Internationaler Vergleich: «Kein Mitleid mit den Konzernen!»
Warum die Konzernverantwortungsinitiative nicht so weit geht, wie ihre GegnerInnen gerne behaupten: Ein Gespräch mit der deutschen Juristin Miriam Saage-Maass über die Verrechtlichung der Globalisierung.
WOZ: Frau Saage-Maass, Sie unterstützen Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Wenn Sie sich für eine Klage gegen einen Konzern ein Land aussuchen könnten: Welches würden Sie wählen?
Miriam Saage-Maass: Zunächst würde es sich anbieten, nach Frankreich zu gehen. Dort gibt es seit Anfang Jahr ein Gesetz, das «loi sur le devoir de vigilance». Damit kann man gegen in Frankreich ansässige Konzerne klagen, wenn sie ihren menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten nicht gerecht werden. Das Gesetz gilt für die gesamte Lieferkette eines Unternehmens. Der französischen Rechtstradition entsprechend ist es knapp formuliert, die konkrete Bedeutung wird die Auslegung durch die Gerichte zeigen. Ansonsten würde ich es in Grossbritannien versuchen, weil dort die am besten etablierte Rechtsprechung besteht: Konzerne haften auch für Menschenrechtsverletzungen durch Tochterfirmen im Ausland.
Und wenn in der Schweiz die Konzernverantwortungsinitiative (Kovi) angenommen wird: Würden Sie dann künftig hier klagen?
Die Menschenrechtsorganisation ECCHR, für die ich arbeite, hat sich schon mehrfach getraut, in der Schweiz zu klagen: erst kürzlich gegen Syngenta wegen Pestizidvergiftung. Die Konzernverantwortungsinitiative brächte aber natürlich neue Möglichkeiten. Die Schweiz geht damit im internationalen Vergleich aber nicht am weitesten. Die Initiative beschränkt sich auf die Haftung für Tochterfirmen und vom Mutterhaus kontrollierte Unternehmen. Das ist zwar ein Schritt in die Lieferkette hinein, Frankreich geht aber deutlich weiter. Auch ein Gesetz, das in Deutschland diskutiert wird, betrifft die gesamte Lieferkette.
Wie sieht es auf der EU-Ebene aus?
Dort beginnt gerade die Vernehmlassung zu einem entsprechenden Gesetzesvorschlag der EU-Kommission. NGOs und Gewerkschaften haben ziemlich weitreichende Forderungen: dass die Haftung verschuldensunabhängig gelten muss. Damit würde der Konzern selbst dann für Schäden von Tochterfirmen oder Zulieferern haften, wenn nur diese die Sorgfaltspflichten verletzt haben. Eine Firma wie Nestlé würde also immer die Verantwortung tragen, auch wenn sie selbst nichts falsch gemacht hat. Es würde genügen, dass die Tochterfirma einen Schaden verursacht hat.
Hiesige Wirtschaftsverbände warnen bei einer Annahme der Kovi vor einer Klagewelle: Was sind die bisherigen Erfahrungen in Frankreich?
Diese Argumentation ist eine absolute Nebelpetarde. In Frankreich gibt es bisher vier Verfahren, die sieben Unternehmen betreffen. Man muss hier doch auch die Machtverhältnisse sehen: Es wird ja auch nach einer Annahme der Initiative nicht so sein, dass eine kongolesische Bäuerin, deren Ernte wegen einer Umweltverschmutzung verloren gegangen ist, das Branchenbuch von Zürich öffnen und sich einen Anwalt suchen kann. Die Betroffenen werden nach wie vor in einer unglaublich schwachen Position sein, logistisch wie finanziell. Bis sie in der Schweiz mit all den hohen Beweisstandards klagen können, braucht es sehr viel. Auch die Kosten sprechen übrigens nicht unbedingt dafür, in der Schweiz eine Klage einzureichen.
Am Schluss schützt also der Wechselkurs die Schweizer Konzerne?
Das Gesetz soll ja vor allem präventiv wirken und dazu führen, dass Konzerne ihre Geschäftsstandards verbessern – damit es gar nicht erst zu Klagen kommt. Ich halte es für ein Armutszeugnis, wenn die Wirtschaft behauptet, ihr Geschäftsmodell würde mit der Initiative infrage gestellt und es drohten gigantische Einbussen. Das würde ja bedeuten, dass sie ihr Geschäft nur machen können, wenn sie Menschenrechte verletzen.
