US-Imperialismus: «Die USA haben Afghanistan nicht aus Gier angegriffen»

Nr. 35 –

Welche Rolle spielt die zwanzigjährige Besetzung Afghanistans in der imperialen Geschichte der USA? Warum ist Washington gescheitert? Und welchen Nutzen hat China davon? Ein Gespräch mit dem Imperialismusforscher Atul Kohli, Professor an der Princeton University.

«Die USA haben versucht, mit enormen Ressourcen einen Klientelstaat zu errichten – und sind dabei gescheitert»: Ein junger Afghane transportiert im Juni 2008 von den USA gestiftetes Mehl. Foto: Musadeq Sadeq, Keystone

WOZ: Atul Kohli, imperiale Kriege werden von wirtschaftlichen Interessen angetrieben, schreiben Sie in Ihrem jüngsten Wälzer. Gilt das auch für die US-Invasion in Afghanistan?
Atul Kohli: Nein, sie bildet eine der grossen Ausnahmen. Die US-Invasion war nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York und auf das Pentagon viel mehr ein Rachekrieg als ein Krieg der Gier. Es wäre dumm zu behaupten, dass der damalige Präsident George Bush das Land aus wirtschaftlichen Interessen angegriffen habe. Es gab auch ein Sicherheitsinteresse dahinter. Allerdings haben sich im Lauf der Besatzung wirtschaftliche Interessen entwickelt.

Welche Sicherheits- und welche wirtschaftlichen Interessen meinen Sie?
Usama Bin Laden und seine Leute, die die Anschläge geplant hatten, versteckten sich unter den Taliban in Afghanistan – auch wenn man lange debattieren kann, wie eng ihre Beziehung zu den Taliban wirklich war. Abgesehen vom Racheakt zielte der Krieg darauf ab, künftige Terroranschläge zu verhindern. Mit den Milliarden, die die USA für Afghanistan ausgaben, sind über die Zeit auch Profitinteressen entstanden. Das Geld floss in zahlreiche mit dem Krieg verbundene Industrien: in die Verteidigungsindustrie oder an private Sicherheitsfirmen, deren Mitarbeiter nun zu Tausenden aus Afghanistan abgezogen sind.

Bezahlt hat diese Milliarden die US-amerikanische Bevölkerung. Sind die USA nun vor allem wegen der Kosten abgezogen?
Das ist sicher ein wichtiger Grund. Es gab zudem längst keine Erfolgsaussichten mehr, dass ein stabiler, proamerikanischer Staat geschaffen werden kann. Donald Trump folgte mit dem Abzug, den er 2020 eingeleitet hat, auch seiner nationalistischen Agenda. Das Versprechen, US-Soldaten nach Hause zu holen, kam bei der Basis gut an. Dass Trump mit den Taliban über den Abzug verhandelte, ohne die afghanische Regierung einzubeziehen, war ein klares Signal, dass die USA diese Regierung aufgegeben hatten. Das erinnert an Vietnam, wo Anfang der siebziger Jahre der damalige Sicherheitsberater Henry Kissinger mit dem nordvietnamesischen Führer Le Duc Tho ohne grossen Einbezug der Führung in Südvietnam Abmachungen traf.

Warum hat Trumps Nachfolger Joe Biden an diesem Plan festgehalten?
Es ist rätselhaft, wieso Biden den Abzug sogar beschleunigt hat. Möglich, dass er dies aus wahltaktischen Gründen tat: Erfolgt der Abzug jetzt, wird Afghanistan bis zu den Kongresswahlen im nächsten Jahr als Thema in Vergessenheit geraten sein. Möglich, dass Biden mit den Einsparungen, die sich aus dem Abzug ergeben, auch seine ehrgeizige innenpolitische Wirtschaftsagenda verfolgen will.

Sie sagen, Wirtschaftsinteressen hätten keine Rolle gespielt. Doch als die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einfiel, warnte der damalige US-Präsident Jimmy Carter, dass sich die Sowjets das Öl in der Region sichern wollten – worauf er die Mudschaheddin gegen die Sowjetunion aufzurüsten begann. Spielte das Öl bei der späteren US-Invasion 2001 denn gar keine Rolle?
Carter betrachtete den Sowjeteinmarsch in Afghanistan als Bedrohung der US-Interessen in der Region, die hohe Ölvorkommen aufweist, als Ganzes. Afghanistan liegt am östlichen Rand dieser Region. Daraus zu schliessen, der US-Entscheid, Afghanistan zu besetzen, sei wegen des Öls erfolgt, wäre aber falsch. Auch unter Carter ging es den USA damals kurz nach ihrer Niederlage in Vietnam gegen den Kommunismus vor allem darum, mit der Aufrüstung der Mudschaheddin die Sowjetunion zurückzudrängen.

