pop: Ready für die Überwältigung

Nr. 41 –

Mit seinem Schutt-und-Asche-Dub berserkert Kevin Martin gegen das Unrecht der Welt an. Auf «Fire», seinem neuen Album als The Bug, ist er militant wie eh und je.

Klaustrophobische Klangboten: Die Bässe von Kevin Martin alias The Bug versetzen in ständige Alarmbereitschaft. FOTO: CAROLINE LESSIRE

«Mein grösster Einfluss war, regelmässig sehen zu müssen, wie mein Vater meine Mutter verprügelt hat.» Das hat Kevin Martin einmal auf die Frage nach seinen musikalischen Schlüsselerlebnissen geantwortet. So etwas prägt. Mit dieser Erfahrung «kann man nicht aufhören, die Ungerechtigkeiten in der Welt infrage zu stellen». Kevin Martin hört nicht auf, auch nicht auf «Fire», dem neuen Album unter dem Namen The Bug. Nach dreissig Jahren im Musikgeschäft brennt der weisse Brite noch immer und bleibt dem sprechenden Namen seines Projekts verpflichtet.

Im 19. Jahrhundert glaubten viele, das Knistern und Rauschen in der Telefonleitung komme von kleinen Tieren («bugs»), die an der Leitung knabbern. Am 9. September 1945 registrierte die Computerpionierin Grace Hopper eine Fehlfunktion des Computers Mark II Aiken Relay Calculator. Auf der Suche nach der Ursache entdeckte sie eine Motte. Seitdem nennt man die Störung im Rechner «bug», Wanze. «To bug» wird übersetzt mit: auf die Nerven gehen, stören, wurmen.

Unerhörte Tiefen

Also geht uns Kevin Martin weiter auf die Nerven mit seiner Störgeräuschmusik, denn die Ungerechtigkeiten in der Welt sind ja nicht weniger geworden, seit seine Mutter vom Vater verprügelt wurde. Seit bald einem Vierteljahrhundert lässt er als The Bug Stile und Klangästhetiken aufeinanderprallen, die gemeinhin als unvereinbar gelten. Er beruft sich auf den Befreiungsjazz von John Coltrane und Pharoah Sanders wie auf den Götterdämmerungsnoise der Swans, auch die Wall of Sound von My Bloody Valentine ist ihm nicht fremd.

Vor allem aber ist er ein Kind der britisch-karibischen Sound-System-Kultur. Martins durchlebtes Kontinuum der afro-britisch-karibischen Bassmusiken reicht von Jah Shaka – geboren auf Jamaika und seit den Siebzigern in London mit eigenem Sound System ein Übervater in Dub und Reggae – bis hin zu Equiknoxx, dem jamaikanischen Produktionskollektiv, das seit ein paar Jahren die Bassmusik in unfassbare und unerhörte Höhen zaubert. Und, ja, Tiefen. Zwischen Jah Shaka und Equiknoxx liegen alle möglichen Spielarten von Jungle und Drum ’n’ Bass, Ragga, Dubstep, Grime, Berliner Dub-Techno von Basic Channel. All das hat Kevin Martin inhaliert und inkorporiert zum Sound von The Bug, einer Klangsignatur, so unverwechselbar und radikal wie einst die Sirenen der Bomb Squad für Public Enemy.

Auf «Fire» greift The Bug wieder zurück auf seine – wäre das Wort in diesem Inferno nicht so abwegig, müsste man sagen: bewährte – Überwältigungsästhetik. Was mal wieder die Frage aufwirft: Willst du überwältigt werden, und wenn ja, wie oft und wie doll? Wie immer fungiert Martin gleichermassen als Produzent, DJ, Autor, Kurator. Als solcher rekrutiert er überwiegend Schwarze Gaststimmen. Mit gedämpfter Wut erinnert der Dub-Poet Roger Robinson (die samtige Hauptstimme von Martins Projekt King Midas Sound) an den staatlich geduldeten Massenmord im Londoner Grenfell Tower, wo 2017 bei einem Feuer 72 Menschen zu Tode kamen – für Kevin Martin «eine der grössten Tragödien der britischen Gesellschaft». Neben Robinson dominieren die Respekt gebietenden, wenn nicht Angst (vorm Schwarzen Mann) einflössenden Stimmen von Nazamba und Martins Langzeitpartner Flowdan, der mit der Grime-Crew Roll Deep seine fünfzehn Minuten Fame hatte. Mit einem Ganja-Loblied und der – schon wieder: bewährten – «Babylon muss fallen»-Rhetorik signalisieren die Toaster, Rapper und Dub-Poeten politische wie sonische Militanz.

Musikalische Pyromanie

Für diese Militanz steht auch die auffälligste Gaststimme: Moor Mother, die afroamerikanische Vielseitigkeitskünstlerin, die gerade für ihr Album «Black Encyclopedia of the Air» gefeiert wird, das einen ähnlichen «Berserkern gegen das Unrecht»-Spirit verströmt wie «Fire». Zusammen mit Moor Mother hat Martin schon ein paar Shows gespielt, und über sie sagt er: «Wir stellten fest, dass wir eine gemeinsame Vorliebe für musikalische Pyromanie, verbale Intensität und das Abwerfen von Gedankenbomben haben. Ausserdem sind wir beide begeisterte Hip-Hop-Fans mit enzyklopädischem Wissen über die Geschichte dieser Kultur.»

Nicht nur ihr Faible für Gedankenbomben und Pyromanie teilen The Bug und Moor Mother, sondern auch den Glauben an die subversive Kraft von Schutt-und-Asche-Sounds, von Lautstärke, Tiraden, Drastik, Sirenen, schweren Zeichen, Slogans und Bässen, den Klangboten von Klaustrophobie und Paranoia – kurz, den Glauben an das ganze Inventar einer sonischen Militanz, die uns Hörende in ständige Alarmbereitschaft versetzt, stets ready für die Überwältigung.

Eine Überwältigung, die in einem dunklen Basstempel in tiefer Nacht bei einem DJ-Set von The Bug so was von – Entschuldigung – geil überwältigend sein kann. Eine Überwältigung aber auch, die auf Tonträger Gefahr läuft, zu einer Instantmilitanz zu regredieren, einem rasenden Stillstand, einer abstrakten Radikalität, die überwältigend auf die Nerven gehen kann. Was dem Konzept von The Bug ja innewohnt.

The Bug: Fire. Ninja Tune. 2021