Katharina Pistor: «Im Grunde verpachten wir unsere Staatsgewalt»

Nr. 19 –

Es gibt keinen globalen Staat und kein globales Recht, aber einen globalen Kapitalismus. Wie ist das möglich? Die Juristin und Buchautorin Katharina Pistor über die Macht von Besitzansprüchen, Rechtssysteme als Menükarte, digitale Utopien – und die Idiotie des Impfpatentschutzes.

WOZ: Frau Pistor, kürzlich hat in Deutschland das Bundesverfassungsgericht den Berliner Mietendeckel gekippt. Sind Verfassungen eher Förderer oder Eindämmer von Kapitalinteressen?
Katharina Pistor: Sie können beides sein – und das sind sie auch oft. Das deutsche Grundgesetz etwa wurde vor dem Hintergrund der Wirtschaftskatastrophe der zwanziger Jahre und des Faschismus geschrieben. So steht dort auch, dass Eigentum verpflichtet. Die Deutschen haben damals klar gesagt, sie wollten eine soziale Marktwirtschaft; schaut man sich aber die Gerichtsentscheide der letzten Jahrzehnte zum Eigentumsrecht an, waren sie viel neoliberaler als in den siebziger Jahren. Auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention wurde das Eigentum erst im Nachhinein als Grundrecht hinzugefügt. Die meisten Verfassungen schützen das Eigentum – aber sie bestimmen nicht, was Eigentum ist. Die Entwicklung der Eigentumsrechte zeigt, es wird in der Regel das verrechtlicht, was vorher schon bestand. Jene, die bereits Güter besitzen, bekommen also meist auch den Titel zugesprochen. In der Geschichte hat es viele objektbezogene Kontrollrechte gegeben: Lange war Land das wichtigste Eigentumsobjekt, heute sind es Finanz- und andere immaterielle Güter, etwa Patente. Die meisten Verfassungen sagen dazu wenig.

Womit wir bei der Grundthese Ihres Buchs «Der Code des Kapitals» wären: Der Zauber des Kapitalismus besteht demnach darin, Besitzansprüche privatrechtlich so zu formulieren, dass das staatliche Recht sie anerkennt.
Dem Prozess zugrunde liegt eine privatrechtliche Kalkulation: Man kann analog zu bestehenden Rechtsgütern auch andere Objekte als Eigentumsrechte codieren und geniesst dann so den Schutz der Rechtsordnung. Dadurch ermöglicht eine liberale Verfassung, Wirtschafts- und Rechtspositionen weiter auszubauen.

Was ist in dieser Logik eigentlich Kapital?
Es gibt viele Definitionen. Ich sage, dass es – insbesondere, wenn man in Bezug auf Karl Marx über das Eigentum an Produktionsmitteln nachdenkt – nicht um die Produktionsmittel an sich, sondern um den Titel an diesen Produktionsmitteln geht. Nur wenn ich meinen Verfügungsanspruch geltend machen kann, kann ich sie in den Produktionsprozess einbringen – und habe dann wiederum einen Anspruch auf das Endprodukt. Ich benutze den Begriff der Codierung als Metapher, in Anlehnung etwa an den genetischen Code: Er ist unsichtbar, bestimmt aber, wie unser Körper funktioniert. Beim Kapital geht es darum, Rechte zu generieren, die besser sind als jene der anderen.

Ist Recht an sich denn neutral, oder hat es eine Ideologie?
Der Soziologe Max Weber hat gesagt, die Rechtsordnung sei die Institutionalisierung der zentralisierten Zwangsgewalt. Die Frage ist, auf welchem Weg dies geschieht – und das ist natürlich nie neutral. Es werden Argumentationsketten und Interpretationsmuster gebaut, die der Rechtsordnung Autorität verleihen. Die Anwältinnen sagen immer: Es ist ja alles legal, was wir machen. Genau das ist der Punkt! Anwälte – ich nenne sie die «Herren des Codes» – schaffen etwas, das formal legal ist, selbst wenn es im Prinzip der Idee einer bestimmten Regulierung widerspricht. So lässt sich ein relativer Vorteil aushandeln. Dank einer flexiblen privaten Ordnung können Private Güter privatrechtlich codieren und sich damit auf die Gerichte berufen. Das verschafft ihnen Zugriff auf das staatliche Gewaltmonopol, weil sie ihre Ansprüche notfalls per Zwangsvollstreckung durchsetzen können. Letztendlich wäre das Ausmass an Reichtum, das Private durch rechtlichen Schutz festzurren können, ohne Staat gar nicht möglich.

