TV-Philosophie: Im Banne der Potenz

Nr. 49 –

Effekthascherische Zuspitzungen unter dem Deckmantel «Philosophie»: Svenja Flasspöhler provoziert mit schiefen Gegensätzen und halbgaren Coronathesen. Nicht nur im Fernsehen, sondern auch in ihrem neuen Buch.

Eine Philosophie aus privilegierter Position: Svenja Flasspöhler im Gespräch mit Stichwortgeber Richard David Precht im ZDF-Studio. Foto: © Juliane Eirich, ZDF

Wo anfangen? Zum Beispiel beim Talkshowtitel «Sensibilisieren wir uns zu Tode?». So steht es, fragend und reisserisch, über einem kürzlich vom ZDF ausgestrahlten Gespräch zwischen zweien, die sich Philosoph:innen nennen. Gastgeber ist Richard David Precht, Deutschlands bekanntester TV-Dampfredner mit Philosophiehintergrund. Svenja Flasspöhler ist Chefredaktorin des «Philosophie Magazins». Auch sie ist oft im Fernsehen zu sehen, unter anderem in der «Sternstunde Philosophie» von SRF. Breiter bekannt wurde sie als Kritikerin der #MeToo-Bewegung.

Grotesk unsensibel

«Sensibilisieren wir uns zu Tode?» ist eine arg beschränkte Frage. Wer ist dieses «Wir»? Und wie kommt man überhaupt auf einen Zusammenhang zwischen Sichsensibilisieren und Sterben? Klar, die Talkshow-Überschrift spielt auf Neil Postmans «Wir amüsieren uns zu Tode» an. Aber vor allem ist sie eine Zuspitzung von Flasspöhlers neuem Buch «Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren». Das klingt differenzierter, vollzieht jedoch bereits im Titel den strategischen Kurzschluss zwischen Sensibilität und – negativ konnotierter – Empfindlichkeit. Und mit genau diesem Kurzschluss steigt Flasspöhler auch in die TV-Debatte ein. Precht sagt «empfindsam», sie korrigiert umgehend: «Ich würde eher von ‹empfindlich› sprechen.»

Die beiden diskutieren dann, wie die «zivilisatorische Errungenschaft» der Sensibilität «vom Progressiven ins Regressive» kippen kann, so weit der Klappentext von Flasspöhlers Buch. Illustriert wird dieses Kippen mit zwei erfundenen Extremfiguren: einem – grotesk unsensiblen – Ritter aus dem Mittelalter, der in die Ecke pisst, stinkt, wütet und mordet, und dem Berliner Zeitgenossen Jan, der als derart rücksichtsvoll beschrieben wird, dass er hinter all seinen Gesten der Rücksichtnahme und des korrekten Genderns selbstlos verschwindet. Wobei, ist «rücksichtsvoll» nun auch einfach ein Synonym von «sensibel»?

Innert Kürze landen Precht und Flasspöhler bei einer weiteren Kategorie: den «Betroffenen». Prechts schiefe Ausgangsfrage lautet: Wie kann man von einer «Betroffenheit in pragmatische Vorstellungen des Umgangs» mit zeitgenössischen Empfindlichkeitsthemen wie #MeToo und Black Lives Matter übergehen? Flasspöhlers Antwort: Es sei wichtig, dass zwar unbedingt auch, aber eben nicht nur die Betroffenenperspektive «zugelassen» werde. Das habe man beim Holocaust gesehen: «Die Juden» durften zuerst beim «ganzen Problem» nicht mitreden, weil man sagte, sie seien «zu nah dran», so Flasspöhler. Später seien sie zu Wort gekommen; ihre Sicht müsse aber ergänzt werden durch die Nichtbetroffenenperspektive.

Einmal mehr: wo ansetzen bei so viel Unbedarftheit? Warum verstehen Precht und Flasspöhler #MeToo und Black Lives Matter als Symptome von Empfindlichkeiten – und nicht als Reaktionen auf Gewalterfahrungen? Aber vor allem: Warum gelten nur Juden und Jüdinnen als Betroffene des Holocausts? Oder anders gefragt: Wer wären denn Nichtbetroffene? (Die Täter und Mitwisserinnen etwa?) Und womit würde man die unvollständige Perspektive der Holocaustbetroffenen genau ergänzen, um «zu einer höheren gemeinsamen Erkenntnis» zu gelangen, wie Flasspöhler es salbungsvoll nennt? Anstatt kritisch nachzufragen, spielt ihr Precht im Verlauf des Gesprächs immer weiter zustimmend Stichworte zu: Dieser hypersensible Jan etwa, der sei doch so unsexy wie ein Löschblatt – oder ein alkoholfreies Bier.

Trauma und Todestrieb

Später in der Sendung gabs ungefragt Ratschläge an die Schwarzen Autorinnen, die sich an der Frankfurter Buchmesse geweigert hatten, auf einem Podium zu diskutieren, das neben dem Stand eines rechtsradikalen Verlags aufgebaut war. Flasspöhler findet: Die sollen sich nicht wegducken, sondern stolz auf die Bühne steigen. Das ist ein Echo ihrer Haltung zu #MeToo. Schon damals riet sie den Frauen, sich nicht in die «Opferrolle» drängen zu lassen und mehr «Potenz» zu wagen. Von der irritierenden Wortwahl einmal abgesehen: Bei derlei Ratschlägen bleibt jedes Machtgefälle, jede konkrete Bedrohung an Leib und Leben, jede Diskriminierung schlicht ausgeblendet. Man muss Stärke markieren, dann kommts gut, schliesslich herrscht Gleichberechtigung. Was aber, wenn die Männer nicht aufhören, obwohl sie abgewiesen werden?

