Von Seattle 1999 bis Davos 2005: Eine andere Welt ist möglich – aber wo?

Nr. 3 –

Was bleibt nach fünf Jahren Globalisierungskritik?

«Du sollst in interessanten Zeiten leben.»

Chinesischer Fluch

Was immer man als Fazit zieht, es waren fünf interessante Jahre. Am 30. November 1999 in Seattle tauchte die globalisierungskritische Bewegung wie aus dem Nichts auf: 50 000 gut vorbereitete DemonstrantInnen blockierten das Kongresszentrum der Millenniumsrunde der Welthandelsorganisation WTO in Seattle, die überrumpelte Polizei griff zu Knüppel und Tränengas, drei Tage Chaos und Brutalitäten folgten. Am Ende reisten frustrierte WTO-Delegierte ab – ohne sich auch nur auf eine Abschlusserklärung geeinigt zu haben.

Die Geburt in Chaos, Triumph und Widersprüchen war typisch für die junge weltweite Bewegung: Die 50 000 Protestierenden waren eben nicht aus dem Nichts gekommen, sondern aus vielen hundert kleinen und kleinsten Politgruppen, die sich über die damals brandheisse Technologie des Internets vernetzt hatten. Und zum ersten Mal drehten in Seattle überall Digitalkameras mit, alles wurde auf einer einzigen Webseite publiziert, der neu gegründeten Plattform indymedia.org.

Hoch aktuell war auch das Ziel einer multinationalen Organisation: Die Welthandelsorganisation WTO, 1995 mit dem Ziel gegründet, durch freien Handel die Armut zu lindern, dazu benützt, die geschützten Märkte der einzelnen Länder für internationale Konzerne aufzuknacken. Die WTO hatte im Jahr zuvor ihre erste, grosse Blamage erlitten: Sie hatte die an sich stabilen Schwellenländer in Asien dazu überredet, ihre Kapitalmärkte völlig zu öffnen. Worauf die Finanzgemeinde begeistert Milliarden investierte – in eine gigantische Spekulationsblase mit superteuren Immobilien und hektischen Konzernübernahmen. Dann folgte in Panik der Rückzug des Kapitals. Zurück blieben ein paar fast bankrotte Extigerstaaten und eine schwere, weltweite Börsenkrise.

Entscheidende Ereignisse

Der spektakuläre politische Erfolg der Protestbewegung, das Platzen der Konferenz, basierte aber nicht auf Einsicht der Delegierten. Und auch nicht auf dem Protest. Sondern darauf, dass US-Präsident Bill Clinton Minimalstandards für Arbeiterrechte durchsetzen wollte. (Allerdings weniger aus Idealismus, sondern um die US-amerikanischen Unternehmen vor Billigkonkurrenz zu schützen.) Drittweltländer, und zwar eher diktatorische, deren einziger Wettbewerbsvorteil die Hungerlöhne waren, liessen die Konferenz abstürzen.

Es war ein grosser Sieg – mit Widersprüchen, aber mit Schwung: Zwei Monate später eskalierte eine fröhliche Strassenschlacht am Weltwirtschaftsforum Wef in Davos –, und seitdem war die Bewegung in der begeisterten Weltpresse das frischestmögliche Phänomen: faszinierend heterogen, idealistisch, aber clever, fantasieanregend gewaltig und gewalttätig sowie hypegerecht internetbasiert: «Eine andere Welt ist möglich.»

Innere und äussere Widersprüche

Heute, 2005, hat sich das veröffentlichte Bild geändert: Während die Medien beim Wef-Krawall 2003 in Zürich noch mit «Polizeiterror!» titelten, wird nun die Polizei auch beim Verstoss gegen verbriefte Grundrechte gerne unterstützt. Reporter lassen sich mit Wirtschaftsbossen fotografieren, offensichtlich stolz auf nichts sagende Interviews mit der Macht. Indymedia.ch diskutiert über die Selbstabschaffung, die Demos sind von hunderten statt tausenden besucht – was ist passiert? Aus Gesprächen mit AktivistInnen und ihrem Umfeld – der Anti-WTO-Sprecherin Yvonne Zimmermann, dem Buchautor und Hilfswerkkoordinator Peter Niggli, dem deutschen Attac-Aktivisten Sven Giegold und Andreas Missbach, dem Steuerexperten der Erklärung von Bern, geht hervor, dass folgende Ereignisse entscheidend waren:

1. Die Schlacht beim G8-Gipfel von Genua im Juli 2001, dem Höhe- und Tiefpunkt der Grossdemonstrationen bei Gipfeltreffen, wo die italienische Polizei einen Demonstranten erschoss und hunderte zusammenschlug, verhaftete, folterte: Die Situation der Massenproteste war schlicht nicht mehr kontrollierbar. Ein plötzlicher Ausbruch von Gewalt ist durchaus attraktiv – für Sympathisanten, Medienaufmerksamkeit und als Drohpotenzial für künftige Verhandlungen. Die Wiederholung und die Steigerung ist es nicht. Provokateure, Terror, Angst, Tote lassen keine Politik mehr zu, sondern nur noch endlose Debatten über Sicherheit, Justiz und Gewalt.

