Linker Antisemitismus: Den Rassismus beim Namen nennen

Nr. 6 –

Der britische Comedian und Autor David Baddiel hat ein scharfsinniges Buch über Antisemitismus im progressiven, linken Milieu geschrieben. Wer die jüngsten Debatten um Whoopi Goldberg oder das «Tagi»-Porträt von Sonja Rueff-Frenkel verstehen will, sollte es lesen.

Ende Januar vertrat die US-Schauspielerin und Aktivistin Whoopi Goldberg in ihrer Talkshow «The View» die Ansicht, der Holocaust könne nicht als rassistisches Verbrechen bezeichnet werden, weil er «von Weissen an Weissen» begangen worden sei.

Zwei Tage später analysierte der Autor und Comedian David Baddiel im britischen Frühstücksfernsehen in zwei Minuten sämtliche Problemzonen dieser Aussage: Das erklärte Ziel von Nazis und Neonazis sei immer «Rassenreinheit» gewesen – allein schon deshalb könne man Jüdinnen und Juden nicht einfach als «weiss» bezeichnen. Goldbergs Aussage banalisiere mörderischen antijüdischen Rassismus zum seltsam unspezifischen «Unrecht», das «Menschen» angetan werde.

Baddiels Auftritt war auch ein eloquenter Werbespot für sein Buch, das auf Deutsch unter dem etwas unglücklichen Titel «Und die Juden?» erschienen ist. Das Original führt die Hauptthese direkt auf dem Cover: «Jews Don’t Count» – Juden und Jüdinnen zählen nicht. Und zwar in dem Sinne, als sie meist nicht als diskriminierte Minderheit wahrgenommen werden – weshalb antijüdischer Rassismus oft unerkannt bleibt. Baddiel, der sich selber links verortet, geht es dabei explizit nur um progressive Milieus, um diejenigen also, die denken, sie stünden eh auf der richtigen Seite. Um uns.

Und niemand merkt etwas

Würde David Baddiel die Schweizer Debatten verfolgen, hätte er im – mittlerweile von diversen Entschuldigungen umsäumten – antisemitischen «Tagi»-Porträt über die Zürcher FDP-Stadtratskandidatin Sonja Rueff-Frenkel ein sehr treffendes Beispiel für seine Thesen gefunden. Zur Erinnerung: Rueff-Frenkel wird in diesem Artikel gleich zum Einstieg als Typ «Sparkassenbeamte» beschrieben, die darauf achte, dass man «einen Kredit mit vernünftigem Zins» erhalte. Statt ihre politischen Anliegen vorzustellen, wird betont, wie begütert und privilegiert sie sei. Im dazugestellten Interview befragt der Journalist Rueff-Frenkel dann noch zur Bedeutung von Menstruation und alten Reinheitsgesetzen im jüdisch-orthodoxen Umfeld – und erwähnt nochmals ihren Reichtum.

Ohne Umschweife wird die Porträtierte so in antisemitische Schablonen gezwungen, was dem Autor offenbar schlicht nicht aufgefallen ist. Fast noch erstaunlicher: Auch in der Produktionskette der Zeitung scheint niemand stutzig geworden zu sein – kein Redaktor, keine Produzentin, niemand im Korrektorat. Im Gegenteil: Man hievte die von Rueff-Frenkels Bruder quasi als Kompliment ins Spiel gebrachte Metapher einer geübten Spinnennetzweberin in den Titel; und produzierte mit dieser Zuspitzung auf «Die Frau mit dem Spinnennetz» in der Schlagzeile gleich noch ein antisemitisches Zerrbild.

Keine böse Absicht

Baddiels Analyse hilft zu verstehen, dass hier ein Journalist seine kritisch-angriffige, antikapitalistisch angehauchte Haltung widerstandslos in antisemitische Bilder übersetzt hat: Rueff-Frenkel als Spinne im Netz, als Zinsschinderin, als Reiche (was ja zweifellos auf mehrere Stadträte und Stadtratskandidatinnen zutrifft, aber nur in diesem einen Porträt derart viel Platz einnimmt); aber auch als irgendwie orthodox-vorgestrige und doch gewiefte Hausbesitzerin und Vermieterin. Gerade letztere paradoxe Kombination ist laut Baddiel absolut typisch: Jüdinnen und Juden seien die einzigen Rassismusopfer, die als rückständig und übermächtig zugleich wahrgenommen würden.

