Sache war, bleiben die Optionen, die Bulgarien jungen Menschen bietet, einfach zu schlecht», sagt Antinas Mutter.
Am Anfang haben die wütenden BürgerInnen ihre Stromrechnungen verbrannt und eine sofortige Wiederverstaatlichung der Energiemonopole gefordert. Mittlerweile reicht der Forderungskatalog weiter: Das Prinzip der massiven Bürgerbeteiligung auf allen institutionellen Ebenen müsse in einer neuen Verfassung verankert werden, sagen die VertreterInnen der Protestierenden. Sie haben sich in der Stadt Sliven zusammengeschlossen, um der spontanen Bewegung eine Stimme zu geben. Nur so sei eine Kontrolle über die politische Klasse möglich, und nur so könne sichergestellt werden, dass keine undurchsichtigen Deals zugunsten von Privatunternehmen geschlossen würden.
VertreterInnen der politischen Parteien dürfen bei diesen Debatten nicht zugegen sein. «Die Gefahr der politischen Instrumentalisierung durch die Oppositionsparteien ist einfach zu gross. Und das würde alles ruinieren», sagt Aleksandar Duntschew. Das Misstrauen in der Gesellschaft gegenüber der Parteienpolitik ist seit Jahren gross – nicht nur in Bulgarien, sondern auch in anderen Ländern der Region.
Staatspräsident Rossen Plewneliew hat diese Woche die in der Verfassung vorgesehene Prozedur eingeleitet; vorgezogene Parlamentswahlen werden aller Wahrscheinlichkeit nach Ende April oder Anfang Mai abgehalten. Doch die meisten BulgarInnen geben sich damit nicht zufrieden. Es geht nicht nur um einen Machtwechsel und punktuelle Reformen. Es geht um Armutsbekämpfung, gerechte Chancen auf einen besseren Lebensstandard, weniger Ungleichheit und um einen stärkeren Sozialstaat. Also um eine ganz andere Gesellschaft.
Bulgariens Parteien
Nachdem die konservative Minderheitsregierung von Bojko Borissow von der Partei Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens (GERB) letzten Mittwoch zurückgetreten ist, soll nun in Bulgarien das Parlament mit 240 Mitgliedern aufgelöst werden. Der konservative Staatspräsident Rossen Plewnielew wollte das zwar verhindern, aber keine Partei ist bereit, die neue Regierung zu bilden.
Der frühere Staatschef und Vorsitzende der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP) – Sergej Stanischew – will Neuwahlen. Seine Partei verlor 2009 die Parlamentswahlen und war nach GERB (116 Sitze) mit 40 Sitzen zweitstärkste Kraft. Auch die dritt- und viertgrössten Fraktionen – die Partei der türkischen Minderheit Bewegung für Rechte und Freiheiten (38 Sitze) und die nationalistische Partei Ataka (21 Sitze) – lehnen eine Regierungsbeteiligung ab. Neuwahlen finden frühestens Ende April statt.