Wie lässt sich das ändern?
Rechtsordnungen liessen sich natürlich auch anders gestalten, sie könnten andere Interessen schützen. Das ist eine politische Entscheidung. Die Frage ist, wie eine Gesellschaft ihre Rechtsordnung sich entwickeln lässt, wie aktiv der Gesetzgeber sie gestaltet und wie offen das Recht für künftige Entwicklung ist. Das Schweizerische Zivilgesetzbuch ist ja über hundert Jahre alt, funktioniert aber immer noch. Das ist nur möglich, weil es relativ offen ist und praktisch fortlaufend dem Zeitgeschehen angepasst werden kann. Im angelsächsischen Common-Law-System hat das Fallrecht über die Jahrhunderte die grundlegenden Rechtsprinzipien entwickelt. In beiden Fällen erfolgt die Anpassung des Rechts mithilfe Rechtskundiger, was relativ kostspielig ist. Die Frage ist, ob der Gesetzgeber irgendwann einschreitet oder ob er alles einem dezentralisierten Prozess überlässt, in dem jene, die sich eine Rechtsvertretung leisten können, neues Recht schaffen.

Katharina Pistor

Sie schreiben, Eigentumsansprüche liessen sich heute global durchsetzen. War das ein evolutionärer Prozess oder mit Gewalt verbunden?
Beides. Zum einen sind sowohl das angelsächsische Common Law als auch das kontinentaleuropäische Zivilrecht durch Kolonialisierung verbreitet worden. Jede Kolonialmacht brachte ihr Recht mit – und zwar nicht nur staatliches Recht für die Okkupation, sondern auch das Privatrecht für die Wirtschaft. Das war natürlich ein Gewaltakt, aber dennoch haben die meisten Länder nach ihrer Unabhängigkeit das Recht der Kolonialisten beibehalten. Später, im Zuge der Globalisierung, hatte es dann mehr mit Verhandlungsmacht zu tun, welches Recht zur Anwendung kam. Hier stellt sich eine interessante Frage: Wenn Kapital rechtlich codiert ist, Privatrecht aber nationales Recht ist – wie kann es dann einen globalen Kapitalismus geben? Das funktioniert, weil die meisten Länder das Recht anderer Länder anerkennen und durch ihre Gerichte durchsetzen lassen. Dabei haben sich zwei Hegemonien etabliert: das englische Recht und jenes des Bundesstaats New York.

Warum gerade diese beiden?
London und New York sind historisch gewachsene Finanz- und Handelszentren, die ihr Recht sich so entwickeln liessen, dass sie das auch blieben. Um den internationalen Handel anzukurbeln, wurden die Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg für den Güterfluss geöffnet – und in den späten Siebzigern auch für den Kapitalfluss. Nationale Rechtsordnungen auf der ganzen Welt boten sich den Kapitaleignern dann als eine Art Dienstleister an.

Um grenzüberschreitende Rechtsansprüche durchzusetzen, hat jedes Land ein spezifisches Rechtsgebiet: das internationale Privatrecht. Das sind Regeln, die die Gerichte zum Entscheid anleiten, welche Rechtsordnung angewendet werden soll, wenn mehrere infrage kommen. In den letzten Jahrzehnten wurde privaten Akteuren immer mehr Autonomie eingeräumt. Man sagte: Lasst sie doch wählen, sie wissen am besten, was für sie gut ist. Nun hat das Common Law die Wirtschaftseliten schon immer besser geschützt – und ihnen ermöglicht, immer neues Kapital zu schaffen. Und vor dem Hintergrund, dass mit London und New York schon zwei wichtige Finanzzentren existierten und ein Grossteil der globalen Anwaltschaft dort tätig ist, ist es nicht verwunderlich, dass die Wahl immer wieder auf diese Systeme fällt.