Zwei Jahre nach Afghanistan, 2003, griff Bushs Regierung auch den Irak an. Welche Rolle spielte dort das Öl?
Die Irakinvasion war ein Wirtschaftskrieg. Nach dem Krieg in Afghanistan entschieden Neokonservative wie Bushs Vizepräsident Dick Cheney, die Pax Americana im Nahen Osten zu etablieren. Zwar war der damalige irakische Machthaber Saddam Hussein durchaus bereit, Ölfelder auch US-Konzernen zu öffnen; und das irakische Öl war auch auf dem internationalen Markt zugänglich. Die USA wollten jedoch den Ölpreis, der für die eigene Wirtschaft so wichtig ist, selbst kontrollieren. Angesichts der grossen Ölreserven im Irak hätte Saddam Hussein zudem für die USA zur Gefahr für die eigenen Wirtschaftsinteressen werden können. Das wollten Leute wie Cheney verhindern.

Trotz schwacher wirtschaftlicher Motive: Ist die Besatzung von Afghanistan, die nun zwanzig Jahre gedauert hat, vergleichbar mit älteren US-Kriegsinterventionen wie in Vietnam?
Ja. Wie in Vietnam haben die USA als grösste Weltmacht versucht, mit enormen Geldmengen und anderen Ressourcen in einem anderen Land einen Klientelstaat zu errichten – und sind dabei gescheitert. Es ist interessant, dass vor einigen Tagen selbst das liberale Mainstreamblatt «New York Times» den Afghanistanfeldzug als «neokolonialen Krieg» bezeichnet hat. Wie erwähnt, begann der Krieg zwar nicht als neokolonialer Krieg, er wurde jedoch zu einem, als die USA begannen, den afghanischen Staat nach ihrer Vorstellung einzurichten. Es gibt aber auch Unterschiede zu Vietnam.

Worin liegen die?
Die USA kämpften in Vietnam gegen eine reguläre Staatsarmee, gegen die kommunistische nordvietnamesische Armee. Die Taliban sind eine Guerilla, die die afghanische Armee in die Flucht getrieben hat. Hinzu kommt: Die nordvietnamesischen Kommunisten waren zwar unbarmherzig, aber sie waren auch Modernisierer. Sie hatten eine Vision einer in ihren Augen modernen kommunistischen Gesellschaft. Die Taliban sind Neotraditionalisten.

Sind auch die Gründe für die Niederlage in Vietnam und Afghanistan die gleichen?
Natürlich haben die beiden Fälle ihre ganz spezifischen Eigenheiten. Doch der Kern für die Niederlage war in beiden Fällen der US-Klientelstaat, der in den Augen eines grossen Teils der lokalen Bevölkerung keine Legitimität besass. Die südvietnamesischen Regierungsleute wie auch Präsident Hamid Karsai und später Aschraf Ghani, der nun aus Afghanistan geflüchtet ist, wurden von vielen als US-amerikanische Marionetten betrachtet. Ihnen fehlte die Verankerung in der Bevölkerung, sie waren keine legitimierten Regierungsleute.

Auch weil sie sich – ganz in kolonialer Tradition – bereicherten, während die Landbevölkerung in Armut lebt?
Ja, allerdings bauten die USA in Afghanistan keine klassische, auf Rohstoffexporten beruhende koloniale Wirtschaft auf. Die Ungleichheit ist eher eine Folge davon, dass die Milliarden an Hilfsgeldern von einer neuen klientelistischen Klasse abgezweigt wurden. Der Staat reichte zudem nicht bis aufs Land hinaus, wo die Taliban Fuss fassen konnten. Deren ökonomische Basis ist nebst ausländischen Geldgebern der Schlafmohn, der in grossen Mengen auf dem Land angebaut wird und aus dem Opium gewonnen wird: Die Taliban erheben auf diesen Mohnanbau rund zehn Prozent Steuern. Damit können sie sich Unterstützung erkaufen. Ohne Schlafmohn wäre der jüngste Sieg der Taliban unmöglich gewesen. Die ökonomische Grundlage der Taliban ist das Drogengeschäft.

