Europäische Energiepolitik: Falsch abgebogen
Europa will weg von der Abhängigkeit von russischem Gas. Doch statt den überfälligen ökologischen Umbau einzuleiten, setzt die EU auf Flüssiggas.
Für einmal durfte der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am Sonntag gute Nachrichten verbreiten: Die Gasspeicher Deutschlands füllen sich schneller als erwartet, das Speicherziel für Oktober von 85 Prozent dürfte bereits jetzt, Anfang September, erreicht werden. Ein Blick in die offiziellen Gasspeicherstatistiken zeigt zudem, dass auch fast alle weiteren europäischen Länder ähnlich hohe Füllstände aufweisen, einzig Lettland hinkt deutlich hinterher.
«Bezüglich der Versorgungslage für den anstehenden Winter ist das ein gutes Zeichen», sagt auch Gerald Neubauer, Energieexperte bei Greenpeace Deutschland. Die Gefahr einer Mangellage aufgrund wegfallender Gasimporte aus Russland sei dadurch aber nicht gebannt. Die Speicher würden nicht für den ganzen Winter reichen, es brauche weiterhin verlässliche Gaslieferungen und Einsparungen beim Verbrauch. «Und wenn im Frühjahr die Speicher stark geleert sind, könnte die Befüllung für den Winter 2023/24 schwierig werden.» Letztlich sei auch der Preis für die gut gefüllten Speicher hoch, sagt Neubauer. «Die Regierung hat 15 Milliarden Euro dafür bezahlt und damit zu einer globalen Preissteigerung beigetragen, die letztlich auch auf die Verbraucherinnen und Verbraucher zurückfällt.»
Die Klimaneutralität ist in Gefahr
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die EU endlich – wenn auch überstürzt – dazu gebracht, die enorme Abhängigkeit von russischem Gas (45 Prozent ihrer Importe) und Erdöl (27 Prozent) zu reduzieren. Eine solche bestand bisher auch vonseiten der Schweiz: 2021 stammten über 40 Prozent ihres importierten Gases aus Russland. So präsentierte die EU-Kommission bereits Anfang März ihr «REPowerEU»-Programm, das «die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen aus Russland rasch verringern und den ökologischen Wandel beschleunigen will».
Tatsächlich wird kurzfristig aber nur die Loslösung von russischen Energieträgern ernsthaft angestrebt. Der ökologische Wandel bleibt auf der Strecke.
Ein Drittel des LNG-Handels wird am Spotmarkt abgewickelt: also gegen Cash.
Das zeigen die konkreten Massnahmen: Aufstockung der Lieferungen von Flüssiggas aus den USA, Kanada und Norwegen sowie entsprechende Deals und Verhandlungen mit Aserbaidschan, Ägypten, Israel, Katar oder Algerien. Anders ausgedrückt: Das fossile russische Gas soll mit ebenso fossilem Flüssigerdgas ersetzt werden.
Bei Flüssigerdgas, kurz LNG, handelt es sich um heruntergekühltes, dadurch verflüssigtes Erdgas, das hauptsächlich auf grossen Tankern über die Weltmeere verschifft wird. Entsprechende Terminals für den Empfang und das Weiterverarbeiten von LNG-Lieferungen gibt es bereits in diversen europäischen Häfen sowohl entlang der Ost- und der Nordsee als auch in West- und Südeuropa. Nicht aber in Deutschland, dem politisch mächtigsten EU-Land. Noch nicht.
Im Mai hat der Deutsche Bundestag einen Gesetzesentwurf zur «Beschleunigung des Einsatzes von verflüssigtem Erdgas» verabschiedet. Darin werden sieben Offshoreterminals und vier an Land bewilligt. Bewilligungsverfahren wie die Umweltverträglichkeitsprüfung für solche Anlagen werden vereinfacht. Diese LNG-Terminals sollen bis 2043 Erdgas importieren dürfen – dabei sieht das deutsche Klimaschutzgesetz vor, dass das Land bis 2045 klimaneutral ist.
Auf Gas ist kein Verlass
«Dass diese Anlagen per Gesetz dreissig Jahre lang Erdgas importieren dürfen, kritisieren wir scharf», sagt Claudia Kemfert. Die Ökonomin leitet die Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und ist Mitglied des Umweltrats, der die deutsche Bundesregierung berät. Bereits vor zwei Jahren hatte das DIW in einer Studie aufgezeigt, dass weder neue Gaspipelines noch zusätzliche Flüssiggasterminals für die europäische Versorgungssicherheit notwendig sind. An dieser Einschätzung habe sich auch durch den russischen Angriffskrieg nichts geändert, sagt Kemfert.