Heute suchen sich global vernetzte Konzerne für ihre Firmenbestandteile unterschiedliche rechtliche Zuständigkeiten aus; Sie nennen das «Gesellschaftsrechtsshopping». In der Schweiz scheiterte die Konzernverantwortungsinitiative nur knapp, in Deutschland und der EU wird an sogenannten Lieferkettengesetzen geschmiedet. Sind das wirksame Instrumente, um Kapital mit einer grösseren Rechenschaftspflicht zu belegen?
Den einen Königsweg gibt es nicht. Aus der Geschichte der Codierung von Kapital sieht man, an wie vielen Andockstellen geschraubt wird, um zum Ziel zu kommen. Wenn ich dem Kapitaleigner oder der -eignerin die Möglichkeit gebe, sich Rechtssysteme auszusuchen, als wären sie ein Menü im Restaurant, dann unterstehen sie keiner normativen Ordnung mehr – und dann gibt es auch keine Grundlage für die Demokratie. Lassen wir das zu, verpachten wir im Grunde unsere Staatsgewalt: Wir stellen Vollstreckungsorgane zur Verfügung für etwas, das wir nicht kontrollieren. Bei der freien Rechtswahl kann aber durchaus eine Gegenbewegung stattfinden; ihre Einschränkung ist ein wichtiger Ansatz, um ein Stück Kontrolle zu erlangen.

Will man ihren Spielraum begrenzen, stützen sich international tätige Firmen heute aber oft auf Investitionsschutzabkommen.
Bei Investitionsschutzabkommen zwischen zwei Staaten kommt internationales Recht zur Anwendung – dank entsprechender Klauseln werden Schiedsgerichte beigezogen. Der Trick ist, dass die beiden Staaten Privaten das Klagerecht geben: Ein Investor, eine Investorin aus Rechtssystem A können Land B, in dem sie investiert haben, vor ein Schiedsgericht ausserhalb des Staates zerren, wenn sie ihre Profite beeinträchtigt sehen. Es ist eine Rechtsfigur, die aktiv von staatlicher Seite geschaffen wurde. Dann kommt der nächste Trick: Sie sagen, es sei ein internationales Abkommen – und nach der Wiener Konvention von 1967 kann man nationale rechtliche Argumente nicht dazu benutzen, einen Bruch internationalen Rechts zu rechtfertigen. Ein Staat kann also zum Beispiel nicht sein neues Klimagesetz heranziehen, um die Förderung fossiler Rohstoffe durch einen ausländischen Investor zu bremsen, weil dies den Bruch der internationalen Ordnung nicht rechtfertigt.

Die Staaten haben sich also selbst entmachtet?
Die Konstellation war so nicht geplant. Niemand hat 1967 darüber nachgedacht, dass Private auf Basis solcher Abkommen Ansprüche gegenüber dem Staat geltend machen würden. Inzwischen mussten viele Länder im Globalen Norden realisieren, dass auch sie selbst verklagt werden können – obwohl die Abkommen geschaffen wurden, um Entwicklungsländer an die Kandare zu nehmen, damit diese keine Enteignungen vornehmen. Als Deutschland etwa entschied, aus der Kernenergie auszusteigen, musste es nach millionenschweren Klagen zahlen.

Wie unabhängig können Schiedsgerichte überhaupt sein?
Will man sich nicht der jeweils anderen Rechtsordnung unterstellen, wählt man oft eine dritte – und weil ein Drittstaat ebenfalls parteiisch sein kann, nimmt man ein privates Gericht. Dabei ist es ja nicht so, als hätten die Privaten keine Interessen. Bei den Investitionsschutzabkommen werden oft Schiedsrichter von einer Liste des International Centre for Settlement of Investment Disputes genommen, das der Weltbank untersteht. Auf diese Liste zu kommen, ist nicht einfach, aber lukrativ. Es ist ein Riesenklüngel. Eine Kollegin aus Australien hat gezeigt, dass die meisten Richter dort Anwälte grosser Kanzleien sind, die privatrechtlich denken – also wie die Codiererinnen des Kapitals. Es geht ihnen nicht um den Respekt gegenüber demokratischen Staaten. Was ich für sinnvoller halte, ist das Modell des europäisch-kanadischen Abkommens Ceta, bei dem ein neues Gericht geschaffen wird, für das beide Parteien Richterinnen nominieren können.

Coronabedingt stecken wir erneut in einer Wirtschaftskrise, deren Ausmass gewaltig werden dürfte. Welche Vorgänge interessieren Sie dabei am meisten?
Eigentum und Schulden: Darum geht es im Kapitalismus eigentlich immer. Gerade die Verschuldung kleiner Haushalte und Betriebe ist ein Problem, da braucht es eine gesamtgesellschaftliche Lösung. In den USA wurden alle grossen sozialen Probleme der letzten fünfzig Jahre dadurch gelöst, dass man den Zugang zu Krediten erleichterte. Dann braucht man sich auch nicht um die Einkommen zu kümmern, keinen Mindestlohn festzusetzen oder Ähnliches. Das Grundproblem aber bleibt.