Welchen Platz nimmt die zwanzigjährige US-Besatzung in Afghanistan in der Geschichte des US-Imperialismus ein?
Der US-Imperialismus reicht bis zum spanisch-amerikanischen Krieg 1898 zurück, in dem die USA unter anderem die Philippinen und Kuba von Spanien eroberten und sie zu Kolonien machten. Damit beginnt die erste imperiale Phase der USA. Sie hatten dafür wirtschaftliche Motive: Damals herrschte die Idee vor, dass die Konjunkturtiefs des aufstrebenden US-Kapitalismus durch die Eroberung ausländischer Märkte abgefedert werden könnten. Da bereits ein Grossteil der Welt vor allem von Grossbritannien kolonisiert war, blickten die USA nach China und vor ihre Haustür nach Zentral- und Südamerika. Die Philippinen wurden für die USA zu dem, was Hongkong für die Briten war: Das Archipel diente den USA als Sprungbrett, um in den chinesischen Markt einzudringen, was ihnen allerdings nie richtig gelang. Von Kuba aus weiteten die USA ihren Einfluss auf Lateinamerika aus. Nach dem Ersten Weltkrieg folgte die zweite Phase: Sie war viel mehr von der Weltwirtschaftskrise und dem Kampf gegen Faschismus dominiert als von weiteren imperialen Überseeabenteuern.

Und die dritte Phase?
In ihrem Bestreben, nach dem Zweiten Weltkrieg eine stabile Ordnung zu schaffen, halfen die USA ihren Alliierten Grossbritannien und Frankreich, ihre Kolonien zu sichern. Dabei unterstützten sie etwa in Vietnam Frankreichs Krieg gegen die Kommunisten. Die USA begannen, ein informelles Imperium aufzubauen, indem sie in verschiedenen Weltregionen proamerikanische Regimes sicherstellten. 1953 halfen sie, den iranischen Premierminister Mohammed Mossadegh zu stürzen, später marschierten sie in Vietnam ein, forcierten 1973 den Putsch gegen Salvador Allende in Chile und intervenierten auch in anderen lateinamerikanischen Ländern wie in Guatemala. Die USA wollten damit vor allem verhindern, dass in Entwicklungsländern linke nationalistische Kräfte an die Macht kommen, die ihre Wirtschaftsinteressen gefährden. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs versuchten die USA weiter zu expandieren. Hatten sie bis anhin Zugriff auf die halbe Welt, stand ihnen nun die ganze Welt offen. In dieser Logik versuchten die USA nach dem Afghanistankrieg, im Nahen Osten ihre Pax Americana zu errichten.

Sie schreiben in Ihrem Buch auch, dass die USA nicht nur gegen die Sowjets, sondern ebenso gegen linke Befreiungsbewegungen vorgingen, die ihre Interessen bedrohten. Da die USA mit ihrer eigenen Unabhängigkeitsgeschichte jedoch nicht offen gegen Befreiungsbewegungen sein konnten, habe der Kommunismus als Vorwand gedient, um sie dennoch zu bekämpfen.
Ja, dass es den USA mit ihren Interventionen grundsätzlich um ihre Wirtschaftsinteressen ging und nicht nur um den Kampf gegen den Kommunismus, zeigt sich auch darin, dass der US-Imperialismus mit dem spanisch-amerikanischen Krieg 1898 lange vor dem Kalten Krieg begann und nach dessen Ende weiterging. Die Interventionen waren in erster Linie ökonomisch motiviert. Der Putsch in Chile wurde oft als Teil des Kampfs gegen den Kommunismus interpretiert. Dabei gibt es bis heute keine Hinweise darauf, dass sich Allende der Sowjetunion anschliessen wollte.

