Klimapolitik : Eine Fata Morgana aus Wasserstoff

Nr. 24 –

Als Antwort auf die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas erfährt grüner Wasserstoff einen Aufschwung. Die Industrie sieht in ihm den Rettungsanker für ihre nicht länger zukunftsfähigen Geschäfte.

Luftaufnahme des Solarkraftwerk in Ouarzazate, Marokko
Um mit Sonnenenergie genügend Wasserstoff zu erzeugen, bräuchte die EU in Nordafrika eine Fläche von der Grösse des Kantons Luzern: Solarkraftwerk in Marokko. Foto: Getty

Im Luzerner Verkehrshaus machen sich Besucher:innen am Touchscreen einer Tankstelle zu schaffen. Sie befüllen ein frisch poliertes Auto mit Wasserstoff. Auf einem Spielplatz, der ebenfalls zur Ausstellung «Wasserstoffmobilität» gehört, stellen Kinder in einem interaktiven, virtuellen Spiel selbst Wasserstoff her. Geben sich die Kids genug Mühe, gibt es genug Sprit für alle.

Bis anhin wurde Wasserstoff vor allem in der chemischen Industrie benutzt, etwa zur Herstellung von Ammoniak. Immer mehr gewinnt der farblose, gasförmige Stoff aber an Bedeutung als Energieträger: Strom lässt sich in Form von Wasserstoff speichern. Daraus kann dann in einer Brennstoffzelle wieder elektrische Energie entstehen und für den Antrieb von Fahrzeugen benutzt werden.

Die Wasserstoffwirtschaft macht ein Versprechen: Keine Sorge, alles kann so weitergehen wie bisher. Und das ganz klimafreundlich. So steht die virtuelle Verkehrshaus-Tankstelle in einer sonnigen Berg- und Seenlandschaft. Durch diese braust ein frisch betankter gelber Sportwagen. Hinter der Ausstellung in Luzern stehen die Eidgenössische Materialprüfungsanstalt (Empa), der Automobilproduzent Hyundai und Avenergy Suisse. Letztere vertritt alle grossen Erdölimporteure der Schweiz und hat letztes Jahr massgeblich zum Scheitern des CO₂-Gesetzes beigetragen. Nun soll also die Grossoffensive beim grünen Wasserstoff das Nichtstun der Branche beim Klimaschutz beschönigen.

Ein kostbarer Stoff

Reinen Wasserstoff gibt es auf unserem Planeten keinen. Er muss mit grossem Energieaufwand produziert werden. Die Herstellung bestimmt, wie sauber der Wasserstoff am Ende ist. Je nach Verfahren und Ausgangsstoff entstehen Treibhausgase.

Am klimafreundlichsten ist der grüne Wasserstoff, also Wasserstoff, der mit erneuerbaren Energien aus Wasser hergestellt wird. Leider ist die Produktion nicht sehr effizient: Von der Energie sind am Ende nur noch etwa zwei Drittel übrig. Trotz des Verlusts kann sich die Herstellung von Wasserstoff lohnen, wenn zu viel erneuerbare Energie produziert wird und diese sonst einfach verloren ginge. Mit dem Ausbau der Solaranlagen ist das in Zukunft vermehrt zu erwarten. Heute wird aber der grösste Teil des Wasserstoffs aus Erdgas mithilfe fossiler Energie hergestellt.

«Grüner Wasserstoff ist kostbar», sagt Gabriela Suter. «Es ist wichtig, dass er nur dort eingesetzt wird, wo es keine effizienteren Alternativen gibt. Und wo er fair und ökologisch hergestellt ist.» Die SP-Nationalrätin hatte mit einer Motion den Bund aufgefordert, eine Strategie für grünen Wasserstoff zu erarbeiten. Doch die Motion wurde von SVP-Nationalrat Christian Imark bekämpft. «Die Strategie hätte bereits 2021 umgesetzt werden können», ärgert sich Suter. «Das war reine SVP-Verzögerungstaktik.»

Anfangs hätten sich nicht viele Parlamentarier:innen für das Thema interessiert, sagt sie. Doch kurz nach ihrem Vorstoss wurde die vorwiegend bürgerliche Parlamentarische Gruppe Wasserstoff gegründet, die regelmässig Treffen mit Vertreter:innen aus der Industrie organisiert. Kovorsitzender ist Albert Rösti, bis vor kurzem Präsident von Swissoil, jetzt von Auto-Schweiz. Suter ist überzeugt, dass es einen gewissen Anteil an Wasserstoff braucht. «Aber nur hergestellt aus Erneuerbaren und nicht in dem Ausmass, in dem ihn nun einige Kreise fördern wollen.»

