Sozialhilfe: Der Umbau ist ein Abbau

Nr. 36 –

Die SVP will die Sozialhilfe radikal umbauen. Auch wenn die anderen Parteien bei extremen Kürzungen bislang nicht mitmachen, wirkt die jahrelange Kampagne. Wie, das lässt sich aktuell in Baselland beobachten.

«Armut lässt sich nicht wegsparen!» Demonstration im Juni 2017 gegen die Verschärfung des Sozialhilfegesetzes im Kanton Bern. Foto: Thomas Delley, Keystone

Drei Milliarden Franken – so viel richten Kantone und Gemeinden pro Jahr an 270 000 Sozialhilfebeziehende aus. Für sich betrachtet sehr viel Geld. Doch setzt man diese Zahl ins Verhältnis zu den Steuergeschenken an die Wirtschaft, die der Bundesrat und die bürgerlichen Parteien gerade vorantreiben, ist es ein bescheidener Betrag. Nach den Einnahmeausfällen der Unternehmenssteuerreform II in Milliardenhöhe sollen nun die Industriezölle fallen. Jährlicher Einnahmeverlust: rund eine halbe Milliarde Franken. Noch deftiger würde die Abschaffung der Stempelsteuer auf den Bundeshaushalt durchschlagen: Die Mindereinnahmen beliefen sich auf rund zwei Milliarden Franken. Ueli Maurer möchte die Verrechnungssteuer auf inländische Zinsen abschaffen – allerdings sind Ausnahmen vorgesehen.* Allein mit diesen Steuergeschenken liesse sich die Sozialhilfe finanzieren.

Zuständig sind dafür allerdings Kantone und Gemeinden. Und dort herrscht angesichts eines noch immer fehlenden nationalen Rahmengesetzes eine grosse Unübersichtlichkeit über die Lage in der Sozialhilfe. Auch die Zahl der Vorstösse und Beschlüsse zur Drangsalierung der Ärmsten ist mittlerweile unüberschaubar, die Beschäftigung von Kantons- und GemeindepolitikerInnen mit der Sozialhilfe derart obsessiv, als stünde die Existenz der Schweiz auf dem Spiel. In den Kantonsparlamenten lässt die SVP seit Jahren ein Trommelfeuer von Vorstössen los, im Visier stehen zuvorderst AusländerInnen und Asylsuchende. Das Vorgehen hat System. 2015 lancierte die Partei mit einem Positionspapier den Totalangriff auf die Sozialhilfe – gegen «Missbrauch und ausufernde Sozialindustrie» lancierte sie eine schweizweite Kampagne. Diese zielt nicht bloss auf Leistungskürzungen ab, sie will auch zurück ins frühe 20. Jahrhundert: Sie möchte die professionelle Betreuung von Sozialhilfebeziehenden abschaffen und propagiert die Rückkehr zum Milizsystem. Laien sollen die Betreuung übernehmen. Das Papier liefert Mustervorstösse für alle politischen Ebenen. Und die werden exzessiv genutzt.

Beispiel Baselland

Die Wirkung der Kampagne lässt sich aktuell im Kanton Basel-Landschaft besichtigen. Dort ist Peter Riebli so etwas wie ein heimlicher Star in der SVP. Der Fraktionspräsident der Baselbieter SVP erreichte mit zwei Vorstössen, dass die Regierung eine Teilrevision des Sozialhilfegesetzes ausarbeiten musste. Die Vorlage kommt Ende Oktober ins Parlament. Riebli hatte in einer knapp überwiesenen Motion die Senkung des Grundbedarfs um 30 Prozent auf rund 700 Franken verlangt. Er wolle nicht, dass «renitente, integrationsunwillige und unmotivierte Personen» gleich hohe Leistungen erhielten wie motivierte. Diese sollten stufenweise eine «Motivationsentschädigung» erhalten, die bis zum Grundbedarf hätte aufgestockt werden können. In einem zweiten Vorstoss forderte er die Senkung der Leistungen für AusländerInnen auf ein Minimum, abhängig von der Anzahl Steuerjahre und der bezahlten Steuerbeträge.

In der Vorlage der Regierung ist zwar nicht mehr viel übrig von Rieblis radikalem Ansatz. Aber der Druck wirkt dennoch: Die Regierung will den Grundbedarf um vier Prozent kürzen, wenn jemand über lange Zeit Sozialhilfe bezieht; wer sich besonders bemüht, Arbeit zu finden, kann zehn Prozent mehr erhalten. Die Vorlage wird in dieser Form aber im Parlament keine Chance haben. Das sagt SP-Fraktionspräsident Roman Brunner. «Die Teilrevision ist insgesamt positiv, aber die vorgesehenen Kürzungen des Grundbedarfs lehnen wir kategorisch ab. Korrigiert die Regierung das nicht, werden wir die Teilrevision zu Fall bringen.»

Das klingt nach einem Sieg. Tatsächlich ist es eine Abwehrschlacht. Verborgen bleibt, was sich seit den nuller Jahren im ganzen Land abspielt. Auch Baselland senkte den Grundbedarf 2016 bereits um 91 Franken. Der Kanton ist damit nicht allein. Lag der Grundbedarf im Jahr 2003 klar über 1000 Franken, beträgt er inzwischen in 22 Kantonen 986 Franken, in drei Kantonen 977 Franken (Genf, St. Gallen und Bern). Die positive Ausnahme ist der Kanton Waadt, er bezahlt 1110 Franken.