Insbesondere die von Banken angetriebene Expansion der USA nach Lateinamerika in den achtziger Jahren wird üblicherweise unter dem Begriff der Globalisierung subsumiert. Wo beginnt Globalisierung imperialistisch zu werden?
Die Globalisierung ist das Resultat von staatlichen Handlungen, aber auch von technologischen Entwicklungen wie etwa der Telekommunikation. Vieles an der Globalisierung ist nicht imperialistisch. Wenn sich allerdings wie etwa in den achtziger Jahren lateinamerikanische Länder gegenüber US-Banken verschulden und die USA daraufhin mithilfe der Weltbank und des Währungsfonds die Länder zwingen, ihre Schulden zurückzuzahlen und ihre Märkte zu öffnen, ist das imperialistisch. Grossbritannien zwang bereits im 19. Jahrhundert etwa das überschuldete Argentinien, seine Schulden zurückzuzahlen. Die moderne Globalisierung beinhaltet imperiale Elemente.

Mit Ausnahmen wie Afghanistan werde der Imperialismus von Wirtschaftsinteressen vorangetrieben, sagen Sie. Betrachten Sie Ideologien wie rassistisches Überlegenheitsdenken oder auch den Glauben, die Demokratie verbreiten zu müssen, lediglich als Vorwände für den Imperialismus?
Ich sehe die Ideologien, die mit dem Imperialismus einhergehen, nicht nur als eine Art ideellen Überbau – ich bin kein Marxist. Viele Leute, die Teil solcher Abenteuer sind, glauben daran: Es gab im 19. Jahrhundert durchaus Briten, die glaubten, dass der Grund für das britische Empire in Indien darin bestand, die Sati-Rituale abzuschaffen, bei der Witwen verbrannt wurden; genauso ging es einigen Befürwortern der Afghanistaninvasion aufrichtig darum, die afghanischen Frauen von den Taliban zu befreien. Solche Überzeugungen bewegen jedoch selten eine Regierung dazu, enorme Geldsummen und andere Ressourcen zu mobilisieren, um ein anderes Land zu erobern. Dafür sind wirtschaftliche Interessen entscheidend.

Sie kommen in Ihrem Buch zum Schluss, dass der Imperialismus bis heute den bezwungenen Ländern trotz einiger Vorteile insgesamt geschadet habe. Wie erklären Sie sich dann, dass in etlichen Entwicklungsländern die Armut in den letzten Jahrzehnten abgenommen hat?
Der grosse Teil dieser Fortschritte geschah in Asien, wo die Dekolonisierung sich am weitesten durchgesetzt hat; vor allem in China, Indien oder Vietnam, die politische Autonomie erlangt und ihre eigene Wirtschaftspolitik durchgesetzt haben. Dagegen haben die meisten lateinamerikanischen und afrikanischen Länder, die ab den achtziger Jahren dem sogenannten Washington Consensus gefolgt sind, viel schlechter abgeschnitten. Die Industrialisierung blieb aus, die Ungleichheit ist gross.

Seit dem US-Abzug aus Afghanistan werden im linken Flügel der Demokraten rund um Leute wie Alexandria Octavio-Cortez oder Bernie Sanders die Stimmen gegen die imperiale US-Politik lauter. Findet hier gerade ein Umdenken statt?
Ich zähle mich selber zu diesem Flügel, ich habe in den demokratischen Vorwahlen Elizabeth Warren unterstützt. Auch wenn ich ein solches Umdenken begrüssen würde, habe ich meine Zweifel. Das Gravitationszentrum der Demokratischen Partei hat immer noch enge Verbindungen zur Wall Street. Biden ist etwas linker, aber das Zentrum, das Hillary Clinton verkörpert, ist nicht antiimperialistisch.

Glauben Sie trotzdem, dass die USA nicht so schnell wieder ein anderes Land überfallen werden?
Ja, eine ähnliche Reaktion gab es auch 1975, die man als Vietnamsyndrom bezeichnete. Die USA werden ihren Einfluss stärker auf politischem Weg auszubauen versuchen. Der Fokus der US-Regierung ist heute China, das seinen Einfluss in Lateinamerika, Afrika und in Asien ausbaut. Hier liegt die grösste Sorge der USA. Eben ist US-Vizepräsidentin Kamala Harris nach Singapur und Vietnam gereist, um auszuloten, wie China in der Region die Stirn geboten werden kann.

