Steuergeschenke: Die Bürgerlichen im Fieberschub

Nr. 39 –

Steuersenkungen für Konzerne und Reiche haben in der Schweiz eine unrühmliche Tradition. Jetzt treibt es die bürgerliche Parlamentsmehrheit wieder auf die Spitze. Ist da ein Plan, oder ist es nur Verblendung?

35 Prozent stimmten der 99-Prozent-Initiative der Juso am Wochenende zu. War das eine Schlappe? Man kann es auch anders sehen: Eine Jungpartei ohne finanzielle Mittel schart mehr als ein Drittel der Stimmbürger:innen hinter sich – gegen eine geballte finanzstarke Kampagne der Wirtschaftsverbände und der bürgerlichen Parteien, die Grünliberalen inklusive. Offensichtlich treffen die Jungsozialist:innen einen Nerv. Sie setzen den Kampf gegen die enorme Ungleichheit bei der Vermögensverteilung denn auch nahtlos fort. Ihre nächste Initiative will die Vermögen bei hundert Millionen Franken deckeln und die so erwirtschafteten Steuermittel in die Begrenzung der Klimaerwärmung investieren. Die Linke wird in der Steuerpolitik also weiterhin offensive Forderungen stellen.

Doch auch in der Verteidigung wird sie gefordert sein. Die Wirtschaftsverbände und die Bürgerlichen planen im Parlament nämlich ein Steuergeschenk ums andere für die Konzerne und deren Aktionär:innen. Bezahlen werden die mittleren und tiefen Einkommen mit höheren Abgaben oder über Sparprogramme.

Eine Milliarde um die andere

Begonnen hat alles mit der Abschaffung der Stempelsteuern (siehe WOZ Nr. 25/2021 ). Die Bürgerlichen wollten sie ursprünglich in drei Schritten aufheben. Die prognostizierten Steuerausfälle: mehr als zwei Milliarden Franken. Beschlossen ist bisher die erste Etappe. Sie betrifft die Emissionsabgabe auf Eigenkapital und bringt einen Ausfall von moderat scheinenden 250 Millionen. Nachdem die SP das Referendum ergriffen hatte, sahen die Bürgerlichen von den zwei anderen Schritten ab. Vom Tisch sind sie deswegen noch lange nicht.

In der laufenden Session geht es mit den Geschenken munter weiter. Der Nationalrat stimmte – mit einem Stichentscheid von SVP-Ratspräsident Andreas Aebi – der Abschaffung der Industriezölle auf einen Schlag zu. Steuerausfall: mehr als eine halbe Milliarde. Der Ständerat wiederum hat – ebenfalls in einem knappen Entscheid mit 20 gegen 17 Stimmen – der Abschaffung des Eigenmietwerts zugestimmt. Kostenpunkt bei heutigen Zinsen: 1,7 Milliarden Franken. Dann war diese Woche wieder der Nationalrat am Werk: Er beschloss eine teilweise Abschaffung der Verrechnungssteuer. Macht weitere 200 Millionen. Hier fielen nicht nur Steuern weg, es würde gar eine «Rampe für die Steuerhinterziehung» gebaut, warnte SP-Nationalrätin Jacqueline Badran in der Ratsdebatte vergeblich.

Doch damit dürfte es mit den Steuergeschenken noch nicht vorbei sein. Die einseitig aus Wirtschaftsvertreter:innen zusammengesetzte Expert:innengruppe «Steuerstandort Schweiz» hat für das Finanzdepartement von SVP-Bundesrat Ueli Maurer weitere Wünsche und Forderungen formuliert. Die grüne Nationalrätin Regula Rytz bezeichnet sie als «dreisten Umbau des Steuersystems» und als «Luxusmenü für die Wirtschaft zulasten der breiten Bevölkerung». Was ist bloss los im Parlament, das nach der letzten Wahl doch grüner, jünger, weiblicher wurde? Endet der gesellschaftliche Aufbruch im finanzpolitischen Abbruch?

Bös, aber planlos

Für SP-Kopräsident Cédric Wermuth ist klar: SVP und FDP loten in der zweiten Legislaturhälfte ihre Macht massiv aus. «Sie sind unter Beschuss wegen ihrer mangelnden Leistung in der Coronazeit. In einem Fieberschub arbeiten sie die Wunschliste ihrer Auftraggeber aus den Konzernzentralen ab.» Die Hektik erklärt er sich damit, dass ihnen bei den Wahlen 2023 Verluste drohen.

Als Treiber für den Steuerabbau bezeichnet Wermuth das SVP-Führungstrio Magdalena Martullo-Blocher, Thomas Aeschi und Thomas Matter. «Dass die SVP derart offensichtlich einen harten Neoliberalismus gegen die eigene Basis verfolgt, ist ein neues Phänomen.» Die anderen bürgerlichen Parteien würden unter einem Stockholmsyndrom leiden. «Die FDP sieht ihre wirtschaftspolitische Führungsrolle gefährdet und reklamiert die Steuersenkungen deshalb umso verzweifelter für sich.» Die Angriffe von rechts, sagt Wermuth, würden im Übrigen nicht nur in der Steuerpolitik erfolgen, sondern auch beim Arbeitsrecht, etwa mit der Liberalisierung der Sonntagsarbeit.