Und was würde wohl eine Geflüchtete in Calais oder ein von Polizisten verprügelter Schwarzer sagen zu Flasspöhlers Diagnose, wir lebten in einem Zeitalter gefährlich überbordender Verletzlichkeit und Opferidentifikation? Würde sie denen auch zu mehr Widerstandskraft und Potenz raten? Flasspöhlers Philosophie der Stärkeren entspringt einer privilegierten Position, die unreflektiert bleibt. Verschiebt man den Blick nur leicht, müsste man vielmehr von einem Zeitalter der eklatanten Brutalität und Unsensibilität sprechen, in dem ungerührt dabei zugeschaut wird, wie Menschen im Mittelmeer oder Ärmelkanal ertrinken oder unter dem Existenzminimum verzweifeln.

Leider ist das alles nicht bloss ein Problem von mündlichen TV-Verkürzungen. In ihrem Buch «Sensibel» inszeniert Flasspöhler ein fiktives Streitgespräch zwischen dem empfindsamen «Team Lévinas» und dem widerstandskräftigen «Team Nietzsche». Übertriebene Verletzlichkeit wird ebenso wie rücksichtslose Härte als gefährlich deklariert, weil beides – Überraschung! – zu einer Spaltung der Gesellschaft führe. In der Folge verklammert Flasspöhler ihre Zeitgeistdiagnosen mit weiteren Denkerpaaren, die sich gegenseitig ergänzen sollen, darunter Ernst Jünger und Sigmund Freud. Letzteren führt sie quasi als sensiblen Schreibtisch-Resilienzforscher ein, dessen Thesen sie vom ungerührten Heldenmenschen Jünger auf den Schlachtfeldern bestätigt sieht, in einer Zeit des «unausweichlichen» millionenfachen Sterbens: eine heikle Verzerrung von Freuds komplexen Theorien zu Kriegstrauma und Todestrieb.

Gleich dreimal kombiniert Flasspöhler in ihrem Buch Positionen jüdischer Denker, Verfolgte der nationalsozialistischen Mordmaschinerie, mit Theorien zu Abwehrkraft und Resilienz. Das mit den achtsamen jüdischen «Betroffenheitsperspektiven», die ergänzt und erweitert werden müssen, meint sie also genau so, wie sie es in der Talkshow mit Precht sagte. Eine weitere Auffälligkeit in der Grundkonstruktion des Buchs: Sie setzt «resilient» als stolzen Gegenbegriff zu «sensibel». Das Gegenteil von sensibel wäre allerdings schlicht unsensibel. Nur: Unsensibel will natürlich niemand sein.

Vorrecht der Stärkeren

Flasspöhlers Buch ist ein Bestseller, und zweifellos werden die Verkäufe von ihren TV-Auftritten befeuert. Die schiefen Gegensätze und Man-darf-doch-mal-Fragen, die sie in die mediale Umlaufbahn schickt, müssen dort zeitaufwendig wieder weggeräumt werden. Das wurde kürzlich in der Talkshow von Frank Plasberg sehr anschaulich: Eine Notärztin, ein Journalist, ein Immunologe und ein Politiker widerlegten mit vereinten Kräften die halbgaren Coronathesen, die Flasspöhler verbreitete. Ihr Programm: Impfen ist Privatsache, jeder und jede kann für sich selber abwägen, ob er oder sie das will. Auch hier propagiert sie letztlich das Vorrecht der (eingebildeten) Stärkeren: Wer sich gesund fühlt, muss nicht solidarisch sein. Auch die Ausnahmesituation der Pandemie spielt für sie offensichtlich keine Rolle. Als sie sich von den Fachkräften in die Ecke gedrängt sah, packte Flasspöhler die Schwurblerkeule aus und warnte vor einer «Expertokratie».

Im Rollenspiel der Talkshows wird sie als Allrounderin gecastet, deren Thesen durch das Label «Philosophin» validiert werden. Dabei wäre es so einfach, andere, besser qualifizierte Denker:innen einzuladen. Anstatt Halbwahrheiten zu verbreiten, könnte man die Mechanismen der Halbwahrheiten rund um Corona und ums Impfen fachgerecht zerlegen. Die Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess hat ein aufschlussreiches Buch zu solchen Manipulationen der Wirklichkeit geschrieben. Anstatt gedankenlos eine Position der Stärke zu vertreten, analysiert Iris Därmann im Buch «Undienlichkeit» die Gewaltgeschichte aus der Warte der Schwächeren – und entdeckt ein faszinierendes Arsenal der Widerstandsgesten. Eva von Redecker forscht zu den Kämpfen und Wünschen progressiver Protestbewegungen als «Revolutionen für das Leben». Der Soziologe Oliver Nachtwey durchleuchtet mit seinem Team die Querdenker:innen, die Autorin Jasmina Kuhnke Rassistinnen und Frauenhasser. Die beiden Letzteren tun das übrigens auch fleissig auf Twitter. Im Unterschied zu Flasspöhler, die soziale Medien erklärtermassen meidet. Doch nicht resilient genug?