Vorgezeichnet hat die Strategie der SVP der frühere Nationalrat Ulrich Schlüer. Er arbeitet in einer Arbeitsgruppe zusammen mit dem Berner Regierungsrat Pierre Alain Schnegg und der Zürcher Nationalrätin Barbara Steinemann an einem Systemwechsel in der Sozialhilfe. Er behauptet: «Es geht doch um einen sorgsamen Umgang mit Steuergeldern und den Kampf gegen Missbräuche.» Und sagt: «Peter Rieblis Ansatz ist richtig. Wer motiviert ist, der soll den vollen Grundbedarf erhalten, wer nicht mitmacht, bekommt weniger.» Barbara Steinemanns Credo lautet: «Wer Sozialhilfe bezieht, soll nicht besser dastehen als Leute, die arbeiten. Das ist besonders bei Mehrpersonenhaushalten der Fall.» Steinemann forderte als Zürcher Kantonsrätin bereits 2015, dass der Grundbedarf um zehn Prozent gekürzt werden solle, BürgerInnen mit bescheidenem Einkommen stünden oft schlechter da. Das Parlament lehnte die Motion ab. 2019 tat es ihr Zürcher Parteikollege Stefan Schmid im Kantonsrat Peter Riebli gleich. Auch diese Motion lehnte das Parlament ab.

Auch in vielen anderen Kantonsparlamenten reichte die SVP gleichlautende Vorstösse ein. Selbst vor absurden Forderungen schreckt die SVP nicht zurück. In verschiedenen Kantonen, etwa in Solothurn, verlangte sie: «Keine Luxusgüter für Sozialhilfebezüger». Gemeint waren Tabakwaren und «auswärts» konsumierte Getränke. Allerdings geht es nicht allein ums Geld. Ins Visier nimmt die Kampagne zunächst die rechtlich am schwächsten Gestellten, AusländerInnen und Asylsuchende. Sie sind gewissermassen das Experimentierfeld, um letztlich alle unter Druck zu setzen, die Sozialhilfe oder andere Transferleistungen beziehen. So gibt es in fast allen Kantonen Vorstösse, die die Einbürgerung von Menschen verhindern wollen, die einmal Sozialhilfe bezogen und sie nicht vollständig zurückbezahlt haben – dies mit Erfolg.

Besorgniserregend sind die Verletzungen von Grundrechten auf allen Ebenen. Mehrheitsfähig ist inzwischen etwa der gläserne Sozialhilfebeziehende, der alles restlos offenlegen muss bis hin zu seiner Patientenakte. Bern hat diese Form der Grundrechtsverletzung bereits 2012 eingeführt.

Abschreckender Druck

Dokumentiert hat diese Entwicklung Véréna Keller in der Broschüre «Sozialhilfe Schweiz 2000–2020 – Chronologie eines Umbaus. Vorstösse und Entscheide auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene», letztmals aktualisiert in diesem Frühling. Die emeritierte Professorin für Soziale Arbeit sagt: «Die seit den nuller Jahren laufenden Kampagnen der SVP müssen wir sehr ernst nehmen, sie wirken bis hinein in die SP. Dem Druck nachzugeben, ist aber der falsche Weg.» Dieser Druck wirke zudem auf Menschen abschreckend, die auf Sozialhilfe angewiesen wären und einen Anspruch darauf hätten: «Etwa 30 bis 40 Prozent verzichten auf Sozialhilfe, weil sie sich diesem oft repressiven und erniedrigenden System nicht aussetzen wollen.» Véréna Keller kritisiert den neoliberalen Ansatz von «Fordern und Fördern». Das unterstelle, Sozialhilfebeziehende seien grundsätzlich passiv und nicht motiviert. «Wir wissen, das ist falsch. Die grosse Mehrheit will arbeiten. Bloss ist es oft sehr schwierig, wieder einen Job mit existenzsicherndem Lohn zu finden. Solche Angebote fehlen.» Véréna Keller sagt, der «Motivationsansatz» stigmatisiere diese Menschen und stehe im Widerspruch zum verfassungsmässig garantierten Rechtsanspruch auf Sozialhilfe.

Aber sie betont schliesslich, man dürfe positive Entwicklungen nicht vergessen: fortschrittliche Ansätze für Verbesserungen der sozialen Sicherheit – Mindestlöhne, Ergänzungsleistungen für Familien und ältere Arbeitslose oder Leistungen für Papierlose.

Korrigendum vom 10. September 2021: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion steht fälschlicherweise, «Bundesrat Ueli Maurer will zudem die Verrechnungssteuer ersatzlos abschaffen». Korrekt ist: Die Reform sieht vor, die Verrechnungssteuer auf inländischen Zinsen ersatzlos abzuschaffen. Hiervon ausgenommen sind die Zinsen auf Kundenguthaben an inländische natürliche Personen bei Banken und Sparkassen. Die Verrechnungssteuer bleibt zudem unter anderem erhalten bei den Dividenden, den Lotteriegewinnen und den der VST unterliegenden Versicherungsleistungen.