2. Wenige Wochen später das Attentat vom 11. September, mit ihm änderten sich zwei Dinge. Zum einen der Gegner: Der war in den neunziger Jahren noch der «wohlmeinende Imperialismus» (Andreas Missbach) der Administration Clinton plus Weltbank, IWF und WTO gewesen – und die Theorie, dass Liberalisierung der Märkte das Allheilmittel gegen Armut, Diktatur, Hunger sei. Nun gingen ausgerechnet die Musterschüler Pleite: Russland, Argentinien, New Economy. Mit dem beginnenden Krieg im Irak waren diese Skandale Schnee von gestern: Bush ersetzte Clintons Strategie des forcierten Freihandels mit einer klassischen kriegerischen Plünderwirtschaft. Mit Bushs Einmarsch im Irak war die Antiglobalisierungsbewegung als Antikriegsbewegung zwar plötzlich europaweit für einige Wochen in der Mehrheit, verlor aber die mächtigsten Verbündeten: die amerikanischen NGOs, die in einer patriotischen USA nun nichts mehr zu sagen hatten.

Doch sind an der gegenwärtigen Schwäche nicht nur Weltpolitik und Medien schuld. Jung und rasant gewachsen kamen zahlreiche Widersprüche der Bewegung selbst dazu, teils notwendige, teils lästige:

Wo den Hebel ansetzen? Viele Vorschläge zur Verbesserung sind nett, aber nur privat (in einem Biobauernhaus wohnen), andere gigantische Projekte (etwa die Re-Regulierung der Kapitalströme): Wo, bei welchen Institutionen soll und kann man Druck ansetzen?

Nicht zuletzt ist Politik immer auch Erpressung: Sämtliche NGOs müssen also dafür sorgen, dass sie grösser und schlagkräftiger aussehen, als sie sind. Die Grundlage für ihre Form der Erpressung, die Imagebeschmutzung ihres Gegners, ist allerdings eine schwierige: Glaubwürdigkeit. Last, not least ist Globalisierungskritik wie die Globalisierung und die Globalisierungsbewegung: eine riesige Amöbe mit wuchernden Themen. Man wird von der Fülle an Aufgaben, Informationen und fehlenden Daten immer intellektuell überfordert sein.

Der härteste Vorwurf an die Bewegung mit dem Slogan «Eine andere Welt ist möglich» ist sicher der ungerechteste: dass die Welt nicht gerettet ist. Und dass es noch immer kein klares Konzept dafür gibt: Die Kritik an der neoliberalen Ideologie und der oft sehr protektionistischen Praxis der Märkte ist weit konsistenter als die Alternativen.

Dennoch Erfolge

Trotzdem sind für ein paar Jahre einige nicht unclevere Erfolge herausgekommen. Immerhin unterhalten sich nun nicht nur Professoren und Manager über das Herrschaftswissen (nun ja, den Herrschaftsjargon) unserer Zeit: die Wirtschaft. Neoliberalismus ist im öffentlichen Bewusstsein nicht mehr nur rationales wirtschaftliches Handeln nach Sachzwängen, sondern eine diskutierte Ideologie. Es sind zwischen NGOs dutzende gut funktionierende internationale Netze entstanden: von Dossiers über Konzerne bis zu Steueroasen. Grosse NGOs wie Greenpeace oder Amnesty haben sich repolitisiert. Organisationen wie WTO, Weltbank, IWF sind teils diskreditiert, teils transparenter geworden. Die Uno hat nach dem Zurückkrebsen der Amerikaner neues Prestige gewonnen. Die Entwicklungsländer sind frecher geworden – umso mehr, als die Mächtigsten, Erfolgreichsten unter ihnen, Indien und China, nie nach dem Rezeptbuch der IWF-Liberalisierer getanzt haben. Der ehemalige Privatklub der 1000 grössten Konzerne, das Wef, hat sich unter dem Druck derart mit Medienvertretern und guten Vorsätzen aufgeblasen, dass die erste Garde aus Politik und Wirtschaft fernbleibt: Dafür reisen die Schwätzer in Scharen.

Was der Globalisierungskritik nach dem Glamour der Geburt in Erfolg, Weltpresse und Tränengas bleibt, ist die harte Knochenarbeit: Recherche, Debatte, Lobbying. Und alle Probleme, gegen die sie angetreten ist: Die Welt ist immer noch die der grossen Armut, der ungeheuer Reichen, der Blinden und der interessanten Zeiten. Genau deshalb sieht der Aktivist Sven Giegold keine Krise der Bewegung: Keines der wirklichen Probleme wurde in den letzten Jahren gelöst – und wird es auch morgen nicht werden: «Das ist eine Aufgabe für Jahrzehnte, für eine ganze Generation.»