Theater: Das Spiel der Rache

Nr. 47 –

Friedrich Dürrenmatts «Der Besuch der alten Dame» erschien 1956, im selben Jahr wie Frantz Fanons «Die Verdammten dieser Erde». Unsere Autorin findet dank einer aktuellen Inszenierung im Schauspielhaus Zürich noch weitere Gemeinsamkeiten.

Ein Regen gelber Schuhe ist herabgefallen: Sebastian ­Rudolph und Patrycia Ziolkowska in der Zürcher Dürrenmatt-Inszenierung. Foto: © Zoé Aubry

«Wiederholung zerstört das, was wiederholt wird», soll Andy Warhol einmal gesagt haben.

Was bleibt übrig nach der Wiederholung? Das frage ich mich jedes Mal, wenn ein Satz, ein Ausdruck, ein Wort im Stück «Der Besuch der alten Dame» wiederholt wird. Doch sobald der Vorhang im Schauspielhaus Zürich gefallen ist, taucht als Antwort ein exhumiertes Skelett von einem Wort auf. Ein Wort, um das all die wiederholten Wörter tanzen, flirren, taumeln, allmählich verstummen: Rache. Rache reckt ihr Haupt aus dem Schutthaufen aller anderen Wörter, die gesagt, gerufen, geschrien, geflüstert werden von Patrycia Ziolkowska und Sebastian Rudolph, die das Stück als Duo bestreiten. Rache schaut uns trotzig ins Gesicht, während sie langsam und siegreich über diesem inszenierten Schiffbruch einer Geschichte aufsteigt.

Gewässert und gedüngt

Dieser Schiffbruch unterbricht die kohärente Nacherzählung von Friedrich Dürrenmatts Stück, das von einem Zwischenfall mit einem Opfer und einem Täter handelt; er unterbricht auch den Versuch, diesen Zwischenfall zu rechtfertigen oder anderweitig geradezurücken. Man erzählt uns also immer und immer wieder, aber niemals ohne Unterbrechung, vom Auftauchen einer reichen alten Dame – dem Opfer –, die sich in einer Stadt namens Güllen – dem Tatort – am Bürgermeisterkandidaten – dem Täter – rächen will.

In Nicolas Stemanns Inszenierung hatte der Bürgermeister in spe als junger Mann der reichen Dame, die damals noch eine verzweifelte junge Frau war, ein kurzes Liebesglück vorgetäuscht, nur um ihr dieses Glück gleich wieder wegzustehlen. Er leugnete gar, dass er sie je berührt hatte, obwohl er der Vater einer Tochter war, die kurz nach der Entbindung sterben würde. Die einst mittellose Frau kehrt als reiche Dame zurück, doch ihr Leben ist von Verlust geprägt: Sie verlor ihr Kind, später verliert sie ein Bein, einen Arm, vielleicht sogar ihr Gesicht. Inmitten dieser versagten Liebe, versagten Mutterschaft, versagten körperlichen Integrität, inmitten dieses ganzen versagten Lebens ist nur eine karge Steppe übrig geblieben, in der sich eine Pflanze ungehindert ausbreiten konnte: die Rache. Was ist die Anatomie dieser Pflanze?

Gehegt vom gebrochenen Ich des Opfers, keimt die Rache nur am Tatort, nirgends sonst, und treibt ihre Wurzeln in Tunnel, die der Täter grub. Die Gewalt des Verbrechens düngt den Boden; der vom Verbrechen verursachte Schmerz wässert ihn, und so wuchert die Rache wild und üppig, bis sie irgendwann das eigentliche Verbrechen überschattet. Bis die nun reiche Frau von den Bewohner:innen der Stadt verlangt, den Bürgermeisterkandidaten zu töten.

Für die Einwohner:innen übersteigt das eingeforderte Ausmass der Gewalt dieses Racheakts dasjenige des ursprünglichen Verbrechens; die Rache überstrahlt das Verbrechen. Es ist eine primitive, vulgäre Gewalt, die sie als zivilisierte Bürger:innen eilfertig von sich weisen und noch lauter verdammen, als sie das ursprüngliche Verbrechen verdammen würden. Das erweiterte Ausmass der Gewalt, das die Rache verlangt, hat allerdings, wie wir rasch merken, nicht allein damit zu tun, dass das Opfer böswilliger als der Täter ist. Vielmehr hat diese Gewalt mit den Narben und der ganzen Gebrochenheit des Opfers zu tun, die der Täter ihm zugefügt hat und die eine ebenso gebrochene und grobschlächtige Gewalt hervorrufen, eine ungeordnete und unzivilisierte Gewalt. Das ist die ewige Tragödie des Opfers: Nicht einmal die Rache kann es in den Augen der Gesellschaft – oder in unserem Fall: in den Augen des Publikums – erlösen. Oder doch?

Die gelben Schuhe

Die Wiederholungen und das Gebrochene der Geschichte in Stemanns Inszenierung bestehen vor allem darin, dass sich die beiden Schauspieler:innen ständig abwechseln in ihren Verkörperungen von Opfer und Täter. Als Zuschauer:innen werden wir so von Anfang an zu Kompliz:innen.