Nicht für Autos

«Die Schweiz hat noch keinen etablierten Plan für Wasserstoff», sagt Jan Van Herle. Der Forscher der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) bedauert, dass es auf politischer Ebene nicht vorwärtsgeht. Van Herle forscht an der Hochtemperatur-Brennstoffzelle, die den besten Wirkungsgrad aufweist. Wie schätzt der Fachmann das Potenzial für grünen Wasserstoff ein? «Wir müssen ehrlich bleiben», sagt Van Herle. Der Wirkungsgrad bei der Herstellung von grünem Wasserstoff werde zwar besser, die Herstellungskosten sänken, und die Effizienz werde besser. «Aber wir können nicht zaubern.»

Einen möglichen Anwendungsbereich sieht Van Herle vor allem im Schwerverkehr., also beim Antrieb von Bussen, Lkws oder auch Schiffen. Solche Fahrzeuge würden sich heute nicht für einen Elektroantrieb eignen – die nötigen Batterien wären zu schwach, zu schwer und zu gross. Zwar würden die Batterien immer leistungsfähiger, doch bleibe die Verfügbarkeit des Batterierohstoffs Lithium ein Problem, auch wenn die Recyclingrate immer besser werde. Bei Wasserstoffautos für den Individualverkehr bleibt Van Herle skeptisch. In diesem Bereich gibt es bereits effiziente Elektrowagen – und sie werden immer billiger.

«Unabdingbar ist grüner Wasserstoff für Hochtemperaturprozesse wie die Stahlproduktion», erklärt Van Herle weiter. Die Schweiz selbst habe in diesem Bereich aber wenig Bedarf, weil es hierzulande nur noch wenig Schwerindustrie gebe.

Die Wissenschaft scheint also für die Rettung des Klimas weniger Potenzial im grünen Wasserstoff zu sehen als gewisse Industrien und Politiker:innen. Dies bestätigt der Klimapolitikforscher Anthony Patt von der ETH Zürich. Er war Mitautor des jüngsten Berichts des Weltklimarats, dessen dritter Teil aufzeigte, wie die Klimaerwärmung zu stoppen ist. Wasserstoff sei in den Unterkapiteln etwa zu Verkehr oder Industrie zwar vorgekommen, sagt er, aber im Vergleich zu anderen Massnahmen sei ihm keine sehr grosse Wichtigkeit beigemessen worden.

Unterschiedlicher Meinung sind Van Herle und Patt bei der Frage, welche Rolle dem grünen Wasserstoff beim Speichern von Überschussstrom zukommen kann. Van Herle sieht darin eine zentrale Anwendung. Patt hingegen meint, vielmehr müsse die saisonale Nachfrage mit dem saisonalen Angebot an Erneuerbaren abgeglichen werden. Soll heissen: die richtige Balance finden zwischen Solarstrom, der im Sommer viel hergibt, und Windenergie, die im Winter mehr abwirft.

Die Schweiz ist dabei in einer speziellen Situation, weil es hierzulande nur wenig Potenzial für Windenergie gibt, dafür viel für Solar- und Wasserkraft. Deshalb sind für Patt gute Stromabkommen mit der EU, die einen anderen Strommix bei den erneuerbaren Energien hat, vorrangig. «Das ist natürlich absolut richtig», sagt auch Gabriela Suter. Trotzdem könne aber Wasserstoff an wenigen Tagen im Jahr zum Ausgleich eine zentrale Rolle spielen. «Wenn wir sehr tiefe Temperaturen haben, können etwa Fernwärmenetze nicht mehr genügend Leistung bringen», sagt sie. «Da könnten wir dann wenige Tage mit grünem Wasserstoff im Verteilernetz überbrücken und heizen.»

Lobbying in der EU

Seit dem Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine hat die Diskussion über die fossile Abhängigkeit von Russland dem Wasserstoff weiteren Auftrieb verliehen. Anthony Patt warnt allerdings vor voreiligen Schlüssen: Wollen wir wirklich unabhängig von russischem Gas werden und es durch erneuerbare Energien ersetzen, sei dies bereits eine immense Herausforderung, meint er. Wir bräuchten dafür schnell riesige Windturbinen und Solarparks – und keine gigantischen Wasserstoffprojekte.

Dennoch setzt die EU aufs Gegenteil. Gemäss ihrem neuen Energieplan «REPowerEU» will sie noch stärker auf grünen Wasserstoff setzen als in ihrer bisherigen Strategie, in der Wasserstoff bereits ein zentraler Pfeiler beim Heizen und im Verkehr sein sollte. Die Hälfte soll mittels Importen mehrheitlich aus Nordafrika geliefert werden.

