Science-Fiction-Dokumentarfilm: Träumen Androiden von Lützerath?

Nr. 15 –

Mit Zelt und Kamera auf besetztem Gelände: In seinem neuen Film blickt Tobias Nölle aus der fernen Zukunft auf die Kämpfe unserer Gegenwart.

Filmstill aus «Preparations for a Miracle»: eine Hand greift nach einer verwelkten Sonnenblume
«Preparations for a Miracle»: Den Besucher aus der Zukunft interessieren Maschinen mehr als die Natur. Still: Hugofilm

Einmal klingt sie etwas traurig, die Maschine. Sie steht da, etwas abseits, als sie die Besetzer:innen von Lützerath nachts bei einem Rave filmt. Sie würde jetzt gerne mittanzen, sagt die Maschine aus dem Off, aber sie habe eben keine Tanzfunktion: Sie sei nur zum Aufzeichnen entwickelt worden.

«Preparations for a Miracle» heisst der neue Film des Schweizer Regisseurs Tobias Nölle, es ist sein erster seit dem surreal verspulten Spielfilm «Aloys» (2016) und sein erster Dokumentarfilm überhaupt. Wobei im Kino die Grenzen zwischen der Fiktion und dem Dokumentarischen ja fliessend geworden sind. An den Visions du Réel in Nyon, wo Nölles Film jetzt Premiere feiert, sind sie das schon lange.

Die Maschine aus einer fernen Zukunft, deren Blickwinkel wir im Film einnehmen: Sie ist zweifelsfrei erfunden; aber was sie vor Ort vorfindet, ist es nicht. Es sind die Kämpfe unserer Gegenwart, in Lützerath und im Dannenröder Forst, die wir durch diese Verschiebung der Perspektive nochmals mit anderen Augen sehen. Die Sympathie wird hier nicht auf die «gute Sache» hingelenkt, wie man das von einem Film über Lützerath erwarten würde. So ist man dazu angehalten, in anderen Zeiträumen zu denken – wie der Androide im Film.

Portraitfoto von Tobias Nölle
Tobias Nölle Foto: Birgit Kleber

Der Gast aus der Zukunft sorgt sich nämlich nicht so sehr um das bedrohte Land, das für den Abbau von Braunkohle oder für eine Autobahn kahl geschlagen wird. Die «Waldmenschen», die hoch in den Bäumen ihre Widerstandsnester bauen, kümmern ihn eher am Rand, ebenso die Polizeitrupps in ihren gepanzerten Uniformen. Diese Maschine – darin ist sie dann doch sehr menschlich – interessiert sich erst mal vor allem für ihresgleichen. Gespräche sucht sie nur mit den Baggern und all den anderen «urzeitlichen» Maschinen, die unterm Diktat der Menschen ihre Sklavenarbeit verrichten. Der gigantische Schaufelradbagger etwa, dieser Inbegriff des menschlichen Raubbaus: Für den Androiden ist er die geschundene Ikone einer versunkenen Epoche.

Zurück zu den Basics

«Je mehr ich sie filmte, umso mehr nahm ich diese Maschinen als Wesen wahr», sagt Nölle im Videocall aus Berlin, wo er seit fünf Jahren lebt. Gedreht hat er den Film weitgehend allein, ohne Crew: «Ich bin einfach losgelaufen, mehr oder weniger.» Aber so lässig, wie das jetzt klingt, war gar nichts: «Preparations for a Miracle» ist aus einer schweren Krise entstanden. In der Vorbereitung für seinen zweiten Spielfilm musste Nölle diesen damals auf Eis legen, weil gerade ein Film aus den USA mit einer identischen Grundidee die Runde machte. Als auch noch die Pandemie kam, sah er sich auf die Basics zurückgeworfen: einfach raus, allein mit der Kamera, und «filmen, damit ich nicht depressiv werde», wie er sehr offenherzig erzählt. Wenn er danach mit ein paar schönen Bildern nach Hause gekommen sei, sei es ihm besser gegangen.

Dabei hat er von Anfang an versucht, mit einem fremden Blick auf die Welt der Menschen zu schauen. Das hat sich auch aus der ersten Phase der Pandemie ergeben, als die Welt stillstand, «wie eine grosse Theaterkulisse». Eine Kulisse, eigens hergerichtet für – ja, für was eigentlich? Für das unbestimmte Wunder, das der englische Titel des Films ankündigt? Auf Deutsch heisst er, etwas rätselhafter, «Das letzte Königreich». Denn das ist die Mission des Besuchers aus der Zukunft: die Stimme des Königs aufzuzeichnen. Wenn er denn nur wüsste, wer das ist, dieser König.

Visions du Réel

«Knit’s Island» hiess der Siegerfilm, der letztes Jahr in Nyon einen neuen Trend begründete: ein Dokumentarfilm, der komplett innerhalb eines Computergames spielt. Jetzt kommt «Grand Theft Hamlet», in dem versucht wird, in der Welt von «Grand Theft Auto» ein Shakespeare-Stück zu inszenieren.

