Entminung der Ukraine: Was vom Krieg bleibt

Nr. 32 –

Russlands Angriffskrieg hat die Ukraine zum grössten Minenfeld der Welt gemacht – die Räumung wird Jahrzehnte dauern. Unterwegs mit jenen, die Voraussetzungen für den Wiederaufbau schaffen.

Petro Pilipaka sammelt Raketenschrott ein und stellt ihn in seinem Garten auf.
«Ich konnte mit dem Kartoffelanbau nicht warten»: Petro Pilipaka sammelt Raketenschrott ein und stellt ihn in seinem Garten auf.

Sie habe die Arbeit mit Menschen immer genossen und ihre berufliche Zukunft daher eigentlich in der Gastronomie gesehen, erinnert sich Olha Jakhimowitsch an die Zeit vor 2014 zurück. Damals, in einem anderen Leben, bevor die Kämpfe in ihrer Heimatregion Donbas ausbrachen, habe sie ein kleines Kaffeehaus betreiben wollen und davon geträumt, es irgendwann vielleicht sogar bis zur Restaurantmanagerin zu schaffen. Doch wie für die meisten im Osten des Landes sei ihr Leben anders verlaufen, als sie es sich vorgestellt hatte, sagt die 35-Jährige. Während Jakhimowitsch das erzählt, schreitet sie durch einen Mischwald in der Region Kyjiw, vorbei an friedlichen Sommerhäusern und Apfel- und Kirschbäumen, neben denen Schilder vor Minen warnen.

«Nach meinem Mutterschaftsurlaub konnte ich nicht mehr zu Hause herumsitzen, sondern wollte auch einen Beitrag leisten», sagt Jakhimowitsch. Die braunen Haare trägt sie unter dem Baseballcap zum Zopf gebunden, an der himmelblauen Schutzweste ist ein Funkgerät befestigt. Vor sechs Jahren entschied sie sich für eine Ausbildung zur Minenräumerin. Mittlerweile arbeitet sie als Supervisorin bei der britisch-amerikanischen NGO Halo Trust, die sich weltweit für die Räumung von Sprengkörpern einsetzt. «Der Job war sinnvoll und bot gleichzeitig die Chance auf ein gutes Einkommen.»

Kurz nachdem die Organisation ihr erstes Büro in Jakhimowitschs Heimatort Kramatorsk eröffnet hatte, taten der Ehemann und die Schwester es ihr gleich. Der Mann kämpft mittlerweile an der Front, die Frauen helfen in den befreiten Gebieten – fern des Donbas, von wo die beiden mit ihren Kindern vergangenen Sommer fliehen mussten.

Dass die Felder seit eineinhalb Jahren überwuchert würden, erschwere die Arbeit mit den Metalldetektoren zusätzlich, erklärt Olha Jakhimowitsch. «Immer wenn wir ein Objekt gefunden haben, gilt der Umkreis von 25 Metern ebenfalls als potenziell vermint.» Sie zeigt mit dem Finger auf einige Holzpflöcke zwischen den hohen Bäumen abseits des Weges, den man aus Sicherheitsgründen nicht verlassen soll: Stellen, an denen ihr Team in den vergangenen Monaten insgesamt beinahe hundert Blindgänger und Metallteile gefunden hat, vor allem Rückstände von Streumunition. In einer Grube werden die Objekte gesammelt und später von Katastrophenschutz und Armee kontrolliert gesprengt. «Wir räumen die Gegend, so gut wir können», sagt sie. Halo Trust wartet derzeit noch immer auf die Erlaubnis vom staatlichen Notfalldienst, die Objekte auch selbst zu neutralisieren.

Raketenteile wie Baumstämme

Laut Human Rights Watch setzen beide Seiten in diesem Krieg Landminen ein, die russischen Streitkräfte seit dem 24. Februar 2022 zudem mindestens dreizehn verschiedene Arten von Antipersonenminen. Dass sie mittlerweile grosse Abschnitte der rund tausend Kilometer langen Frontlinie vermint haben, sei laut der ukrainischen Armee neben ihrer eigenen Unterlegenheit in der Luftverteidigung einer der Hauptgründe dafür, dass die derzeitige Gegenoffensive langsamer anlaufe als von internationalen Beobachter:innen erwartet.

Werden Ortschaften zurückerobert, müssen die Minen und Blindgänger geräumt werden: eine Herausforderung für die kommenden Jahrzehnte. Mehr als dreissig Prozent des Landes gelten heute – neun Jahre nach dem Ausbruch der Kämpfe in der Ostukraine – als vermint. Die Ortschaft Lukjaniwka etwa, in deren Nähe Jakhimowitsch gerade unterwegs ist und die vor dem Krieg ein Erholungsgebiet für gestresste Hauptstadtbewohner:innen war, wurde gleich zu Beginn der Invasion besetzt und nach rund einem Monat von der ukrainischen Armee befreit. Die Kampfhandlungen hätten in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum stattgefunden, sagt Jakhimowitsch. Weil sich die Front mittlerweile weit weg befinde, komme man mit den Aufräumarbeiten schnell voran.