Indem die beiden Schauspieler:innen abwechslungsweise Dialogzeilen unterschiedlicher Figuren sprechen, erscheinen sie verstrickt in einen inneren Monolog, in dem das Opfer als einstiger Täter auftritt – und umgekehrt. Und indem sie sowohl Opfer als auch Täter spielen, überträgt sich dieser permanente Rollenwechsel auf alle Anwesenden, auch auf uns Zuschauer:innen. Haben wir dieses Changieren zwischen Täter- und Opfersein nicht selber auch schon erlebt?

Eine weitere Konsequenz dieser ständigen Rollenwechsel ist ein Wandel in der Wahrnehmung: Wir interpretieren die Rache nicht mehr als irrationale, primitive Tat, sondern als legitimierten Gewaltakt, ermöglicht durch nichts anderes als Eigeninteresse und Gier oder, wie in Dürrenmatts Text spöttisch suggeriert wird, durch das Tragen von gelben Schuhen.

Hat der Bürgermeisterkandidat sein Verbrechen damals nicht vertuscht, indem er zwei falsche Zeugen mit einer Flasche Schnaps bestach, damit diese aussagten, sie hätten die junge Frau geschwängert? Eine Flasche Schnaps ist ja sicher weder nobler noch zivilisierter als gelbe Schuhe.

Gelbe Schuhe also! Es regnet gelbe Schuhe auf die Bühne und auf die Stadtbewohner:innen. Geschickt hat diese Schuhe das Opfer, das nun als wohlhabende Frau Zachanassian an den Tatort zurückgekehrt ist. Frau Zachanassian verspricht den Einheimischen, sie werde sie von ihren Schulden erlösen – Schulden, die sie selbst geschaffen hat. Dasselbe gilt für die Hingabe, mit der das Opfer seine Rache ausübt. Wie Simone de Beauvoir in ihrem Essay «Auge um Auge» schreibt, der 1946, also kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, erschienen ist: «Wir sehen in allen Epochen, dass wirklich rachsüchtige Völker die ganze Macht ihrer Vorstellungskraft einsetzen, um ihre Feinde zu bestrafen.»

Mit gezogener Machete

Wenn der Nutzen der Rache also ausgeweitet wird, um viele miteinzubeziehen und nicht nur den oder die einzelne Rächer:in, dann wird die Rache erhöht. Sie ist nicht mehr bloss ein Akt der Grausamkeit, sondern ein notwendiger Akt der Versöhnung, vollzogen von einer zivilisierten Gesellschaft, die ihre eigenen Interessen im Blick hat. Das Resultat macht alle zu Mittäter:innen – ein Part, der einfacher zu akzeptieren ist als die Opferrolle, wie auch Dürrenmatts Stück zeigt.

Genau dieser Aspekt bringt uns näher zu Frantz Fanons Einsicht in seinem Buch «Die Verdammten dieser Erde» von 1956, also aus demselben Jahr wie «Der Besuch der alten Dame»: «Wenn der Kolonisierte eine Rede über die westliche Kultur hört, zieht er seine Machete. Die Gewalt, mit der sich die Überlegenheit der weissen Werte behauptet hat, führt dazu, dass der Kolonisierte aus Rache grinst, wenn man diese Werte vor ihm heraufbeschwört.»

Im Zusammenhang mit dem «Besuch der alten Dame» kann man an dieser Stelle gar nicht anders, als an die Vorherrschaft der privilegierten männlichen Werte zu denken, gegen die eine damals nicht privilegierte Frau nun ihr Messer zieht. Und schaut man das Stück vor dem Hintergrund unserer aktuellen Welt an, die gebrochen ist und vernarbt mit Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten als Folge von Kriegen und Militärdiktaturen, von Ausbeutung der Natur, menschlicher Gier und männlichem Chauvinismus, merkt man schnell, dass es Verbindungslinien gibt zur Welt, in der Dürrenmatt, de Beauvoir und Fanon lebten und schrieben: einer Welt mit all den ethischen Schiffbrüchen, die nach dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert und aufgeräumt werden mussten.

Und dank der vielen Rollenwechsel, die Stemann Patrycia Ziolkowska und Sebastian Rudolph durchspielen lässt, erkennen wir auch die entscheidende Wende, die die Rache herbeiführt. Der ursprüngliche Täter macht das ursprüngliche Opfer am Ende zur Täterin – das ultimative Schauspiel der Gewalt. Für uns aber bleibt die drängende Frage: Welche Form der Gerechtigkeit gibt es für das Opfer jenseits der Rache?

Das Einzige, was wir sicher wissen, immerhin: «das legitime Rachebedürfnis» bringt keine Befreiung, wie Fanon schreibt.

Adania Shibli

Aus dem Englischen übersetzt von Daniela Janser. «Der Besuch der alten Dame» wird noch bis mindestens Ende Dezember 2021 im Schauspielhaus Zürich gespielt. www.schauspielhaus.ch

Adania Shibli

Die palästinensische Autorin (47) lebt in Berlin und Jerusalem. Ihr neuster Roman erscheint im Februar 2022 unter dem Titel «Eine Nebensache» auf Deutsch. Im Herbstsemester 2021 lehrt sie als «Friedrich Dürrenmatt Gastprofessorin für Weltliteratur» an der Uni Bern.