Der Schweizer Film zeigt sich in Nyon wieder sehr europäisch, gerade auch im Hauptwettbewerb: Vadim Jendreyko vermisst in «The Song of Others» den Kontinent, Nicole Vögele spürt in «The Landscape and the Fury» an der bosnisch-kroatischen Grenze den Schatten der Vergangenheit nach. Die drei Spezialgäste wiederum könnten diverser kaum sein: Alice Diop («Saint Omer»), Ehrengast Jia Zhangke («A Touch of Sin») und John Wilson aus der Comedy-Dokuserie «How to with John Wilson» werden je mit einer Werkschau geehrt.

Visions du Réel in: Nyon, 12.–21. April 2024. www.visionsdureel.ch

 

Die Streifzüge mit der Kamera waren also anfangs wie eine Therapie für Nölle. Das Thema seines Films fand er erst mit der Zeit, als er zuerst auf Demos bei verschiedenen Gruppen mitging und später bei der Besetzung im Dannenröder Forst landete. In Lützerath war er dann mit Zelt und Kamera vor Ort, als das Camp erst ein paar wenige Besetzer:innen zählte. Und als es ihm dort zu gross wurde, kam er zeitweise auf dem Hof von Eckardt Heukamp unter, der in den Medien als «letzter Bauer von Lützerath» zu einer Galionsfigur des Widerstands wurde. Den Aktivist:innen gegenüber habe er jeweils transparent gemacht, was er vorhatte mit seinem Androidenblick, sagt Nölle. «Die fanden das alle super.» Aber als er dann bei Heukamp filmte, hatte er bis zuletzt Hemmungen, diesem seine Idee zu beichten. Und als er sich endlich traute und dem Bauern die Sache mit dem Androiden erklärte, habe Heukamp nur gesagt: «Ja, ist besser.»

Bei den Baumhütten im Dannenröder Forst ist Nölle einmal mehr dort gelandet, wo es ihn immer wieder hinzog, in seinem Kurzfilm «René» und zuletzt auch in «Aloys»: im Wald. Der Film wartet dort sogar mit einem schönen kleinen Selbstzitat auf, als der Androide an einem aufgeschnappten Halbsatz so sehr Gefallen findet, dass er ihn im Film dann immer wieder nachspricht: «um den Baum geschlungen». Hat der Androide etwa «Aloys» gesehen? Dort steht Schauspieler Georg Friedrich einmal verloren im Wald, einen Telefonhörer in der Hand, das endlos lange Kabel um einen Baum geschlungen.

Ab auf die Insel

Zuletzt hat Nölle allerdings sehr lange gar keine Bäume mehr gesehen – und auch fast keine Menschen. Drei Monate verbrachte er auf der Vulkaninsel Tristan da Cunha, um dort seinen nächsten Film zu drehen (Arbeitstitel: «Tristan Forever») – auf der abgeschiedensten bewohnten Insel der Welt, mitten im Atlantik, auf halber Strecke zwischen Afrika und Südamerika. Achtmal pro Jahr fährt ein Schiff mit einem Dutzend Plätzen, die Reise ab Kapstadt dauerte elf Tage. Neben Nölle mit an Bord: ein Assistent für Kamera und Ton, dazu der Protagonist des Films, ein Arzt aus Paris, der auf dem 250-Seelen-Eiland sesshaft werden möchte, wofür er aber die Zustimmung des Inselrats braucht. Es solle ein «tragikomischer Reisefilm» werden, sagt Nölle, «zu 93 Prozent dokumentarisch».

Noch weniger Menschen als auf Tristan da Cunha gibt es nur dort, wo der Androide in «Preparations for a Miracle» herkommt. Die seien alle irgendwann verschwunden, sagt er einmal im Film. «Seitdem funktionieren wir Maschinen vor uns hin. Aber wir wissen nicht, warum.» Die Offstimme im Film klingt nicht ganz menschlich, aber auch nicht wie eine Maschine. Es ist die Schauspielerin Birte Schnöink, die den Androiden knapp an der synthetischen Stimme vorbei spricht.

Letztlich ist das ein Film über eine künstliche Intelligenz, die dem Menschen dabei zuschaut, wie er sich sein eigenes Grab schaufelt. Er stellt uns damit auch vor die Frage, wie eine Ethik der Maschinen aussehen könnte. «Wir müssen den Maschinen ja ein Gewissen geben», sagt Nölle. «Sonst haben wir sowieso verloren.»

«Preparations for a Miracle» («Das letzte Königreich») in: Nyon, Visions du Réel, So, 14. April, 20.30 Uhr; Mo, 15. April, 16 Uhr. Kinostart noch offen.