Und welche Eigentumsfrage ist gerade am wichtigsten?
Die Patentrechte an den Covid-Impfstoffen. Wenn wir zwar alle geimpft, aber nicht gegen die neuen Virusvarianten geschützt sind, beginnt die ganze Misere wieder von vorne. Das ist ein klassisches Beispiel dafür, wie man durch die enge Sichtweise, man müsse die Eigentumsrechte der Pharmakonzerne schützen, mehr sozialen Schaden anrichtet, als man an Vorteilen bekommt. Zudem hat die Pharmaindustrie riesige öffentliche Subventionen erhalten, um die nötige Technologie zu entwickeln. Schliesslich unterbinden ökonomische Interessen eine gerechte Verteilung. Das ist nicht nur moralisch problematisch, sondern auch einfach idiotisch. Die Andeutung der USA, sie seien bereit, für Covid-Impfstoffe einer Ausnahme von internationalen Abkommen zuzustimmen, ist ein erster wichtiger Schritt, um eine globale Pandemie auch global zu bekämpfen.

Das Zugeständnis der USA kommt erst, nachdem sie ausreichend Impfstoffe für die eigene Bevölkerung gesichert haben. Ist der Glaube an eine gerechte Verteilung nicht naiv?
Wahrscheinlich, aber zum Beispiel bei HIV/Aids wurde das nach langem Kampf durchgesetzt. Ich hätte gedacht, dass die Länder, in denen die Pharmakonzerne ihren Sitz haben – Deutschland, die Schweiz, USA, England – die Grösse hätten, Geld zu investieren, aber festzulegen, dass die Technologie global geteilt wird. Dass das nicht passiert, zeigt, wie problematisch das System ist.

Wie liesse sich der Impfstoff möglichst gerecht verteilen?
Die Aufhebung der Patente reicht wohl nicht; wir brauchen einen Technologie- und Know-how-Transfer. Die Privaten kommen immer dann ins Spiel, wenn sich eine Innovation monetarisieren lässt. Ich sehe aber nicht, weshalb nicht auch dieser letzte Teil staatlich finanziert werden könnte. Dann könnte ein Staat die Innovation lizenzieren und der Pharmaindustrie die Produktion überlassen. Die US-amerikanischen National Institutes of Health haben einen grossen Teil der Grundlagenforschung für die Gentechnologie, die dem Moderna-Impfstoff zugrunde liegt, gemacht und diese offenbar auch patentiert. Ganz prinzipiell kann man auch sagen, dass Wissen als öffentliches Gut geteilt werden sollte, weil wir dann alle etwas davon haben. Dafür ist aber die Grundidee des Eigentums als privates Recht wohl noch immer zu stark, und auch das Lobbying der Firmen, die geistiges Eigentum vermarkten, zeigt seine Wirkung.

Sie schreiben auch über neue «digitale Codes» wie die Kryptotechnologie, die sich der gängigen Eigentumslogik ein Stück weit entziehen. Es wirkt so, als hätte bei Ihnen während des Schreibens Ernüchterung über deren revolutionäres Potenzial eingesetzt.
Auf der einen Seite sympathisiere ich mit den digitalen Sozialutopistinnen; es wäre natürlich zu schön gewesen, wäre ihre Vision wahr geworden. Auf der anderen Seite denke ich, dass die rechtlichen Codierer wohl eher den digitalen Code für sich nutzbar machen werden als anders herum. Gleichzeitig habe ich das Potenzial des digitalen Codes vielleicht sogar unterschätzt: Als Facebook vor zwei Jahren seine Währung Libra ankündigte, fragte ich mich, ob da nicht eine neue souveräne Machtform entsteht. Könnte sich Facebook mit seinen 2,5 Milliarden Nutzerinnen und Nutzern von staatlichen Währungen unabhängig machen? Wenn man überlegt, dass der Konzern letztlich uns alle besteuert, indem er unsere Daten monetarisiert, ohne dafür zu zahlen, könnte Facebook den Schritt machen. Das ist dann aber eine Dystopie.