Ist der US-Abzug aus Afghanistan nicht ein riesiger Sieg für China, das bereits mit den Taliban im Gespräch ist? In Afghanistan lagern grosse Bodenschätze wie Kupfer, Gold oder Lithium.
Ich bin mir nicht sicher, wie sehr China auf diese Rohstoffe abzielt. Es ist jedoch gut möglich, dass diese in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Aber natürlich sieht China den Abzug als weiteren Erfolg in der Region, in der es ihr Belt-and-Road-Projekt, ihre neue Seidenstrasse, vorantreiben will. Andererseits fürchtet sich China vor den Konsequenzen, die ein Sieg der Islamisten an seiner Grenze haben könnte. China weiss nicht, wie es die eigene islamische Minderheit in China einbinden will.

Atul Kohli

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es bis jetzt wenig Anhaltspunkte gebe, dass China ein informelles Imperium aufbaue. Sie widersprechen einem weitverbreiteten Eindruck.
China ist wirtschaftlich am Expandieren und hat dafür in Afrika und Lateinamerika viele willige Regierungen, die kooperieren. Bisher hat die chinesische Regierung jedoch kaum Gewalt angewendet. Nicht aus einer Tugend heraus, China ist verglichen mit den USA schlicht eine militärisch viel schwächere Macht. Aber natürlich schafft China mit seiner Politik immer mehr ökonomische Abhängigkeiten, über die es auch Zwang ausüben kann. Als Sri Lanka 2017 seine Schulden gegenüber China nicht mehr begleichen konnte, zwang Chinas Regierung den Inselstaat, ihr einen Schiffshafen zu überlassen. Die Gefahr besteht, dass auch China allmählich ein informelles Imperium errichten wird.

Der Imperialismusforscher

Atul Kohli (72) ist Professor für internationale Politik an der Princeton University in den USA. Letztes Jahr erschien von ihm das umfangreiche Werk «Imperialism and the Developing World». Darin zeichnet er die wirtschaftlichen Interessen hinter dem Imperialismus der letzten zwei Jahrhunderte und seine Folgen nach. Nebst dem Imperialismus hat sich der US-Forscher vor allem mit der wirtschaftlichen Entwicklung der Länder des Südens beschäftigt, mit einem besonderen Fokus auf Indien.

Was treibt den Imperialismus an? : Lenin und der Wettlauf um Afrika

Es waren Wirtschaftsinteressen, die Grossbritannien, Frankreich oder später die USA dazu bewogen, formelle Kolonien und auch informelle Imperien zu errichten, urteilt Atul Kohli in seinem jüngsten Buch «Imperialism and the Developing World». Kohli versteht darunter nationale Wirtschaftsinteressen – so wie sie von den Regierungen der jeweiligen Länder definiert werden –, aber auch die Interessen der Konzerne und der Finanzindustrie, denen die Regierungen nicht selten folgen.

Eines dieser Interessen ist die Eroberung von neuen Investitionsmärkten. Der Brite John Hobson hatte bereits 1902 in seinem Klassiker «Imperialism: A Study» auf diese Weise das britische Empire erklärt: Durch die zunehmende Ungleichheit hätten einige Reiche riesige Finanzvermögen angehäuft, die – wegen der lahmen Wirtschaftsnachfrage der verarmten Bevölkerung – nicht mehr in Grossbritannien angelegt werden könnten und entsprechend anderswo investiert werden müssten. Diese These wurde kurz darauf nicht nur vom russischen Revolutionsführer Wladimir Lenin in seinem Buch über den «Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus» aufgegriffen. Sie wird in etwas abgewandelter Form bis heute von den beiden liberalen US-Ökonomen Matthew Klein und Michael Pettis in ihrem weitum gefeierten Buch vertreten, das letztes Jahr erschienen ist: Hinter den aktuellen Handelskriegen steckten «Klassenkriege».

Kohli schreibt in seinem Buch über zweihundert Jahre Imperialismus, dass etwa der europäische «Wettlauf um Afrika» ab 1880 nicht nur mit der Erschliessung von Investitionsmärkten erklärt werden könne. Den imperialen Mächten sei es schon immer ebenso um billige Rohstoffe oder Arbeitskräfte sowie um neue Absatzmärkte für ihre Waren gegangen.  

Yves Wegelin

Atul Kohli: «Imperialism and the Developing World. How Britain and the United States Shaped the Global Periphery». Oxford University Press Inc. Oxford 2021. 560 Seiten. 42 Franken.