Krieg gegen die Ukraine: Aussaat in verbrannte Erde

Nr. 33 –

Angesichts verkohlter Felder und ausfallender Ernten setzen Landwirt:innen im Süden des Landes grosse Hoffnung in die angekündigte ukrainische Gegenoffensive. Denn sie stehen vor einer neuen Herausforderung: Gelingt es, das Land für die kommende Saison zu bestellen?

Iwan Kirikowitsch auf seinen Hof im Dorf Selenyi Hai nahe der Kriegsfront
Iwan Kirikowitsch ist aus dem Dorf Selenyi Hai nahe der Front geflüchtet, kehrt aber fast täglich zur Arbeit auf seinen Hof zurück, wo er immer wieder neue Kriegsschäden feststellen muss.

Den Humor haben die ukrainischen Soldaten und Polizistinnen an den militärischen Checkpoints noch nicht verloren. «Woher, wohin?», fragt einer am Stadtrand von Mykolajiw, prüft die ausländischen Reisedokumente und lächelt. «Und, gefällt es Ihnen bei uns?» Einer seiner Kollegen trägt das Abzeichen einer Scharfschützeneinheit, auf dem steht: «Wir arbeiten aus der Distanz.» Eine Anspielung auf die Zeiten der Pandemie, mit Abstand und Homeoffice.

Wer die Autobahn M14 weiterfährt, in Richtung der russisch besetzten Stadt Cherson im Süden des Landes, muss nicht lange auf die Bilder der Verwüstung warten. Verkohlte Felder, zerstörte Dörfer, in der Ferne das Donnern der Artillerie. Näher an der Front rumpeln klobige ukrainische Militärlastwagen und Panzer über die unbefestigten Nebenstrassen. Daneben bringen Traktoren und Mähdrescher die Ernte ein. Iwan Kirikowitsch trägt zwar keine Uniform, doch seit dem Krieg ist die Arbeit des Bauern fast genauso gefährlich wie jene der Soldaten – nicht nur, weil immer wieder Traktorfahrer durch russische Artillerie und Minen getötet werden. Der Fünfzigjährige, T-Shirt, Mütze, Schnauzbart, schlendert mit beiden Händen in den Hosentaschen über sein Grundstück und zeigt die Schäden der vergangenen Wochen.

Anfang August riss eine russische Rakete ein Loch in die Wand seiner Lagerhalle. Und dort, wo der Bauer einst tonnenweise Sonnenblumenkerne und Gerste für den Export lagerte, türmen sich Schutt und zerborstenes Holz. Das Dach der Halle ist an manchen Stellen gefährlich tief eingesunken, die Fensterscheiben des Traktors sind durch die Explosionen zerbrochen. Vor dem Krieg konnte er gut von der Landwirtschaft leben, investierte in Solaranlagen und begann mit dem Bau einer neuen Werkstatt.

Heute befindet sich Kirikowitschs Heimatdorf Selenyi Hai nur zehn Kilometer von der Front entfernt. «Die russischen Raketen haben nicht nur hier eingeschlagen», sagt der Bauer. Zwei ausgehungerte Boxerhunde, die von ihren Besitzern zurückgelassen wurden und seit einigen Tagen immer wieder auf seinem Hof auftauchen, weichen ihm nicht von der Seite. «Kaum ein Haus im Dorf ist verschont geblieben. Überall sieht man die Einschlaglöcher. Auf den Strassen und auf den Feldern», sagt Kirikowitsch. In Selenyi Hai hat die russische Armee sowohl die Schule als auch den Kindergarten zerbombt und dabei mindestens sieben Menschen getötet.

52 Sekunden entfernt

Ende Februar schafften es die russischen Truppen bis nach Selenyi Hai, erzählt Kirikowitsch. Er scrollt durch seine Handyaufnahmen und findet die Fotos und Videos, die zeigen, wie er und andere Bauern breit grinsend neben einem russischen Rüstfahrzeug posieren, das sie abgeschleppt, versteckt und am Ende angezündet haben. Zwar ist es der ukrainischen Armee gelungen, die russischen Truppen weitgehend bis hinter den Fluss Dnipro zu drängen. Trotzdem gerät der Ort seit Kriegsbeginn immer wieder in die Schusslinie. Mit ruhiger Miene bückt sich der Bauer und fischt eine Raketenspitze aus dem Gras neben dem Gehweg vor seiner Lagerhalle. Er deutet auf die Zeitsteuerung auf dem Zünder, der sich von Hand einstellen lässt. Kirikowitsch zeigt auf eine der Kerben. «52 Sekunden», sagt er. «So nah sind die russischen Truppen.»