Seit Beginn der russischen Invasion wurden laut Halo Trust bei 550 Minenunfällen mindestens 855 Zivilist:innen verletzt oder gar getötet, darunter immer wieder Landwirt:innen, die ihre Felder bestellten. Dort, wo noch immer gekämpft wird, könne mit der Räumung noch gar nicht begonnen werden, erklärt Jakhimowitsch.

Während sich Halo Trust in seinen Einsatzgebieten mit den lokalen Behörden abspricht, machen sich andernorts Zivilist:innen ans Werk. An einem heissen Sommertag im Juli karrt Petro Pilipaka – er trägt T-Shirt, kurze Hose und Plastiksandalen – mit seinem Traktor das Teil einer Streumunitionsrakete, das die explosive Ladung trug, heran, als handle es sich um einen Baumstamm. Im Zentrum der Ortschaft Zirkuni im Oblast Charkiw, der von der ukrainischen Armee im vergangenen Jahr grösstenteils befreit wurde, lädt er die Fracht neben verrosteten PKWs mit «Z»-Markierungen ab. Noch immer stehen hier gepanzerte Fahrzeuge, auf denen – manchmal mit Rechtschreibfehlern – Botschaften auf Russisch geschrieben sind, «nach Birlin» etwa.

Man kenne ihn in der Gegend bereits, sagt der 51-Jährige, der vor dem Krieg und der russischen Besatzung sein Geld als Waldarbeiter verdiente. «Manchmal rufen Leute an und fragen, ob ich vorbeikommen kann, um Teile von Raketen einzusammeln.» Zunächst hätten ihn die Soldat:innen noch für verrückt erklärt, mittlerweile liessen sie ihn einfach machen. Auch die Wiesen und Felder hat Pilipaka selbst «aufgeräumt». «Ich konnte mit dem Kartoffelanbau nicht eineinhalb Jahre warten», sagt er, «es dauert einfach zu lange.»

Pilipaka lebt im Nachbarort von Zirkuni, das auf Google auch nach der Befreiung noch Ruski Tischki heisst, seine Strasse ist nach dem russischen Schriftsteller Alexander Puschkin benannt. Siedlungs- und Strassennamen würden bald geändert, hofft er, wichtiger sei aber, dass die Ortschaft bald wieder sicher gemacht werde, damit die Bewohner:innen zurückkommen könnten. Vor dem Krieg und der russischen Besatzung lebten knapp 2000 Menschen in der Siedlung, geblieben ist nur ein Bruchteil. Er könne sie fast alle beim Namen nennen, sagt Pilipaka.

Er öffnet das Tor zu seinem Garten, zeigt auf sechs weitere Ladungsteile von Streumunitionsraketen, wie Ziergegenstände neben dem mit Steinplatten ausgelegten Weg zum Haus aufgestellt. «Und, gefallen euch meine Blumen?», scherzt Pilipaka. Diese hier müsse man immerhin nicht giessen. Trotz der Zeit unter russischer Besatzung habe er den Humor nicht verloren, sagt er, ohne sei das alles schliesslich nicht auszuhalten: die Nachbarn, die getötet wurden, die Familie, die geflohen ist, die beiden Söhne, die an der Front kämpfen, die Zerstörung überall im Land.

Metertiefe Krater

Im Gemeindehaus von Zirkuni zeigt Iwan Jakowtschik, Kommandeur des Entminungstrupps in der Region, auf einer Landkarte, welche Gegenden als sicher gelten. Zirkuni ist dieerste Ortschaft im ehemals besetzten Teil des Oblast Charkiw, die entmint wurde und für den Wiederaufbau bereit ist. «Jetzt haben wir begonnen, die Wälder und angrenzenden Gebiete zu räumen, in denen die Russen ihre Stellungen hatten», sagt Jakowtschik. Allein dort habe der Entminungstrupp mehr als 1500 explosive Objekte neutralisiert – wieder vor allem Streumunition, die laut Halo Trust von russischen Uragan-Mehrfachraketenwerfern verschossen wird. Zwei Männer aus seinem Team seien dabei ums Leben gekommen, ein weiterer verletzt worden, sagt der 39-Jährige.

Jakowtschik steigt in seinen militärgrünen Pkw, um zu zeigen, was mit den Minen und Blindgängern geschieht, nachdem sie entfernt wurden. Er lenkt das Fahrzeug über eine nicht asphaltierte Strasse, an den Fenstern ziehen zerstörte Wohnhäuser und brachliegende Felder vorbei. Die Gegend wirkt ausgestorben. Während der Fahrt zeigt er das Lederarmband, das er am Handgelenk trägt und das ihm Glück bringen soll. In der Hülle seines Ausweises befindet sich ein weiterer Talisman: eine Madonnenikone. Man müsse ja an etwas glauben, sagt er. In seinem Fall an Gott und an den Sieg der Ukraine.