«Seien wir ehrlich: Die Wasserstoffbranche entspricht der Erdölbranche», sagt Pascoe Sabido. Der Politikwissenschaftler forscht beim Corporate Europe Observatory (CEO), einer Organisation, die den Einfluss von Unternehmen auf die europäische Politik untersucht. Unlängst hat das CEO Sitzungsprotokolle publik gemacht. Sie zeigen, dass Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit den Chefs der grossen Fossilunternehmen eine Taskforce zur Beratung der Energiestrategie beschlossen hat. «Daraus entstanden ist ein gigantisches, exorbitant teures Wasserstoffvorhaben», sagt Sabido. «Pipelines und andere Transportinfrastruktur müssten erst noch gebaut werden», sagt er. «Das ergibt für uns keinen Sinn.»

Sabido bezweifelt, dass die EU wirklich das versprochene Geld zahlen wird, denn die Finanzierung ist im EU-Plan nicht restlos geklärt. «Wir vermuten, dass grüner Wasserstoff als trojanisches Pferd benutzt wird», sagt er. Die Nachfrage solle heraufgeschraubt werden, sodass nicht genügend grüner Wasserstoff hergestellt werden könne und schliesslich blauer Wasserstoff oder Erdgas geliefert werden müsse.

Blauer Wasserstoff wird unter Einsatz fossiler Energie aus Erdgas hergestellt, wobei das in diesem Prozess entstehende CO₂ eingefangen und gespeichert werden soll – eine Technologie, die heute aber noch nicht im grossen Stil angewendet wird. «Unter dem Deckmantel ‹Wasserstoff› kann weiter Erdgas gefördert werden.»

Wie beurteilen die Exportländer die neuen EU-Pläne? Können sie eine Chance sein? «Das Problem an der Diskussion ist, dass es dabei immer um die Versorgungssicherheit Europas geht», sagt Hamza Hamouchene. Der aus Algerien stammende Umweltforscher und Aktivist arbeitet am Transnational Institute (TNI), das mit dem CEO gemeinsam die europäische Klimapolitik unter die Lupe nimmt. «Nie wird zuerst gefragt, was die Pläne dem Exportland bringen. Schaffen sie neue Arbeitsplätze für die lokale Bevölkerung? Was sind die sozioökologischen Folgen?»

Per se sei er nicht gegen die Herstellung von grünem Wasserstoff in Nordafrika, meint Hamouchene. Aber sie müsste extrem gut mit der lokalen Bevölkerung abgesprochen sein. «Ohne überhaupt das Thema Neokolonialismus zu streifen, kann man ganz pragmatisch sagen, dass es für uns sinnvoller ist, eigene Erneuerbare für unseren Energiemix zu fördern, anstatt für den Export grünen Wasserstoff zu produzieren.» Tatsächlich haben Algerien, Tunesien und Ägypten – alles Länder, in denen ausländische Wasserstoffprojekte diskutiert werden – weniger als zehn Prozent erneuerbare Energie in ihrem Mix. Marokko ist dabei mit knapp zwanzig Prozent Erneuerbaren einsamer Spitzenreiter.

Ein alter Traum

Um die Pläne der EU zu realisieren, bräuchte es zur Gewinnung der benötigten Sonnenergie mindestens eine Fläche von der Grösse des Kantons Luzern, vollgepackt mit Fotovoltaikanlagen. Steht diese in der Sahara zur Verfügung? Für Hamouchene ist das eine historisch geprägte Frage: «Dahinter steht die alte Idee, dass aus vermeintlich ödem, leerem Land etwas Fruchtbares, Gewinnversprechendes gemacht wird», sagt er. Aber auch die Sahara sei nicht leer. Auf den benötigten Flächen gebe es kleine Gemeinschaften und nomadisch lebende Menschen, die von diesem Land abhängig seien.

«Natürlich müssen wir Kompromisse finden, um die Klimakrise in den Griff zu kriegen», sagt er. Grüner Wasserstoff würde für ihn aber nur in Industrien sinnvoll sein, die die jeweiligen Länder bereits heute betreiben und die dadurch klimafreundlicher werden könnten. Ägypten etwa produziert sehr viel Ammoniak und daraus Stickstoffdünger, was viel Treibhausgase verursacht. Ammoniak aus grünem Wasserstoff herzustellen, fände er deshalb sinnvoll – zumindest bis sich nachhaltigere Landwirtschaftsformen durchsetzen.

Ägypten ist kommenden November Gastgeberin der Uno-Klimaschutzkonferenz COP27. Bis dann will sich das Land zum Wasserstoffmekka mausern. Die Auswirkungen der europäischen Wasserstoffvorhaben auf Umwelt und Gesellschaft untersuchen Hamouchene und Sabido zurzeit in einer Studie. «Unser Ziel ist es, die Wasserstoffblase platzen zu lassen», sagt Sabido, «und den Politiker:innen verständlich zu machen, dass diese gigantischen Pläne Irrsinn sind.»