Allerdings sei bei all den Abbauvorlagen kein konziser Plan erkennbar, meint SP-Ständerat Paul Rechsteiner. «Der Wille zur bösen Tat ist grösser als die Intelligenz hinter dem Plot.» Viele rechte Politiker:innen verhielten sich noch immer wie vor der Finanzkrise 2008 und würden weder die globale noch die nationale Entwicklung wahrnehmen. Der internationale Megatrend gehe in Richtung einer stärkeren Regulierung. Nicht mehr ein Steuerwettbewerb auf Teufel komm raus zeichne sich ab, sondern ein Mindeststeuersatz für die Unternehmen, wie ihn die OECD in der Höhe von fünfzehn Prozent fordert. «Dieser Entwicklung kann sich niemand entziehen. Auch für die Schweiz gibt es zu viele Nachteile, wenn sie nicht dabei ist», sagt Rechsteiner. Mit der Abschaffung des Bankgeheimnisses und mit dem Ende der Privilegien bei der Holdingbesteuerung habe man das letztlich auch anerkannt.

Der nationale Trend wiederum zeigt, dass in den letzten Jahren praktisch alle Steuergeschenke via Referendum erfolgreich bekämpft werden konnten: Insbesondere die Unternehmenssteuerreform III und zuletzt die Kinderabzüge, die nur wenigen Wohlhabenden zugutegekommen wären, scheiterten in der Volksabstimmung. Eine Mehrheit billigte die Steuergeschenke nicht. Die Linke müsse in dieser Situation wachsam sein und die Vorlagen schon im Parlament bekämpfen, sagt Rechsteiner. «Wenn es nicht klappt, bleibt das Referendum eine starke Waffe.»

Allein in der Mitte

Eine entscheidende Rolle im Parlament würde der Mitte-Partei zukommen. Doch die Fraktion ist in Steuerfragen gespalten. Das zeigte sich vor allem bei der Abschaffung der Industriezölle. Nationalrat und Bauernpräsident Markus Ritter versuchte mit anderen, die Abschaffung zu etappieren. Ritter formuliert seine Befürchtungen so: «Die Industriezölle hätten uns Spielraum beim Aushandeln von Freihandelsabkommen gegeben. Fehlt dieser Spielraum, bleiben noch die Agrarzölle. Fallen diese, ist die Schweizer Landwirtschaft wegen hoher Investitionskosten und der Löhne bei vielen Produkten nicht mehr konkurrenzfähig.» Auch Mitte-Präsident Gerhard Pfister sieht ein Problem in einem zu radikalen Steuerabbau zugunsten der Konzerne. «Wir haben tatsächlich ein Problem mit der Vermögensverteilung, da haben die Jusos einen Punkt, auch wenn ich ihren Lösungsansatz nicht teile.» Pfister befürchtet ausserdem, dass Steuerausfälle zu Lastenverschiebungen in die Kantone und Gemeinden oder zu Sparpaketen führen könnten. Er hat sich deshalb noch nicht entschieden, ob er sich in den Schlussabstimmungen über die Steuervorlagen der Stimme enthalten oder Nein stimmen wird.

Während sich die Mitte noch in Wankelmütigkeit übt, nimmt die Empörung in der Bevölkerung offensichtlich zu. Anfang dieser Woche konnte die SP vermelden, dass das Referendum gegen die erste Etappe der Stempelsteuer in Windeseile zustande gekommen ist. Mehr als 65 000 Personen haben trotz erschwerter Sammelbedingungen während der Pandemie unterschrieben. Die 99-Prozent-Abstimmung war also erst der Auftakt. Die Verteilungsfrage und die Steuerpolitik dürften die Schweizer Stimmberechtigten noch länger beschäftigen.

Die grosse Umkehrung

Die bürgerlichen Angriffe auf die Steuereinnahmen sind kein neues Phänomen. Nach dem Zweiten Weltkrieg stiegen die Löhne für alle, die neu geschaffenen Sozialversicherungen deckten die Risiken des Lebens ab, Kapital wurde deutlich höher besteuert. Es bildete sich eine starke Mittelschicht. Ende der neunziger Jahre begann sich dieses Verhältnis umzukehren. Arbeit wurde zunehmend belastet, Kapital entlastet.

Die Steuern auf Lohneinkommen sind gestiegen, ebenso die Lohnnebenkosten, die Mehrwertsteuer und verdeckte Steuern in Form von Gebühren. Eine der belastendsten «Steuern» für den durchschnittlichen Haushalt sind die Krankenkassenprämien und für junge Familien die externe Kinderbetreuung.

Die Unternehmenssteuersätze hingegen sinken bis heute kontinuierlich. Entsprechend steigen die Dividendenausschüttungen, selbst während der Coronapandemie. Gemäss einer Studie der Unia zahlten die 32 grössten Konzerne der Schweiz im letzten Jahr insgesamt sechzig Milliarden Franken an ihre Aktionär:innen aus.