Sie prägen mit dem ECCHR die Diskussion über die Verantwortung von Unternehmen mit. Für viel Aufsehen sorgte Ihre Klage gegen den deutschen Textildiscounter Kik wegen eines Brandes mit über 250 Toten in Pakistan. Wie sind Sie vorgegangen?
Der Brand ereignete sich im Jahr 2012 in einer Produktionsfirma von Kik in Karachi. Die Ursache des Brandes ist nicht geklärt, verschiedene Gutachten haben aber belegt, dass es nicht genug Notausgänge und andere Brandschutzmassnahmen gab, weshalb sich die Menschen nicht aus dem Gebäude retten konnten. Mit Gewerkschaften und der Betroffenenorganisation haben wir dann vier Kläger benannt, die vor das zuständige Landgericht in Dortmund zogen, wo Kik seinen Hauptsitz hat, und Schadensersatz nach pakistanischem Recht forderten. Der Fall ist wegen der pakistanischen Verjährungsfrist nie entschieden worden. Nach geltendem Recht hätten wir die Klage wohl nicht gewonnen. Aber viele Beteiligte haben genau das als ungerecht empfunden: dass in so einem Fall keine Haftung übernommen werden muss.
Warum haben Sie nicht in Pakistan geklagt?
Die Produktionsfirma produzierte zwar fast ausschliesslich für Kik, wurde also von ihr wirtschaftlich kontrolliert. Weil Kik selbst aber keine offizielle Präsenz in Pakistan hat, haben die dortigen Gerichte auch keine Jurisdiktion über die Firma. Selbstverständlich haben wir auch Verfahren in Pakistan unterstützt: gegen die für den Brandschutz verantwortlichen Regierungsbehörden oder den Fabrikbesitzer.
Ein Landgericht in Dortmund musste also mit pakistanischem Recht urteilen. Genau diese komplizierte Konstellation wird von der Gegnerschaft der Kovi im Abstimmungskampf gerne kritisiert. Klingt wie ein einleuchtendes Argument.
Nein, denn es gehört heute schon zum täglichen Brot von Zivilgerichten, mit ausländischem Recht zu argumentieren. Wenn ich in Marokko einen Autounfall habe, bei dem eine Französin zu Schaden kommt, verklagt sie mich an meinem Wohnort in Berlin auf Schadensersatz – und das Gericht in Berlin muss marokkanisches Verkehrsrecht anwenden. Wichtig zu verstehen ist der Unterschied, dass nur die Frage des Anspruchs auf Schadensersatz nach dem ausländischen Recht geklärt wird. Die Haftung wird dann nach dem Recht des Landes beurteilt, in dem die Klage eingereicht wurde. Im Fall der Konzernverantwortungsinitiative würde die Haftung also nach Schweizer Recht geprüft.
Ein weiteres Argument gegen die Initiative lautet, dass ein Unternehmen unmöglich die gesamte Lieferkette überwachen kann.
Die Unternehmen haben sich im Gegenteil die letzten Jahrzehnte darin geübt, ihre Produktion weltweit auszulagern. Globale Lieferketten sind menschen- und konzerngemacht und nicht natürlich gewachsen. Sie wurden von jenen Konzernen geschaffen, die jetzt behaupten, sie nicht kontrollieren zu können. Bei technischen Details kann ein Automobilkonzern jede Schraube überprüfen, damit sie den technischen Standards entspricht. Jede Schraube wird also besser kontrolliert als die Menschenrechte. Wenn Glencore den Abbau von Koltan im Kongo problemlos organisieren kann – warum soll der Konzern dann nicht auch die Einhaltung der Menschenrechte garantieren können? Vermutlich fehlt einigen Firmen im Moment das entsprechende Know-how, aber das können sie sich ja aneignen. Wir sollten bloss kein Mitleid mit den Konzernen haben, wenn sie damit überfordert sind. Sie haben in den letzten Jahrzehnten massiv von der Globalisierung profitiert – jetzt ist es an der Zeit, etwas zurückzugeben.
Sie haben ausgeführt, dass die Frage nach der Haftung von Konzernen international diskutiert wird. Wo liegt eigentlich der Anfang dieser Entwicklung?
