Dokumentarisches Kino: Total authentisch im Wohnmobil

Nr. 15 –

Was darf ein Dokumentarfilm? Wo sind ihm Grenzen gesetzt? In der Debatte um den deutschen Skandalfilm «Lovemobil» sind das die falschen Fragen.

Im Grenzbereich zwischen Fiktion und inszenierter Wirklichkeit: Szene aus «Lovemobil» Still: NDR / Christoph Rohrscheidt

Gegen Ende des Films sehen wir die Prostituierte Milena, wie sie mit ihrer besten Freundin im winterlichen Berlin durch einen Park spaziert. Sie traue nur sich selbst, sagt sie auf Bulgarisch: «Respektiere jeden, traue niemandem.» Ein markiger Satz, wie gestochen im Tattoostudio – aber eben auch die Lebensmaxime einer prekarisierten Frau. Einer jungen Frau, die angeblich davon lebt, dass sie ihren Körper für Sex verkauft, in einem Wohnmobil an einer Landstrasse in Niedersachsen.

Unterdessen klingen sie allerdings etwas schief, diese Worte aus dem preisgekrönten Film «Lovemobil» von Elke Lehrenkrauss. Traue niemandem? Das fällt jetzt auf den Film und seine Regisseurin zurück, seit das Reportageformat «STRG_F» des Norddeutschen Rundfunks (NDR) publik gemacht hat, dass dem dokumentarischen Anspruch von «Lovemobil» womöglich auch nur bedingt zu trauen ist.

So stellte sich heraus, dass zwei Hauptfiguren von Laiendarstellerinnen gespielt wurden; eine der beiden, Milena, hat zumindest Erfahrungen als Sexarbeiterin, die andere ist eine Filmstudentin aus Nigeria. Auch die Figur eines Zuhälters wird im Film von einem Laiendarsteller gespielt. Gegenüber «STRG_F» sagte er, man habe ihn dabei im Glauben gelassen, er wirke in einem Spielfilm mit; die Regisseurin bestreitet dies. Einzig Uschi, eine Exprostituierte, die im Film Wohnwagen an Sexarbeiterinnen vermietet, sagt auf die Frage, wie viel von ihrer Figur sie selbst sei: «Eigentlich alles. Alles.»

Sonst aber alles «gefälscht»? Zunächst einmal ist hier einfach inquisitorischer Eifer auf sträf‌liche Intransparenz getroffen – und dann ist der Regisseurin ihr Lügengebäude nur so um die Ohren geflogen. Den Deutschen Dokumentarfilmpreis, den sie mit «Lovemobil» gewonnen hatte, hat Lehrenkrauss inzwischen zurückgegeben, ihre Nominierung für den Grimme-Preis wurde annulliert. Der NDR liess den Film aus der Mediathek entfernen, zu sehen ist er derzeit nirgends.

Unter Verdacht

In der Debatte, die seither rund um «Lovemobil» entbrannt ist, sind dann aber sehr schnell die Kategorien durcheinandergeraten – zwischen journalistischer und künstlerischer Arbeit, aber auch, was Fragen nach Inszenierung und Wirklichkeit angeht. Pauschal unter Verdacht steht jetzt etwas, was es gar nicht gibt: der Dokumentarfilm an und für sich.

Dass jede konkrete Realität ab dem Moment, wo eine Kamera vor Ort ist, unverfälscht sowieso nicht mehr zu haben ist: eine Binsenweisheit, so alt wie das Kino selbst. Ja, auch im Dokumentarfilm können die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit durchlässig sein – sie sind es seit jeher und heute womöglich mehr denn je. Die Visions du Réel in Nyon, von ihrer Geschichte her ein Dokumentarfilmfestival, tragen dem schon seit 1995 verstärkt Rechnung; aktuell ist dort etwa der Film «1970» zu sehen, der Archivmaterial mit Puppentrickszenen kombiniert, um den polnischen Streik in jenem Jahr zu vergegenwärtigen. Inzwischen ist dieses hybride Kino sogar im Herzen von Hollywood angekommen: «Nomadland» von Chloé Zhao, einer der Favoriten der diesjährigen Oscars, bewegt sich genau im Grenzbereich zwischen Fiktion und dokumentarischer Wirklichkeit.

Frances McDormand in «Nomadland». Still: Walt Disney Company

Ein Dokumentarfilm muss sich auch nicht unbedingt nach den Ansprüchen richten, die man an eine journalistische Reportage stellt. Im Fall von «Lovemobil» war es der Filmemacherin zufolge nun so, dass eine Prostituierte als Protagonistin ausfiel, weil sie schwanger wurde. Eine andere, mit der Lehrenkrauss viel gedreht hatte, soll dem zuständigen Redaktor nicht interessant genug gewesen sein. Im Zuge solcher Widrigkeiten hat die Regisseurin dann nach anderen Wegen gesucht, ihr Vorhaben zu realisieren. Sie hat also vor Ort einen dokumentarischen Spielfilm gedreht – ohne Drehbuch und mit minimalem Budget, aber auf der Basis ihrer mehrjährigen Recherchen und besetzt mit Leuten, die mehrheitlich aus der Gegend stammen und fast alle Erfahrungen im Milieu haben. So weit alles völlig legitim.