Vor einer Waldböschung hält der Wagen an. Hier befindet sich eine Stellung der Nationalgarde, besetzt mit Soldat:innen, die bis vor kurzem an der Front im Osten und im Süden des Landes gekämpft haben und für einige Wochen hierher, an einen Posten im vergleichsweise ruhigen Oblast Charkiw, geschickt wurden, um wieder zu Kräften zu kommen. In der Nähe würden täglich eingesammelte Minen und Blindgänger gesprengt, erklärt Jakowtschik, während über Funk gerade die Sekunden heruntergezählt werden. Die einige Hundert Meter entfernte Detonation hinterlässt einen mehrere Meter tiefen Krater in der Erde, einer von vielen in der Gegend.

Gerade wenn es um die Minenräumung geht, richtet sich der Blick immer wieder auf die neutralen Länder: Sie liefern keine Waffen, könnten dabei in den Augen der Regierung in Kyjiw aber einen Beitrag leisten. Zwar kündigte die Schweiz zuletzt finanzielle Mittel und die Lieferung von Raupenfahrzeugen an. Doch ihr Zögern stösst wie auch jenes Österreichs in der Ukraine auf Unverständnis.

Die lokalen Organisationen, der Katastrophenschutz und die Armee stehen nicht nur vor der Herausforderung, dass das Land mittlerweile das am stärksten verminte der Welt ist und die Angriffe aus der Luft nicht aufhören. Viele Männer kämpfen bereits an der Front oder wurden mittlerweile mobilisiert. Es fehle also an Personal für die Minenräumung, sagt Jakowtschik. Nun müssten mehr Frauen geschult werden.

«Ich hätte gerne mindestens fünf Prozent Frauen im Team», sagt er, «jetzt sind es vielleicht ein Prozent.» Bei Halo Trust sind knapp dreissig Prozent der derzeit rund 800 Mitarbeiter:innen weiblich, bis zum Jahresende sollen es noch mehr werden. Mittlerweile richten sich die Stellenausschreibungen ausdrücklich an Frauen; die Arbeitsbedingungen, das Gehalt und die Offenheit machen internationale Organisationen zu attraktiven Arbeitgebern – attraktiver als Armee und Katastrophenschutz, wo Mitarbeiter:innen noch immer von Vorurteilen gegenüber Frauen berichten.

Zuhören gegen den Stress

«Wir wissen, dass wir noch am Anfang stehen», sagt Olha Jakhimowitsch während des Besuchs ihres – grösstenteils weiblichen – Teams im Wald. Gemeinsam ist den meisten Frauen hier, dass sie das Wohl ihrer Kinder als Hauptmotivation für ihre Arbeit nennen. Aus einem Garten vor einer Datscha winkt eine Pensionistin, die Hände voller Erde und das Radio so laut aufgedreht, dass die Sirene, die auch an diesem Sommertag vom Start eines russischen MiG-31K-Kampfjets ausgelöst wurde, fast nicht zu hören ist. «Meine Lieben, ich bringe euch später Himbeeren vorbei», ruft die Frau. «Danke, aber nach der Arbeit», antwortet Minenräumerin Jakhimowitsch. Allein die Anwesenheit ihres Teams, die kurzen Gespräche, das Zuhören seien für die Anwohner:innen von immenser Bedeutung. Nach dem Stress von Krieg und Besatzung ein wichtiges Zeichen dafür, dass die Menschen nicht vergessen werden.

«Wir klären die Anwohner über die Risiken auf und raten ihnen, nicht in den Wald zu gehen, um Pilze zu sammeln und Holz zu holen. Wir raten ihnen natürlich auch, im Wald kein Feuer zu machen», so Jakhimowitsch. Mittlerweile hielten sich nicht mehr alle an die Empfehlungen, verbieten könne man aber schliesslich nichts davon, man sei ja nicht die Polizei. Die Menschen wollten vor allem eines: nach vorne schauen und weiterleben.

Auch sie und ihre Schwester wollen weiterleben und nach Hause zurück. Leider sei Kramatorsk derzeit ständig in den Schlagzeilen, sagt Jakhimowitsch mit gefasster Stimme. Erst Anfang Juli hatte eine russische Rakete eine Pizzeria getroffen, dabei mindestens dreizehn Menschen getötet und Dutzende verletzt, unter ihnen Zivilistinnen, Soldaten, Journalisten und NGO-Mitarbeiterinnen wie sie selbst. «Ich hoffe, dass unsere Kinder einen Teil ihrer Kindheit erleben können», sagt sie. Jakhimowitsch wünscht sich für ihren achtjährigen Sohn eine andere Realität, wenn er erwachsen ist. Eine andere als jene, die er von klein auf kennt. Dass sein Leben anders verläuft als das der meisten hier.