Ganz aufgegeben habe ich aber noch nicht. Vielleicht lässt sich die Technologie ja nutzbar machen – wie man es auch beim Recht immer wieder versucht hat. Die Versammlungsfreiheit oder die freie Meinungsäusserung werden ja genutzt, um bestimmten Gruppen Rechte zu verschaffen – sie sind Teil politischer Kämpfe.

Wie lässt sich das Recht am besten progressiv nutzen?
Es ist sehr schwierig, aus einem System herauszukommen, in dem man die Individualrechte so massiv geschützt hat. Aus der Geschichte wissen wir zwar, dass man durch Krisen schrittweise weiterkommt, aber solche riesigen Krisen will ja keiner. Sie brechen vielen das Rückgrat – und meistens tragen die Schwächsten auch die grössten Kosten. Vor diesem Dilemma stehen wir. Dass die aktuelle Krise bisher nicht so massiv ist, verdanken wir auch einer riesigen gesellschaftlichen Mobilisierung, was ich sehr positiv finde. Die Frage ist, ob man daraus langfristig Konsequenzen zieht, etwa ein Recht auf Arbeit oder ein universelles Grundeinkommen schafft. Ich glaube, es ist zumindest salonfähig geworden, über solche Dinge zu diskutieren. Viel wird aber davon abhängen, wie die nächsten Wahlen ausgehen – vor allem in jenen Ländern, die global eine symbolische Vorreiterrolle spielen.

Die Finanzmarktexpertin

Die Juraprofessorin Katharina Pistor (57) stammt aus Freiburg (D) und lehrt an der New Yorker Columbia Law School. Sie gilt als eine der international führenden ExpertInnen auf dem Gebiet des Gesellschafts- und Finanzmarktrechts. Für ihre Arbeit erhielt sie 2012 den Max-Planck-Forschungspreis; weitere Auszeichnungen folgten. 2019 erschien ihr Buch «Der Code des Kapitals. Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft». Letztes Jahr publizierte der Suhrkamp-Verlag die deutsche Übersetzung.

«Der Code des Kapitals» : Die Mär von der freien Marktwirtschaft

Was ist Kapital? Und wie entsteht es? In ihrem Buch beleuchtet Katharina Pistor einen blinden Fleck, den sie sowohl der marxistischen Theorie als auch der klassischen Ökonomie attestiert: Beide würden die zentrale Rolle ignorieren, die das Recht bei der Herstellung von Kapital und bei dessen Schutz als privates Vermögen einnimmt. Um nämlich von öffentlichem Recht anerkannt und von der Staatsgewalt notfalls durchgesetzt werden zu können, müssten private Besitzansprüche zunächst «codiert» werden, so die Juristin. Wie diese Codierung des Kapitals funktioniert und warum verschiedene Rechtsordnungen letztlich zur Schaffung und Reproduktion von Ungleichheit beitragen, leitet Pistor in ihrem Buch mit diversen Fallbeispielen aus mehreren Jahrhunderten her.

Vielleicht am verblüffendsten sind dabei die institutionellen Kontinuitäten, die sich vom Feudalismus in England bis in die globalisierte Gegenwart erkennen lassen. Im Wechselspiel zwischen Privatinteressen und Rechtsordnungen entstanden immer elaboriertere Kapitalcodes, die für ständig neue Güter angewandt wurden: Was einst für Ländereien funktionierte, findet sich heute auch in Finanzprodukten oder geistigem Eigentum wieder. Wie Pistor veranschaulicht, geht es beim Codierungsprozess vor allem darum, Kapital vor äusseren Ansprüchen und Einflüssen zu schützen – sei es vor staatlichem Zugriff, vor GläubigerInnen oder auch vor schlechter Wirtschaftskonjunktur. Und stets halfen einige wiederkehrende Kniffe, Kapital möglichst unangetastet durch politische Wendungen und ökonomische Zyklen zu navigieren.

Letztlich zwingt «Der Code des Kapitals» vor allem zur Einsicht, dass das gängige Paradigma «Staat versus Privatwirtschaft» ein grosser Trugschluss ist. Es kann keine «freie Marktwirtschaft» geben, die dann am effizientesten funktioniert, wenn der Staat sich daraus zurückhält: Ganz im Gegenteil garantiert erst der Staat jene Besitzansprüche, die darin wirken.

Raphael Albisser

Katharina Pistor: «Der Code des Kapitals». Suhrkamp Verlag. Berlin 2020. 440 Seiten. 36 Franken.