Im ganzen Land wächst die Hoffnung auf die von der ukrainischen Seite angekündigte Gegenoffensive hier im Süden. Laut Dmytro Pletentschuk, Sprecher der regionalen Militärverwaltung von Mykolajiw, ist die Rückeroberung des besetzten Cherson auch von symbolischer Bedeutung. Weil die Stadt als erste in die Hände der russischen Truppen gefallen ist. Und weil die russische Führung wiederholt signalisiert hat, am 11. September zeitgleich zu den Regionalwahlen Scheinreferenden in den besetzten Regionen Cherson und Saporischschja abhalten zu wollen. Aber nicht nur die Symbolik ist wichtig: «Cherson fungiert als Flaschenhals für die Krim», so Pletentschuk. Seit Wochen lässt sich beobachten, dass Russland eine grosse Zahl von Truppen in den Süden der Ukraine verlegt.

Nachdem die ukrainische Armee zuletzt die für die Gegenseite strategisch wichtige Antoniwka-Brücke schwer beschädigt hat, um den Nachschub russischer Truppen und Geräte von der Krim nach Cherson auf der Westseite des Flusses Dnipro zu stoppen, bleibt der russischen Armee laut Pletentschuk derzeit nur eines übrig: «Das Einzige, was sie momentan hier im Süden machen können, ist, unsere Region und unsere Städte aus der Distanz zu bombardieren.»

Den Beginn einer neuen Phase des Kriegs könnten auch die Explosionen markieren, die vergangene Woche eine Luftwaffenbasis auf der 2014 völkerrechtswidrig annektierten Halbinsel Krim erschütterten. Moskau spielte den Vorfall herunter und erklärte, die Explosionen seien durch Munition verursacht worden, die versehentlich auf dem Flugplatz detoniert sei. Obwohl sich die ukrainische Regierung hütet, zu bestätigen oder zu dementieren, dass ukrainische Streitkräfte für die Explosionen verantwortlich waren, vermeldete der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak am Tag nach dem Vorfall auf Twitter: «Das ist erst der Anfang.»

Bauer Iwan Kirikowitsch ist davon überzeugt, dass es der ukrainischen Armee gelingen wird, Cherson bis zum Ende des Jahres zu befreien. So wie die restlichen Landwirt:innen in der Region ist er darauf angewiesen. In den vergangenen Wochen brannten in der Ukraine Tausende Hektar Getreide nieder – es waren Feuer, die nach Explosionen entstanden. Auch das Feld eines Freundes fiel den Flammen zum Opfer, erzählt Kirikowitsch. Er zeigt ein Handyvideo, auf dem zu sehen ist, wie dieser versucht, mit dem Traktor einen Teil des Getreides vor der Feuerwand zu retten. «Es ist uns gelungen, das Feuer einzugrenzen», sagt Kirikowitsch beiläufig. Doch über die diesjährige Ernte mache er sich schon gar keine Gedanken mehr. In Wahrheit stehen die ukrainischen Bäuer:innen längst vor einer neuen Hürde: dem Anbau in einem Kriegsgebiet. Ein Grossteil ihrer Getreideernte besteht aus Winterweizen und Gerste, die im Frühherbst gesät und im folgenden Sommer geerntet werden.

«Mutig, aber nicht lebensmüde»

Die Ukraine ist eines der grössten Getreideexportländer der Welt und die Agrarindustrie einer der wichtigsten Wirtschaftssektoren. Sie machte zuletzt etwa 11 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Doch noch wichtiger ist die Landwirtschaft für die Exporteinnahmen, im vergangenen Jahr betrug ihr Anteil daran 41 Prozent. Monatelang behinderte Russland die Ausfuhrmöglichkeiten der Ukraine, indem es die Schifffahrtswege im Schwarzen Meer blockierte und verminte und seine Truppen die Ausrüstung der Landwirt:innen und die Ernte in den besetzten Gebieten stehlen liess. Obwohl ukrainisches Getreide weltweit gefragt ist und Anfang August das erste beladene Frachtschiff den Hafen von Odesa verliess, sind die Preise im Keller. Kirikowitsch erhielt zuletzt gerade mal 85 Euro für eine Tonne Sonnenblumen oder Gerste. «Im Vorjahr haben wir das Doppelte verdient.»

Von den einst 1100 Bewohner:innen leben nur noch 150 in Selenyi Hai. Vor den einstöckigen Häusern mit den Weinreben und den Haselnussbäumen sitzen ältere Damen. Die meisten, die im arbeitsfähigen Alter sind oder Kinder haben, sind so wie Kirikowitsch und seine Frau erst geflohen, als die Strom- und Wasserversorgung zusammenbrach. Auf halber Strecke zwischen Mykolajiw und Odesa ist Kirikowitsch gemeinsam mit anderen Dorfbewohner:innen in einem Haus von Bekannten untergekommen. Von dort kehrt er beinahe täglich nach Selenyi Hai zurück – nicht nur aus Angst vor Plünderern. Kirikowitsch sagt, dass er seine 400 Hektar Land bestellen wolle – so lange es ihm möglich sei. «Wir sind mutig, aber nicht lebensmüde.»