Im Gegenteil: Die aktuelle Lage mache deutlich, dass man sich nicht mehr auf Gas verlassen könne, um die Versorgungssicherheit zu garantieren. Diese könne kurzfristig gewährleistet werden, wenn das Gaseinsparpotenzial von 19 bis 26 Prozent ernsthaft verfolgt werde und die bestehende, gut ausgebaute Pipeline- und Speicherinfrastruktur durch zusätzliche Gaslieferungen von bestehenden Lieferanten ausgelastet werde, kommt das DIW zum Schluss.
Daher sei es zwar sinnvoll, kurzfristig für wenige Jahre mehr Flüssigerdgas anstelle von russischem Gas zu importieren. Das könne jedoch teils über sogenannte schwimmende Terminals passieren, meint Kemfert. Dabei handelt es sich um Transportschiffe, die das LNG nach Ankunft am für sie umgerüsteten Hafendock direkt in gasförmiges Erdgas umwandeln, sodass dieses danach ins Netz gespiesen werden kann. «Aber Investitionen in neue, stationäre LNG-Anlagen ergeben einfach keinen Sinn, wenn wir bis spätestens 2038 aus dem Erdgas ausgestiegen sein wollen, um unsere Klimaziele zu erreichen», sagt Kemfert.
Genauso schlimm wie Kohle
Hinzu komme, dass bisher verschwiegen werde, dass solche Anlagen vollständig umgerüstet werden müssten, bevor sie durch klimafreundliche Gase wie grünen Wasserstoff betrieben werden könnten, die zurzeit aufgrund der geringen verfügbaren Kapazitäten noch nicht einmal ansatzweise als Alternative vorhanden sind.
Gleichzeitig wird die Schädlichkeit von Erdgas, das lange als «emissionsarme» Schwester der fossilen Energieträger Öl und Kohle galt, immer deutlicher: Weil weit mehr Methan (Hauptbestandteil von Erdgas) als lange angenommen bei der Förderung und beim Transport von Gas durch Lecks verloren geht, kommen Wissenschaftler:innen heute zum Schluss, dass die Erdgasnutzung für das Klima im schlechtesten Fall gleich katastrophal ist wie die von Kohle. Die klimaschädliche Wirkung von Methan ist in den ersten zwanzig Jahren nach Ausstoss über achtzig Mal so schlimm wie die von CO₂.
Trotzdem hat die Bundesregierung bereits knapp drei Milliarden Euro an öffentlichen Geldern für die vier geplanten schwimmenden LNG-Terminals gesprochen. Der Bau von teils geplanten stationären LNG-Terminals etwa in Stade und Brunsbüttel an der Elbe wäre ein noch viel gigantischeres Projekt und würde bis zur Inbetriebnahme Jahre dauern.
«Das bindet für die nächsten vierzig bis fünfzig Jahre Investitionen, die dringend für die Energiewende gebraucht werden», sagt Pascoe Sabido. Der Rechercheur im Bereich Energiepolitik bei der lobbykritischen NGO Corporate Europe Observatory sieht die LNG-Offensive der EU, angeführt von Deutschland, sehr kritisch – wäre die aktuelle Lage doch eigentlich eine Chance, endlich auf eine ökologische und unabhängige Energieversorgung zu setzen anstatt auf die fossile Flüssiggasinfrastruktur. Sabido verweist auf das Projekt «MidCat», eine Gaspipeline von Spanien nach Südfrankreich, das von der spanischen Regierung 2019 eigentlich gestoppt wurde. «Nun ist der Zombie zurück auf dem Tisch, auch weil Deutschland plötzlich hinter ‹MidCat› steht.»
Neue Abhängigkeiten
Schliesslich führe der eingeschlagene Weg gerade nicht in die angestrebte Unabhängigkeit. «Statt von Russland sind wir dann von Flüssiggas aus den USA abhängig. Dort wird es mit der Frackingmethode gewonnen, was eine Katastrophe für die lokale, oft indigene Bevölkerung und ihre Umwelt darstellt. Oder von repressiven Regimes wie Katar, Ägypten oder Aserbaidschan», sagt Sabido.
Doch die LNG-Offensive der EU ist nicht nur klima- und geopolitisch betrachtet bedenklich. Wie «Le Monde diplomatique» bereits im Juni nachgezeichnet hat, birgt auch die Kostenfrage Zündstoff: Ein Drittel des internationalen LNG-Handels wird nicht über langfristige Verträge abgewickelt, sondern am Spotmarkt, also gegen Cash. «Das heisst: Der Meistbietende bekommt die Tankerladung», schreibt die Zeitung. Das führt nicht nur zu höheren Kosten für die Verbraucher:innen, sondern auch zu Nachteilen für die Länder des Globalen Südens, die mit den Kaufangeboten der reichen Industrieländer nicht mithalten können.
«Es ist zum Verzweifeln», sagt Gerald Neubauer von Greenpeace. «Da sind die Grünen in der Regierung, und ausgerechnet der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck treibt das fossile Geschäft mit LNG voran, statt den dringend nötigen Gasausstieg vorzubereiten.»