Im Beitrag von «STRG_F» zeigt sich die Journalistin überrascht davon, wie die Regisseurin auf ihre Vorwürfe reagiert: «Denn sie findet das Nachstellen und Inszenieren völlig okay. Es sei künstlerisch. Und dabei oft wahrhaftiger als die Realität.» Womit Lehrenkrauss ja nicht prinzipiell falsch liegt. Aber eben: Sie hätte das im Film in irgendeiner Weise transparent machen müssen – und sei es nur, dass sie im Abspann die Namen der auftretenden Personen und ihre jeweiligen Rollen ausgewiesen hätte.

Tyrannei des Intimen

Was also darf ein Dokumentarfilm? Wo sind ihm Grenzen gesetzt? Das sind hier die falschen Fragen zum falschen Film, weil die Regisseurin schlicht der Lüge überführt wurde. Die entscheidende Frage ist eher: Wieso glaubte Lehrenkrauss, ihren Film weiterhin als Dokumentarfilm ausgeben zu müssen? Wieso glaubte sie, ihre Methode verschleiern zu müssen?

Es gibt dazu die lapidare produktionswirtschaftliche Erklärung: Weil das Projekt nun mal als Dokumentarfilm gefördert worden war, unter anderem ausgerechnet vom NDR, der «Lovemobil» redaktionell betreut hat. (Betreuung mangelhaft, so darf man bilanzieren.)

Es gibt aber auch eine kulturelle Erklärung: die Tyrannei des Intimen, die Fetischisierung der Authentizität. Der intime Report verkauft sich einfach besser als der distanzierte Blick – erst recht bei quotenträchtigen Themen wie Sexarbeit, wo man immer darauf spekulieren kann, dass ein gewisser Voyeurismus befriedigt wird. Und dem «Authentischen» wird gewöhnlich eine höhere Wahrhaftigkeit zugeschrieben als jeder inszenierten Verdichtung – als ob ein Film wie «Lovemobil» samt seinen langwierigen Recherchen irgendwie einen geringeren Realitätswert besässe, wenn das, was er zeigt, als «gespielt» wahrgenommen wird. Wieso sollte das den dokumentarischen Gehalt des Films schmälern? Zumal ja auch jeder Spielfilm gründlich recherchiert sein muss, wenn er glaubwürdig sein will.

Die knapp 200 deutschen Filmschaffenden, die jetzt in einer Erklärung auf die «Glaubwürdigkeit des dokumentarischen Genres» pochen, weil sie darin ein «zentrales Qualitäts- und Unterscheidungsmerkmal» sehen, scheinen da etwas Entscheidendes nicht begriffen zu haben. Denn wenn «Lovemobil» etwas gezeigt hat, dann dies: Gerade Glaubwürdigkeit kann auch spielend hergestellt werden.

Ein anderer Film mit Frauen im Wohnmobil hilft hier, den Blick zu schärfen. Denn auch «Nomadland» lebt von dieser Aura des Authentischen, wie übrigens bislang jeder Film von Chloé Zhao. In der Hauptrolle spielt Frances McDormand («Fargo») eine Frau, die nach dem Tod ihres Mannes ihr Haus verloren hat und sich in ihrem zum Wohnmobil umgebauten Kleintransporter von einem Gelegenheitsjob zum nächsten hangelt. Dabei bleibt die Geschichte dieser Figur praktisch durchwegs in reale soziale Milieus eingebettet, fast in jeder Szene interagiert die Schauspielerin mit Menschen, die als sie selbst auftreten. Darin besteht einerseits der «dokumentarische» Charakter dieses Spielfilms, der auf unprätentiöse Weise die Lebenswelt dieser Figuren bezeugt. Zugleich aber dient das reale Umfeld dazu, die Oscar-Preisträgerin in ihrer Rolle in einer konkreten Wirklichkeit zu verankern: Die Figur, die sie spielt, wird dadurch beglaubigt und authentifiziert.

«Nomadland» ist also darauf angelegt, dass das authentische, gelebte Leben auf die Erzählung abstrahlt. Auch hier gilt: alles eine Frage von Transparenz und Redlichkeit, zuerst den Mitwirkenden, dann auch dem Publikum gegenüber. Kein Grund, nun die schier grenzenlosen Möglichkeiten des Dokumentarischen künstlich einzuschränken. Oder wie ein Kritiker zur Debatte um «Lovemobil» sarkastisch twitterte: «Deutscher Dokumentarfilm, nur echt mit Authentizitätszertifikat».

«Nomadland» von Chloé Zhao könnte nach den Academy Awards am 25. April 2021 in die Kinos kommen. Das Festival Visions du Réel dauert vom 15. bis 25. April 2021, die Filme sind jeweils für 72 Stunden als Stream im Netz zu sehen: www.visionsdureel.ch.