Die Bestrebungen, transnationale Konzerne in ihren globalen Tätigkeiten zu regulieren, sind seit den siebziger Jahren auf der politischen Agenda der Uno, scheiterten aber in verschiedenen Anläufen immer wieder. 2011 wurden dann vor dem Menschenrechtsrat die sogenannten Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte verabschiedet. Sie geben den internationalen Konsens wieder, wonach primär Staaten zur Wahrung der Menschenrechte verpflichtet sind. Demnach haben aber auch Unternehmen selbst menschenrechtliche Sorgfaltspflichten. Ein weiteres Uno-Prinzip lautet, dass Betroffene von Menschenrechtsverletzungen, an denen Konzerne beteiligt sind, Zugang zu Recht brauchen und allenfalls Entschädigungen erhalten. Die Prinzipien sind kein völkerrechtlicher Vertrag, aber verbindliches Soft Law. Sie müssen jetzt auf nationaler oder EU-Ebene umgesetzt werden. Deshalb gibt es im Moment die zahlreichen Gesetzesdiskussionen in den verschiedenen Ländern.
Kann man sagen, dass es bei diesem Prozess um eine Verrechtlichung der Globalisierung für die Rechte der Beschäftigten geht?
Genau. Die Globalisierung von Wirtschaftsinteressen ist bereits umfassend verrechtlicht und wunderbar juristisch abgesichert. Entgegen der neoliberalen Dogmatik, wonach es möglichst wenig Regulierung braucht, wurde das transnationale Wirtschaften in den letzten Jahrzehnten durch Recht und Regularien erst strukturiert, organisiert und damit ermöglicht: durch Freihandelsabkommen und bilaterale Investitionsschutzabkommen auf internationaler Ebene und über das Gesellschafts- und Vertragsrecht auf nationaler. Was aber noch nicht abgesichert ist, sind die Interessen von Betroffenen, also soziale und ökonomische Rechte und Rechte der Natur oder Umweltstandards.
Genügt es, diese grundsätzlichen Standards durchzusetzen? Die Rohstoffkonzerne nehmen beispielsweise im Kongo vor allem über die Steuerpolitik und über Korruption Einfluss.
Bei der Korruption gibt es schon ein recht ausgefeiltes Recht, gegen Glencore laufen entsprechende Verfahren. Im Bereich von – häufig auch legaler – Steuervermeidung müsste man sich hingegen Gedanken machen. Schliesslich profitieren Unternehmen enorm von der Verrechtlichung. Professorin Katharina Pistor von der Columbia Law School hat in ihrem Buch «The Code of Capital» wunderbar aufgezeigt, wie gerade die Anwälte in diesen ganzen Grosskanzleien Steuervermeidungsstrategien organisieren. Dazu braucht es ein Gegengewicht.
Genügt das Recht als Waffe – oder bräuchte es nicht vielmehr eine politische Veränderung? Nur weil der Kapitalismus etwas gerechter wird, ändert sich ja wenig an seiner Profitlogik.
Ich denke, wir kommen nicht darum herum, uns des Rechts zu bedienen. Schliesslich wird die Ungerechtigkeit des Kapitalismus auch über das Recht organisiert und abgesichert. Für ein neues Recht braucht es aber immer den politischen Willen – Recht und Politik sind keine getrennten Bereiche.
In die Zukunft gefragt: Was wäre Ihre utopische Vorstellung, wohin sich das Recht entwickeln müsste, über die Kovi hinaus?
Man kann sich auf die Katastrophen konzentrieren – die Fabrikbrände oder krassen Minenunfälle –, aber eigentlich geht es um die Frage, was Verantwortung in globalen Zusammenhängen bedeutet. Die Klimakrise verdeutlicht, dass wir an die planetarischen Grenzen stossen; die stetig zunehmende soziale Ungleichheit stellt uns vor die dringende Frage, wie das Recht auf soziale Sicherung weltweit gewährleistet werden kann. Das aktuelle Recht ist nicht auf eine globale Verantwortung angelegt – wir müssen es deshalb anders und neu denken.
Die Juristin Miriam Saage-Maass (42) ist stellvertretende Legal Director beim European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin, wo sie den Bereich Wirtschaft und Menschenrechte leitet. Sie war an diversen Klagen gegen multinationale Konzerne beteiligt und ist Koautorin des Buchs «Unternehmen vor Gericht. Globale Kämpfe für Menschenrechte» (2016).