David Baddiel Foto: Steve Best

All diese Bilder wurden auch deshalb nicht als antisemitisch erkannt, weil man sich selbst ganz selbstverständlich als progressiv versteht und davon überzeugt ist, nicht rassistisch zu sein. Baddiels eigenes Beispiel hierfür: der frühere Labour-Chef Jeremy Corbyn, der ein klar antisemitisches Graffito lange hartnäckig verteidigte, da es eine griffige antikapitalistische Botschaft enthielt. Was im Fall des «Tages-Anzeiger»-Journalisten ebenfalls mitschwingt: Rueff-Frenkel wird dort als extrem privilegiert geschildert. Sie kann also per Definition keiner diskriminierten Minderheit angehören, kann kein Opfer sein – und darf entsprechend hart kritisiert werden. Bloss, warum geschah diese Kritik ausgerechnet mit antisemitischen Schablonen?

Die Entschuldigung der Chefredaktion, die zwei Tage später publiziert wurde, blieb eine Antwort auf diese Frage schuldig. Wie der Autor auch gab man sich zwar aufrichtig schuldbewusst, betonte aber gleichzeitig vehement, Antisemitismus und Sexismus im Text seien «ungewollt» und «unbeabsichtigt» passiert. Dies passt wiederum zum Fall Goldberg. Die Schauspielerin hat unterdessen ebenfalls um Entschuldigung gebeten, zudem erklärten ihre Verteidiger:innen, Goldbergs Bemerkungen seien ein Produkt von «Unwissenheit» gewesen, keine «böse Absicht». Auch hier zählt man sich zu den Guten, der Fehltritt erscheint als zufällige Entgleisung – wird nicht wieder vorkommen.

Dabei liegt genau darin der entscheidende Punkt. Denn dieser «unwissentliche», «unbeabsichtigte» Antisemitismus ist schlicht Antisemitismus in seiner reinsten Form: Aus dem Unterbewussten steigt offenbar wie selbstverständlich ein altes Ressentiment auf, «das Gerücht über die Juden» (Adorno) – und wird Wort. Die Bauchredner dieses antisemitischen Bodensatzes sind diesmal keine eingefleischten Rassistinnen oder Nazis, sondern ein kritischer Journalist und eine gefeierte antirassistische Kämpferin. Dass ausgerechnet in diesem eigentlich sensibilisierten Milieu solche Sätze geäussert werden, bestätigt Baddiels These, dass Antisemitismus heute ein blinder Fleck ist: etwas, das zwar ständig wirkmächtig ist, gleichzeitig aber oft unerkannt bleiben kann.

Die unsichtbaren Dritten

Man merkt: Eine Entschuldigung reicht nicht, eine vertiefende Analyse wäre nötig gewesen. Denn diese «Ausrutscher» – ein Wort, das Baddiel explizit gutheisst: Es beschreibe treffend, wie eine «Kette unbewusster Annahmen» gegenüber Juden und Jüdinnen «herausrutschten» – geschehen nicht ohne Grund. Dieser «passive» linke Antisemitismus, so zeigt Baddiel in seinem Buch, spiegelt erstaunlicherweise Mechanismen aus der rechtsextremen Verschwörungstheorie vom «grossen Austausch». Diese enorm erfolgreiche rassistische Propagandaerzählung teilt die Akteur:innen dieses angeblichen planvollen Umsturzes in drei Gruppen ein: die Weissen, die verdrängt werden sollen, die dunkelhäutigen Menschen, die sie ersetzen sollen – und als klar abgetrennte dritte Gruppe die Juden und Jüdinnen, die diesen Austausch vermeintlich orchestrieren.

Daraus folgt: Juden und Jüdinnen werden nicht als weiss wahrgenommen, aber eben auch nicht als dunkelhäutig, sie haben also quasi gar keine Hautfarbe, sind unsichtbar. So erklärt sich auch, warum Antisemitismus oft nicht integraler Bestandteil antirassistischer Kampagnen ist, sondern, wenn überhaupt, als Spezialfall behandelt wird, wie Baddiel mit Beispielen aus der Fussballwelt zeigt.

Dazu kommt: Jeder Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg verweist in letzter Konsequenz immer auf Nazismus und den Holocaust. Was nachhaltig dazu führen müsste, dass Antisemitismus niemals bagatellisiert werden darf. Trotzdem findet David Baddiel viele Beweise für eine Art «Rassismushierarchie» im öffentlichen Diskurs. So würde heute sicher niemand mehr auf einer Bühne aus Agatha Christies Klassiker mit dem N-Wort im Titel vorlesen – derweil werden weiterhin ohne Skandalgefahr Lesungen aus T. S. Eliots Gedichten veranstaltet, die grotesk antisemitische Zeilen enthalten.

David Baddiel: Und die Juden?. Hanser Verlag. München 2021. 135 Seiten. 29 Franken